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Full text of "Ingrid Decker Collection."

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Start  of  Ingrid  Decker  Collection. 

AR  11676 

Sys#;  000353239 

LEO  BAECK  INSTITUTE 

Center  for  Jewish  History 

1 5 West  1 6th  Street 
New  York.  NY  10011 

Phone:  (212)  744-6400 
Fax:  (212)  988-1305 
Email:  lbaeck@lbi.cjh.org 
URL:  http://www.lbi.org 


RHEYDT  - EINE  STADT  IM  NATIONALSOZIALISMUS 

Begnadet  mit  der  späten  Geburt,  (d.h.  Oktober  1945)  hätten  mich  die  Leiden  der  vielen 
Millionen  misshandelter,  gefolterter,  terrorisierter  und  gedemütigter  Menschen  des  Holocaust 
in  den  vielen  Konzentrationslagern  Europas  nichts  anzugehen  brauchen. Trotzdem  beschäftig- 
ten sie  mich  mein  Leben  lang.  Und  dieses  dunkle  Kapitel  der  Deutschen  Geschichte  zieht  sich 
wie  ein  blutroter  Faden  durch  mein  Leben.  Schon  als  Kind  hörte  ich  die  Erwachsenen  hinter 
vorgehaltener  Hand  und  im  Flüsterton  über  Leute  reden,  die  ich  gar  nicht  zu  kennen  schien. 
Es  handelte  sich  um  Menschen,  um  Familien,  deren  Geschäfte,  Häuser  und  Fabriken  enteignet 
wurden  und  die  auf  seltsame  Weise  verschwanden.  Diese  Geheimnistuerei  erweckte  mein 
ganz  besonderes  Interesse,  und  ich  horchte  immer  öfter  hin,  wenn  es  um  diese 
„Verschollenen“  ging.  So  hörte  ich  auch  von  Dr.  Simons,  dem  Hausarzt  meiner  Grosseltern, 
der  mehr  oder  minder  regelmäßig  Hausbesuche  machte,  bei  1 3 Kindern  war  ständig  eines 
krank.  Dieser  gewisse  Dr.  Simons  war  nicht  nur  Arzt  und  Seelsorger,  er  war  vor  allem  Mensch! 
Wenn  es  in  der  Küche  der  ISköpfigen  Familie  schmal  aussah,  die  Kinder  anfällig  waren  und  an 
Mangelerscheinungen  litten,  dann  griff  Dr.  Simons  zum  Rezeptblock  und  verschrieb  ein 
ordentliches  Stück  Suppenfleisch,  das  in  der  elterlichen  Metzgerei  abzuholen  war.  So  freund- 
lich und  menschlich  handelte  er  nicht  nur  in  unserer  Familie,  er  half,  wo  Menschen  seiner  Hilfe 
bedurften.  Aber  auch  Dr.  Simons  und  seine  ganze  Familie  wurde  von  den  Nazis  deportiert. 
Und  niemand  hat  auch  nur  einen  Finger  gekrümmt,  um  diesen  rechtschaffenen,  hilfsbereiten 
und  guten  Menschen  zu  retten.  Alle  waren  sie  zu  feige  oder  hatten  Angst  um  ihr  eigenes 
Leben. 

Auch  der  Name  „Herta“  war  mir  ein  Begriff,  sie  war  die  Tochter  unserer  Nachbarin,  ich  hatte 
sie  nie  kennen  gelernt.  Sie  war  auf  ganz  brutale  Weise  ums  Leben  gekommen.  Ich  konnte  - 
trotz  ihres  tragischen  Todes  - nie  Mitleid  mit  ihr  empfinden.  Sie  mischte  als  BdM-Führerin  an 
vorderster  Front  mit,  als  sie  eines  Tages  mit  dem  Fahrrad  unterwegs  war,  spaßte  sie  mit 
Soldaten,  die  einen  Panzer  fuhren  und  wurde  versehentlich  von  dem  schweren  Gefährt  über- 
rollt. Sie  war  erst  zwanzig  Jahre  alt.  Herta  hatte  eine  langjährige,  intime,  jüdische  Schulfreundin, 
mit  der  sie  aufgewachsen  war.  Als  die  Nazis  den  Umgang  mit  Juden  verboten,  ließ  Herta  ihre 
Freundin  wie  eine  heiße  Kartoffel  fallen,  verriet  sie  sogar  an  die  Gestapo.  Und  wie  alle  Juden 
nach  und  nach  aus  der  Stadt  verschwanden,  wurde  auch  diese  Freundin  und  ihre  Familie 
verschleppt. 

Wir  alle,  Herta,  Dr.  Simons,  Hilde  Zander,  Liesel  Frenkel,  hunderter  umgebrachter  Juden  und 
ich,  wir  haben  eines  gemeinsam: Wir  stammen  aus  der  Stadt,  in  der  „Hitlers  hinkender  Bote“ 
-Josef  Goebbels-  beheimatet  war,  aus  Rheydt  im  Rheinland.  Diese  nichts  sagende  und 
unscheinbare  Stadt  am  linken  Niederrhein  wurde  plötzlich,  am  13.  März  1933,  durch  den 
„Reichsminister  für  Volksaufklärung  und  Propaganda“  berühmt.  Die  Dahlener  Strasse,  in 
der  er  mit  seiner  Mutter  und  seinen  Geschwistern  lebte,  hieß  von  nun  an  "Josef-Goebbels- 
Strasse".  Zwölf  Jahre  lang  konnte  er  den  Deutschen  geschickt  und  redegewandt  seine 
nationalistische  Demagogie  aufschwatzen  und  sie  weit  verbreiten.  Er  stellte  das  Judentum 
schlechthin  als  das  "Böse"  dar.  Durch  ihn,  neben  Hitler  und  Himmler,  wurde  das  Leben  für  die 
Juden,  nicht  nur  in  Rheydt  oder  Deutschland,  sondern  in  ganz  Europa  zum  Alptraum.  Hier  wie 
überall  wurden  Synagogen  in  Brand  gesteckt,  jüdische  Mitbürger  verfolgt  und  deportiert,  um 
das  Land  „judenrein“  zu  machen.  Auch  viele  Lehrer  an  den  Schulen  gehorchten  der  Obrigkeit 
und  behandelten  jüdische  Kinder  wie  Dreck. 


„Reichsführer  der  SS“,  Heinrich  Himmler,  lässt  am  20.  März  1933  das  erste 
Konzentrationslager  in  Dachau  (bei  München  errichten)  und  ist  auch  später  für  alle  anderen 
Lager  zuständig.  Hier  in  Dachau  wurden  die  Wachmänner  der  KZ  auf  ganz  besonders  harte 
Art  gedrillt  und  ausgebildet,  es  waren  die  so  genannten  „Totenkopfverbände“.  Die 
„SS-Totenkopfverbände“  wurden  regelrecht  auf  Hass  und  Brutalität  abgerichtet: 
„Für  Weichlinge  gibt  es  keinen  Platz“,  man  könne  nur  harte  und  entschlossene  Männer 
gebrauchen,  die  jedem  Befehl  rücksichtslos  gehorchen,  man  trüge  nicht  umsonst  den 
Totenkopf  und  die  stets  geladene  Waffe!  Ihr  Wahlspruch  lautet:  „Meine  Ehre  heißt  Treue“. 
Himmlers  Idealmensch  ist  entsprechend  dem  Blut-  und  Rassegedanken,  blond,  groß  und 
blauäugig.  Germanisch  sind  Mannesstolz,  Heldenmut  und  Treue  - nicht  Sanftmut, 
Zerknirschung,  Sündenelend  und  ein  Jenseits  mit  Gebet  und  Psalmen“.  ( I ) 

Während  Himmler  sich  um  „Zucht  und  Ordnung“  in  den  KZ  bemüht,  lässt  Goebbels  in  Berlin 
die  Aktion  "wider  den  undeutschen  Geist"  (2)  anlaufen.  „In  Möbeltransportern  und  Autos 
werden  die  verfemten  Bücher  herangebracht,  die  Studenten  aus  öffentlichen  und  privaten 
Bibliotheken  aussortiert  haben“.  (2a)  Rund  20.000  Bücher  von  Autoren,  die  den  Nationalisten 
missliebig  sind,  werden  auf  Scheiterhaufen  am  Berliner  Opernplatz  unter  Hetzparolen 
verbrannt:  "Ich  übergebe  der  Flamme  die  Schriften  von  Marx  und  Kautsky  - gegen  Frechheit 
und  Anmaßung,  für  Achtung  und  Ehrfurcht  vor  dem  unsterblichen  deutschen  Volksgeist: 
Verschlinge,  Flamme,  auch  die  Schriften  der  Tucholsky  und  Ossietzky!"  (3) 

Wie  sagte  schon  Heinrich  Heine:  „Dort  wo  man  Bücher  verbrennt,  verbrennt  man  auch 
Menschen“.  (3a) 

Dabei  war  Goebbels  selbst  kein  besonders  guter  Student  gewesen  - auch  sein  Äußeres  lag 
weit  entfernt  vom  nationalistischen  Rassenideal.  Seine  schriftstellerischen  Ergüsse  waren  nicht 
einmal  mittelmäßig  und  fanden  kaum  Beachtung.  Er  hatte  sich  nach  seinem  Studium,  wo  er  bei 
dem  berühmten  jüdischen  Professor  Friedrich  Gundolf  an  der  Universität  Heidelberg 
Philosophie  studiert  hatte  und  danach  keineArbeit  fand,  mit  dem  Rheydter  Rechtsanwalt  Josef 
Joseph  angefreundet,  dem  er  seine  Stücke  vorlas  und  auf  Lob  und  Anerkennung  hoffte.  Der 
Rechtsanwalt  war  sicher  ein  geduldiger  und  langmütiger  Zuhörer,  es  ist  jedoch  anzunehmen, 
dass  Dr.  Joseph  über  die  Goebbels-Vorträge  nicht  in  all  zu  große  Euphorie  geriet.  Das  beweist 
der  „Offene  Brief*,  der  von  Dr.  Joseph  im  November  1944  in  der  amerikanisch-deutsch- 
sprachigen  Wochenzeitschrift  Aufbau  veröffentlicht  wurde: 

Er  schreibt  im  November  1 944  in  den  USA: 

„Vor  25  Jahren,  in  einer  kleinen  bekannten  industriellen  Stadt  im  Rheinland  kam 
ein  hagerer  junger  Mann  zu  einem  Jüdischen  Rechtsanwalt,  der  als  leidenschaft- 
licher Freund  der  Literatur  und  Förderer  vieler  junger  Schriftsteller  und  Künstler 
bekannt  war.  Dieser  junge  Mann,  dessen  Portemonnaie  so  leer  wie  sein  Magen 
war,  kam  dem  Rechtsanwalt  sein  erstes,  gerade  fertig  gewordenes  Schauspiel  vor- 
zulesen, nachdem  er  zurückgekehrt  von  der  Universität  Heidelberg.  Er  hatte 
gerade  seinen  Doktor  der  Philosophie  erhalten,  nachdem  er  bei  dem  berühmten 
jüdischen  Professor  Friedrich  Gundolf  studiert  hatte. 

Dieser  junge  Mann  warst  Du,  Josef  Goebbels,  zu  damaliger  Zeit  dem  Publikum 
ganz  unbekannt,  doch  überfüllt  mit  Ehrgeiz,  bekannt  zu  werden,  als  Dichter  und 
Schauspielverfasser.  Jedoch  Dein  Schauspiel  „Der  Wanderer**  war  eine  Niete,  mit 
keiner  Aussicht,  erfolgreich  veröffentlicht  oder  vorgestellt  zu  werden.  Dabei  war 


2 


es  eine  Art  Plagiat  des  „Wotan“  von  Richard  Wagner.  Endlich  sahst  Du  es  selber 
ein  und  tröstetest  Dich  mit  dem  reichlichen  Essen  und  Wein,  den  Dein  jüdischer 
Anwalt  Dir  nur  zu  gerne  stiftete.  Dieser  selbe  jüdische  Anwalt  war  gerade  auch 
die  einzige  lebendige  Seele  in  Deiner  Heimatstadt  Rheydt,  welche,  zusammen 
mit  einem  Deiner  früheren  Professoren,  die  Möglichkeit  sahen,  dass  Du  ein 
Redner  oder  Schriftsteller  werden  könntest  und  Dir  den  Rat  gab,  das  Beste  aus 
Deinem  Studium  mit  dem  jüdischen  Professor  in  Heidelberg  zu  machen.  Der 
Rechtsanwalt  also  verhalf  Dir  zu  einem  anständigen  Verdienst  während  dieser 
trüben  Tage  der  Inflation  und  Arbeitslosigkeit.  Erinnerst  Du  Dich?  Ich  bin  ganz 
sicher,  Jupp  Goebbels. 

Vor  20  Jahren,  vor  der  Reichstagswahl  im  November  1924  erschienst  Du  auf 
einmal  als  öffentlicher  Redner  der  nationalsozialistischen  Ideen  von  Ludendorff 
und  Hitler.  Deine  Karriere  seit  dem.  Dein  Anstieg  zur  Macht  zusammen  mit 
Hitler,  Dein  Posten  als  Propagandaminister  und  Haupt-Judenhasser,  Dein  Verkauf 
der  Ideen  der  Rassen-Übermacht  an  das  Deutsche  Volk,  Dein  gärender 
Rassenhass  und  nationalistischer  Fanatismus,  und  letzteres.  Dein  Pogrom  im 
November  1938,  als  auf  Deinen  Befehl  2.000  Synagogen  und  jüdische 
Tempelgebäude  über  ganz  Deutschland  zu  Grunde  brannten,  als  ob  sie  alle  in 
einem  Feuer  vernichtet  wurden;  all  dies  ist  jedem  in  der  Welt  bekannt. 

Siehst  Du  nicht,  Josef  Goebbels,  dass  all  das  Leid,  welches  Du  auf  Deine 
Mitmenschen  herab  gerufen,  jetzt  auf  Dich  zurückkommt  tausendfach,  auf  Dich 
und  Deine  Anhänger.  Überlege  mal  Jupp,  und  denke  auch  an  folgendes:  Du  hast 
eine  alte  Mutter,  und  ich  weiß.  Du  hast  sie  sehr  lieb.  Ich  weiß  auch,  dass  Du  ein 
gütiger  Bruder  Deiner  Schwester  Marie  gegenüber  gewesen  bist.  Deine  zwei 
Brüder  hast  Du  beide  in  hohe  Posten  situiert,  zwei  Brüder,  denen  ich  einst  aus 
einer  sehr  schwierigen  Situation  half.  Denk  an  Deine  Kinder,  ich  weiß.  Du  hast  sie 
sehr  gerne. Wegen  Deiner  alten  Mutter,  Deiner  Schwester  und  Brüder  und  wegen 
Deiner  Kinder,  welche  selber  Flüchtlinge  mit  einem  schrecklichen  Schicksal  wer- 
den - mache  ein  Ende  der  Verfolgung  und  Vernichtung  hilfloser  Männer,  Frauen 
und  Kinder  bis  an  die  Grenze  Deines  Landes;  erlaube  besonders  die  Anwendung 
der  internationalen  Gesetze  für  Zivilgefangene  in  allen  jüdischen  Ghettos  und 
Lagern  oder  überlasse  die  Gefangenen  dem  Roten  Kreuz  oder  schicke  sie  mit 
allen  anderen  Gefangenen  in  die  Schweiz.  Vielleicht  wird  ein  solches 
Unternehmen  eines  Tages  irgendwie  an  Deinen  Kindern  gutgemacht.  Jetzt  bist  Du 
noch  in  der  Lage,  dieses  Unternehmen  auszuüben,  zusammen  mit  Deinem 
Freund  Himmler.  Doch  tue  es  ohne  Verzögerung,  die  Zeit  wird  kurz;  tue  es,  ehe 
die  letzten  Mauern  Berlins  auf  die  Köpfe  der  letzten  Bürger  einstürzen. 

Die  Mauern  des  kleinen  Hauses  auf  der  Josef-Goebbels-Strasse  in  Rheydt,  wo 
Deine  Mutter  einst  einfach,  jedoch  zufrieden  lebte,  sind  schon  zu  Staub  zerfallen. 

Veröffentlicht  in  den  U.S.A.  1 944 

von  Josef  Joseph,  Rechtsanwalt;  früher  Rheydt"  (4)  I 

I Diese  Angabe  von  Josef  Joeph  ist  irrig.  Das  Elternhaus  Goebbels,  Dahlener  Str.  156,  steht 
heute  noch.  (Die  Verfasserin) 


3 


Dr.  Josef  konnte  sozusagen  in  letzter  Minute  1939  dem  Naziterror  entfliehen,  er  landete  nach 
vielen  Umwegen  mit  seiner  Familie  in  Chicago,  wo  er  nie  richtig  heimisch  wurde.  Mit  seinem 
„Offenen  Brief*  wollte  er  Goebbels  zur  Vernunft,  zur  Umkehr  bewegen,  denn  zu  diesem 
Zeitpunkt  hätte  man  noch  viele  Menschen  aus  den  KZ  befreien  und  retten  können.  Goebbels 
war  aber  schon  zu  weit  gegangen,  für  ihn  gab  es  kein  Zurück.  „Aufgabe“  hätte  für  ihn 
„Selbstaufgabe“  bedeutet.  Bereits  1 923  hatte  sich  Goebbels  mit  dem  Judentum  befasst.  Man 
fand  unterschwellig  antisemitische  Äußerungen  in  seinen  Tagebüchern.  (Es  gibt  eine  nicht 
belegte  Geschichte,  dass  Josef  Goebbels  als  Kind  von  einer  jüdischen  Frau  vor  dem  Ertrinken 
gerettet  wurde.)  Als  Goebbels  dann  1933  der  NSDAP  beitrat,  grüsste  er  seinen  ehemaligen 
Zuhörer  und  „Freund  und  Helfer“,  Dr.  Joseph,  nicht  mehr. 

Beide,  Josef  Goebbels  und  auch  Dr.  Josef  Joseph  starben  1 945.  Der  Massenmörder,  Henker 
und  Verbrecher  Josef  Goebbels  knapp  6 Monate  vor  meiner  Geburt,  der  hilfsbereite,  gütige, 
teilnehmende,  verfolgte  und  betrogene  Rechtsanwalt  Dr.  Joseph  starb  in  Chicago,  zwei  Monate 
nach  meiner  Geburt  in  Rheydt.  Zwar  konnte  Dr.  Joseph  den  Zusammenbruch  Deutschlands 
noch  erleben.  Aber  sicherlich  war  es  keine  Genugtuung  für  ihn,  er  konnte  und  wollte  sich  des 
Lebens  nicht  mehr  erfreuen  und  starb  am  6.  Dezember  1 945  an  gebrochenem  Herzen. 

Nachruf  für  Josef  Joseph  in  der  amerikanischen  deutschsprachigen  Wochenschrift  „Aufbau“ 
vom  7.12.1945 

NACHRUF 

Wir  beklagen  das  Hinscheiden  des  ehemaligen  Board-Mitgliedes 
unserer  Gemeinde,  unseres  hochverehrten  Herrn 

Josef  Joseph 

Der  Dahingeschiedene  hat  sich  durchseine  hingebungsvolle 
Mitarbeit  am  Aufbau  unserer  jungen  Gemeinde  große  Verdienste 
erworben.  Er  hat  seine  vorzügliche,  juristische  Sachkenntnis,  wie 
sein  bedeutendes  jüdisches  Wissen  in  den  Dienst  unserer 
Gemeinde  und  unserer  Chewroh  gestellt;  und  er  hat  keine  Mühe 
und  Arbeit  gescheut,  um  unserer  Gemeinde  hilfreich  zur  Seite  zu 
stehen.  Er  war  es,  der  die  Statuten  geschrieben  hat,  die  heute  die 
Verfassungsmäßige  Grundlage  unserer  Gemeinde  bilden.  Seine 
Schlichtheit  und  Gradheit,  seine  Liebenswürdigkeit  und  seine 
Friedensliebe  haben  ihm  allgemeine  Hochachtung  erworben. 

Wir  werden  ihn  niemals  vergessen! 

Das  Andenken  des  Gerechten  ist  zum  Segen! 

Philadelphia,  Pa.,  Hislev.  5706. 

Officers,  Board  u.  Rabbi  of  Congr.Tikvoh  Chadashoh 


4 


2)er  Gtoiibesieamte 


\ 


Trauzeugen  am  22.8.1927  in  Oldenkirchen 


Joseph  Goebbels  im  Alter  von  32  Jahren. 

Das  Foto  ist  von  ihm  unterschrieben  mit:  „Meiner  lieben  Mutter.  Weihnachten  l929.Joseph“ 


I 

I 


Nach  der  Stimmabgabe  (vermutlich  beim  2.  Wahlgang  der  Reichspräsidentenwahl  am  10.  April  1932) 


Im  Wohnzimmer  des  Dorfschgulzen  von  Goldenbow: 

Joseph  Goebbels  und  Magda  Quandt  während  ihrer  standesamtlichen  Trauung  am  19.  Dezemvber  1931 


7 


Das  Elternhaus  des  Ehrenbürgers  der  Stadt  Der  Reichsminister  bei  seiner  Ankunft. 
Gladbach-Rheydt  in  der  Dahlener  Straße,  Links  von  ihm  Karl  Hanke, 
die  fortan  Joseph-Goebbels-Straße  hieß 
(23.Aprill933). 


Der  .Adolf-Hitler-Platz“  in  Rheydt  während  der  Ansprache  des  neuen  Ehrenbürgers  am  24.  April  1933 


. jii. 

Mit  Tochter  Helga  während  eines  Urlaubs  auf  der  Seebrücke  des 
mecklenburgischen  Ostseebades  Heiligendamm  (Sommer  1935). 


Die  Goebbels-Kinder. 

Auf  die  Rückseite  des  Bildes  schrieb  Magda: 

„Wir  wünschen  der  lieben  Oma  ein  schönes  Weihnachtsfest  und  ein  glückliches  neues  Jahr! 
Helga,  Hilde,  Helmut,  Holde,  Hedda  und  die  kleine  Heide,  die  noch  nicht  dabei  ist!“  (1940) 


9 


Wandaufschrift  in  einem  Keller  in  Köln  am  Rhein,  wo 
sich  einige  Juden  während  des  ganzen  Krieges  versteckt 
gehalten  haben: 


„Ich  glaube  an  die  Sonne,  auch  wenn  sie  nicht  scheint.  Ich  glaube 
an  die  Liebe,  auch  wenn  ich  sie  nicht  fühle.  Ich  glaube  an  Gott, 
auch  wenn  er  schweigt“. 


An  Ojfschrift  ojf  a Want  in  a Keller  in  Köln  am  Rhein,  wu  ejnige 
Jiden  hoben  sich  ojsbahaltn  inVarlojfvun  der  ganzer  Milchome. 

„Ich  glojb  in  der  Sunn,  afile  wenn  sie  scheint  nit;  ich  glojb  in  der 
Liebe,  afile.  Wenn  ich  fihi  ihr  nit,  ich  glojb  in  Gott,  afile  wenn  er 
schweigt“. 


10 


Ein  anderes  Schicksal  ist  das  von  Ruth  Hermges,  die  als  Kind  aus  einer 
„Mischehe“  stammend,  unter  widrigsten  Umständen  den  Zweiten  Weltkrieg 
in  ihrer  Heimatstadt  Mönchengladbach  überlebte. 


EINE  KINDHEIT  IM  NATIONALSOZIALISMUS 


Gemälde  von  Salvador  Dali  im  Museum  Reyna  Sophia,  Madrid 


RUTH  HERMGES 

Nachdem  die  Familien-Chroniken  der  ehemaligen  Rheydter  und  Mönchengladbacher 
jüdischen  Mitbewohner  der  beiden  Städte  in  den  siebziger  Jahren  in  einem  Geschichts-  und 
Bildband  festgehalten  und  aufgearbeitet  wurden,  blieb  bislang  das  Schicksal  der  Familie 
Vergosen  im  Dunkeln.  Auch  Hans  und  Johanna  Vergosen,  geborene  Levy,  die  in  den  20er  Jahren 
eine  so  genannte  Mischehe  eingegangen  waren,  sind  in  dieser  Chronik  erwähnenswert,  denn 
auch  sie  litten  unter  dem  Hitlerregime  und  wurden  Opfer  des  Nationalsozialismus. 

Die  sechs  köpfige  Familie  Vergosen,  Hans,  Johanna  und  ihre  vier  Kinder,  Max,  Ruth,  Herta  und 
Hans,  aus  Mönchengladbach,  Brunnen  Straße  177,  wurde  in  der  Zeit,  als  die  Deportierungen 
einsetzten,  auseinander  gerissen.  Max,  der  Älteste,  wurde  1 927  geboren,  es  folgte  1 932  Ruth, 
1937  erblickte  Hans  das  Licht  der  Welt  und  1938  das  Nesthäkchen  Herta.  Niemand  von  der 
Familie  wusste  bei  ihrer  Trennung  1941,  ob  sie  sich  je  wieder  sehen  würden.  Aber  wie  man 
aus  dem  folgenden  Text  ersehen  kann,  hatte  diese  Familie  einen  besonderen  Schutzengel. 
Einen  großen  Verdienst  am  Überleben  dieser  Familie  hatte  Dr.  Walter  Reiners. 

Sicher  spielt  die  Tatsache,  dass  Hitlers  Propagandaminister  Goebbels  aus  der  Stadt  Rheydt 
stammte,  eine  gewichtige  Rolle,  so  dass  die  Autoritäten  und  Machthaber  mit  Übereifer  bei  der 
Sache  waren.  Eine  andere  Gefahr  stellten  die  Nachbarn  dar,  die  denunzierungsbereit  auf  der 
Lauer  lagen.  DieVergosens  ahnten  oder  wussten  schon  rechtzeitig,  dass  sie  vor  den  Nazis  auf 
der  Hut  sein  mussten,  denn  Johanna  war  Jüdin  und  was  in  der  Stadt  mit  den  jüdischen 
Mitbürgern  geschah,  war  ihnen  selbstverständlich  zu  Ohren  gekommen.  Die  nationale 
Rassenlehre  (Antisemitismus)  wurde  1935  in  den  „Nürnberger  Gesetzen“  festgeschrieben. 
Die  Deutschen  Juden  wurden  zu  Staatsbürgern  minderen  Rechts  herabgestuft.  Ehen, 
Freundschaften  oder  gar  sexuelle  Beziehungen  zwischen  Juden  und  Deutschen  waren  ver- 
boten. Zuwiderhandlung  bedeutete  „Rassenschande“  und  wurde  mit  Zuchthaus  oder  später 
mit  der  Todesstrafe  bestraft.  Durch  zahlreiche  Ergänzungsverordnungen  in  den  nächsten 
Jahren  wurden  die  Juden  praktisch  aus  der  Gesellschaft  ausgeschlossen  und  waren  rechtlos. 
Die  Familie  Vergosen  versuchte  so  unauffällig  wie  möglich  zu  leben,  damit  sie  von  den  Nazis 
nicht  behelligt  wurden. 

Oftmals  ist  die  Partei  an  Hans  Vergosen  herangetreten  und  versuchte  ihn  zu  überreden,  sich 
von  seiner  jüdischen  Frau  scheiden  zu  lassen.  Hans  Vergosen  aber  hielt  fest  zu  seiner  Frau  und 
hatte  dadurch  noch  oft  unter  der  Willkür  der  Naziherrschaft  zu  leiden.  Auch  erhielt  nur  er 
Lebensmittelkarten,  seine  Frau  und  Kinder  wurden  nicht  berücksichtigt.  Als  Gasmasken  an  die 
Bürger  verteilt  wurden,  erhielt  die  große  Familie  nur  eine  einzige,  Herr  Vergosen  gab  sie 
unverzüglich  zurück.  Mitleidige  Nachbarn  steckten  der  kleinen  Ruth  heimlich 
Lebensmittelkarten  zu.  Trotzdem  waren  die  drei  jüngeren  Kinder  noch  zu  klein,  um  eine 
Gefahr  zu  erkennen,  die  dabei  war,  ihre  Familie  zu  zerstören.  Max  jedoch  war  mit  seinen  14 
Jahren  bereits  alt  und  reif  genug,  um  eine  Bedrohung  des  Staatssicherheitsdienstes  und  dem 
umtriebigen  Polizeiaufgebot  in  der  Stadt  zu  erkennen.  Ab  1935,  als  die  Rassegesetze  in  Kraft 
traten,  lebten  die  Eltern  zwar  in  ständiger  Furcht  vor  Repressalien  der  Nazis,  aber  1 94 1 und 
1 942  wurde  es  für  die  Familie  kritisch. 

Die  1932  geborene  Ruth  wurde  1938  in  der  jüdischen  Schule  in  der  Albertus  Strasse,  in 
Mönchengladbach,  eingeschult.  Ein  Jahr  lang  konnte  sie  mit  ihrem  älteren  Bruder  gemeinsam 
den  langen  Weg  zur  Schule  gehen.  Ruth  erinnert  sich  noch,  dass  sie  bereits  als  kleines  Mädchen 


12 


den  großen  gelben  und  auffälligen  „Stern“  tragen  musste,  den  sie  überhaupt  nicht  mochte.  Um 
ihn  zu  verdecken,  trug  sie  ihren  Schulranzen  nach  vorne  anstatt  auf  dem  Rücken. 

(Laut  Gesetz  musste  der  Judenstern  ab  dem  1 .9. 1 94 1 auf  der  linken  Seite  der  Brust  getragen 
werden).  Mit  Beginn  des  Krieges  wurde  der  Schulbetrieb  eingestellt.  Die  jüdische  Gemeinde 
wurde  aufgelöst  und  das  Gebäude  enteignet.  Es  gab  ja  auch  keine  Schüler  mehr,  fast  alle 
wurden  In  KZ  verschleppt.  Von  den  dreißig  (über  40)  jüdischen  Schülern  überlebten  bei 
Kriegsende  nur  drei.  Einer  der  Überlebenden  war  nach  dem  Krieg  nach  Amerika  ausgewan- 
dert, ein  anderer,  Werner  Steckrüb,  ein  Freund  Max  Vergosen 's,  lebt  heute  in  Israel. 

Eines  Tages  erschienen  SS-Leute  im  Hause  Vergosen  um  den  jugendlichen  Max  abzuholen,  aber 
dieser  war  gerade  nicht  zugegen.  Als  er  hörte,  dass  er  sich  bei  der  Gestapo  melden  sollte, 
wollte  er  sich  bei  der  Nachbarin,  Frau  Schröder,  ein  Fahrrad  leihen,  sich  aufschwingen,  um  ein 
eventuelles  Missverständnis  aufzuklären,  denn  er  hatte  ja  nichts  verbrochen.  Die  aufmerksame 
Nachbarin  konnte  den  naiven  Max  nur  mit  Mühe  von  der  verhängnisvollen  Fahrradfahrt  zur 
Kommandantur  abhalten  und  rettete  ihm  dadurch  das  Leben.  Sie  versteckte  ihn  zunächst  in 
ihrem  Keller,  dann  wechselte  er  oftmals  den  Ort  und  blieb  zunächst  für  einige  Zeit 
verschwunden,  aber  das  Heimweh  trieb  ihn  immer  wieder  nach  Hause.  Auch  als  eines  Tages 
ein  schwerer  Bombenangriff  über  der  Stadt  wütete,  zog  es  Max  zu  seiner  Familie. 

Dann  wurde  Max  doch  eines  Tages  geschnappt  und  kam  zur  Gestapo  am  Spatzenberg,  wo  der 
16jährige  eine  Unterschrift  leisten  sollte.  Da  er  noch  Minderjährig  war,  verlangte  der  Vater  von 
den  Nazis  den  Jungen  frei  zu  lassen.  Irgendwann,  bei  einem  erneuten  Abtransport  der  Juden 
in  Richtung  Osten,  wurde  Max  aufgefordert  seine  Koffer  zu  packen.  Er  stand  bereits  mit 
anderen  Mönchengladbacher  Mitbürgern  in  Düsseldorf  auf  dem  Hauptbahnhof,  als  jemand  ihm 
zurief,  dass  er  „abhauen“  sollte.  Max  überlegte  nicht  lange,  sprang  auf  den  nächsten  Güterzug, 
der  zum  Glück  in  Richtung  Mönchengladbach  fuhr  und  kam  wieder  nach  Hause. Von  nun  an 
musste  sich  Max  verstecken,  denn  die  Gestapo  war  auf  der  Suche  nach  ihm.Wenn  sie  ins  Haus 
der  Familie  Vergosen  kamen,  sagten  sie:  „Wir  warten  auf  einen  dreckigen  Judenlümmel  und 
wenn  wir  ihn  haben  schlagen  wir  ihn  zusammen“.  Einmal  nahmen  sie  den  Vater  mit  aufs  Revier 
und  sagten:  „Der  Judenlümmel  ist  uns  durch  die  Lappen  gegangen,  aber  wir  haben  den  Alten 
mitgebracht“. 

Auch  die  Mutter,  Johanna  Vergosen,  tauchte  zunächst  in  der  Nachbarschaft  unter,  konnte  dann 
einige  Zeit  bei  ihren  Schwiegereltern  in  der  Nachbarstadt  Viersen  Unterschlupf  finden.  Aus 
Angst  vor  Verrat  blieb  sie  nie  länger  an  einem  Platz.  Ebenso  erging  es  Max,  der  sich  an  vielen 
fremden  Orten  von  der  Mutter  und  seiner  Familie  getrennt,  versteckt  hielt. 

Der  Schlosser,  Hans  Vergosen,  war  bei  der  Firma  Schlafhorst  beschäftigt,  die  von  Dr.  Reiners 
geführt  wurde.  (Walter  Reiners  war  der  Schwiegersohn  Konrad  Adenauers). 
Selbstverständlich  erhielt  auch  Hans  Vergosen  am  Anfang  des  Krieges  seinen 
Einberufungsbefehl,  jedoch  konnte  Dr.  Reiners  seinen  Weggang  verhindern.  Da  Dr.  Reiners 
Hans  Vergosen  gut  kannte  und  ihn  sehr  schätzte,  auch  um  seine  Familienverhältnisse  wusste, 
setzte  er  ihn  als  unersetzliche  Kraft  in  seinem  Betrieb  ein.  Die  ehemalige  Textil- 
Maschinenfabrik,  Schlafhorst,  die  heute  noch  - allerdings  unter  anderer  Leitung  - in  Betrieb  ist, 
stellte  während  des  Zweiten  Weltkrieges  Waffen  und  Munition  her,  also  Nachschub  für  die 
Schlachtfelder.  Hans  Vergosen  machte  sich  in  den  Kriegsjahren  in  diesem  Rüstungsbetrieb 
unentbehrlich  und  Dr.  Reiners  hielt  seine  schützende  Hand  über  ihn.  Er  wusste  auch,  dass  sich 
Johanna  und  Max  Vergosen  versteckt  hielten  und  so  erlaubte  Dr.  Reiners,  dass  Hans  Vergosen 


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jederzeit  während  des  Tages  nach  seinen  drei  kleinen  Kindern  sehen  konnte,  die  alleine  in  der 
Wohnung  zurück  geblieben  waren.  Zum  Glück  lag  die  Wohnung  derVergosens  in  Firmennähe. 
Bei  Bombenangriffen  oder  in  kritischen  Situationen  verließ  der  Familienvater  mit  Erlaubnis 
seinen  Arbeitsplatz  und  war  während  dieser  Jahre  in  ständiger  Sorge  um  jedes  einzelne 
Familienmitglied.  Angst,  Beklemmung,  Kümmernis,  Unsicherheit  wurden  zu  seiner  schwersten 
Bürde.  Ruth  sah  oft  vom  Fenster  aus,  wenn  ihr  Vater  in  seinem  blauen  Arbeitsanzug,  voller 
Unruhe  und  im  Laufschritt  die  Strasse  entlang  eilte.  Immer  wieder  beschlichen  den  Mann  böse 
Vorahnungen,  die  sich  leider  auch  oftmals  bestätigten. 

Einmal  passierte  etwas,  was  der  damals  elf  oder  zwölf  jährigen  Ruth  bis  heute  im  Gedächtnis 
geblieben  ist.  Die  Familie  besaß  einen  kleinen  Singvogel,  der  in  einem  hübschen  Käfig  auf  dem 
Küchenschrank  stand.  Als  die  Gestapo  wieder  einmal  nach  dem  Verbleib  von  Mutter  Vergosen 
und  ihrem  Sohn  Max  Ausschau  hielt,  die  Wohnung  in  der  Brunnenstrasse  stürmte,  passierte 
für  die  damals  kleine  Ruth  und  deren  Geschwister  etwas  furchtbares.  Da  die  SS-Leute  wieder 
einmal  umsonst  gekommen  waren,  rächte  sich  einer  der  Uniformierten  auf  ganz  persönliche 
Weise.  Er  nahm  den  Vogelbauer  vom  Schrank,  öffnete  das  kleine  Türchen  des  Käfigs,  ließ  den 
Sing-Vögel  frei  in  dem  er  sagte  „der  ist  arisch“.  Dann  stellte  er  den  Vogelkäfig  auf  den 
Fußboden  und  zerstampfte  mit  seinen  schweren  Stiefeln  das  filigrane  Gehäuse.  Die  Kinder 
sahen  erschrocken,  vor  Angst  erstarrt  und  mit  großen  Augen  der  sinnlosen  Zerstörung  zu. 

Ruth,  beim  Weggang  ihrer  Mutter  erst  acht  oder  neun  Jahre  alt,  war  nun  gezwungen  den 
Haushalt  zu  übernehmen.  Sie  ersetzte  den  beiden  jüngeren  Geschwistern  die  Mutter.  Anstatt 
mit  gleichaltrigen  Kindern  zu  spielen  und  in  der  Schule  zu  lernen,  wurden  für  das  Mädchen 
Ruth  waschen,  kochen,  bügeln  zum  Lebensinhalt.  Da  sie  zu  klein  war,  um  die  Tischplatte  zu 
überschauen,  zimmerte  ihr  Vater  ihr  eigens  ein  kleines  Fußbänkchen.  Auf  diesem  stehend 
bereitete  sie  die  Mahlzeiten  und  rührte  Kuchen. 

An  Ausbildung  war  während  der  Kriegsjahre  nicht  zu  denken.  Vor  dem  Krieg  hatte  Ruth  ein 
Jahr  lang  die  jüdische  Schule  in  der  Albertus  Strasse  besucht,  die  jetzt  längst  geschlossen  war. 
Die  Staats-Schule  verweigerten  ihr  - als  Halbjüdin  - den  Eintritt.  Bei  Kriegsende,  als  die 
Familie  wieder  beisammen  war,  war  Ruth  1 3 Jahre  alt.  Sie  war  zu  alt  um  erneut  die  Schule  zu 
besuchen,  außerdem  wurde  im  Haushalt  jede  Arbeitskraft  benötigt,  um  die  Familie  zu 
ernähren.  Pubertätsprobleme  wurden  unterdrückt,Teenager-Träume  kamen  gar  nicht  erst  auf. 
Die  sechs  Kriegsjahre  bürdeten  dem  kleinen  Mädchen  das  Leben  eines  abgeklärten  und 
lebenskundigen  Menschen  auf. 

Hans  Vergosen  lernte  gegen  Ende  des  Krieges  einen  Belgier  namens  Ludwig  Ramakers 
kennen,  der  in  Mönchengladbach  einen  Schutz-Bunker  aus  Beton  gebaut  hatte.  Als  in  den 
letzten  Kriegstagen  noch  Schüsse  fielen,  warnte  der  Belgier  die  Familie  Vergosen  noch  davor 
im  eigenen  Haus  zu  bleiben,  sondern  den  Bunker  aufzusuchen.  Am  25.2.1945  war  der  letzte 
Großangriff.  Am  27.2.45  besetzten  die  amerikanischen  Soldaten  den  Vorort  Rheindahlen,  der 
von  deutschen  Soldaten  verlassen  worden  war.  Bei  ihrem  Vormarsch  stießen  die  Amerikaner 
kaum  auf  Widerstand.  Am  28.2.  rückten  Einheiten  der  29.  Infanterie-Division  vor.  Der 
endgültige  Sturmangriff  auf  Mönchengladbach  begann  in  den  frühen  Morgenstunden  des 
I.  März  1945.  Obwohl  die  Mutter  froh  war,  endlich  wieder  bei  ihrer  Familie  zu  sein,  und  sich 
nicht  mehr  verstecken  wollte,  fanden  sie  alle  in  den  letzten  Kriegstagen  doch  Unterschlupf  im 
engen  Beton-Bau  auf  der  Vitusstraße.  Hier  wurde  die  Familie  am  16.  März  1945  von  den 
Amerikanern  befreit.  Ruth  erinnert  sich  heute  noch,  als  am  Nachmittag  ein  Jeep  mit 
amerikanischen  Soldaten  vor  dem  Bunker  hielt  und  nach  einer  jüdischen  Familie  fragte,  womit 


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sie  gemeint  waren.  Es  war  der  Belgier  Ludwig  Ramakers,  der  den  Amerikanern  mitteilte,  dass 
eine  jüdische  Familie  aus  dem  Bunker  zu  befreien  sei. 


Nach  dem  Krieg  erhielt  Ruth  eine  kleine  Entschädigungsrente,  die  aber  nach  wenigen  Jahren 
wieder  einbehalten  und  rückgängig  gemacht  wurde.  Diese  Entscheidung  hing  von  einem  Arzt 
ab,  der  Ruth  begutachtete  und  untersuchte  und  der  befand,  dass  sich  die  eventuell  entstande- 
nen seelischen  Schäden  während  der  Kriegsjahre  „ausgewachsen“  hätten.  Er  bescheinigte  ihr 
völlige  Gesundheit  und  somit  fiel  ihre  Rente  weg.  Was  der  Arzt  nicht  weiß,  ist,  dass  Ruth  seit 
damals  - bis  heute  unter  Schlaflosigkeit,  Angst,  Nervosität  und  Unruhe  leidet. 

Ihr  Vater,  Hans  Vergosen,  eröffnete  nach  dem  Krieg  ein  Speditionsgeschäft,  indem  auch  Max 
beschäftigt  war.  Die  Mutter  kümmerte  sich  um  die  Buchhaltung,  auch  Ruth  musste  ab  und  zu 
im  Familienbetrieb  einspringen.  Hans  Vergosen  hat  den  Krieg  nur  um  wenige  Jahre  überlebt, 
er  war  lange  krank  und  starb  1954  mit  59  Jahren.  Das  Leben  während  der  Kriegszeit,  der 
Druck  der  Nazis,  die  unendliche  Angst  um  seine  Familie  haben  aus  dem  tatkräftigen 
Familienvater  einen  gebrechlichen  und  kranken  Mann  werden  lassen.  Johanna  Vergosen  hat 
ihren  Mann  um  fast  30  Jahre  überlebt.  Sie  war  in  ihrem  späteren  Leben  sehr  verschlossen  und 
hatte  jegliches  Vertrauen  in  die  Menschen  verloren.  Auch  Max,  der  älteste  Sohn,  der  später 
einen  Reifenhandel  betrieb,  war  nie  bereit  über  die  angsterfüllten  Jahre  im  Versteck  zu 
sprechen.  Max  starb  mit  64  Jahren  an  Lungenkrebs. 

Die  jüngste  Tochter  der  Vergosen-Familie,  Herta,  die  eigentlich  am  wenigsten  von  den 
schrecklichen  Ereignissen  des  Zweiten  Weltkrieges  mitbekam,  starb  mit  49  Jahren  ebenfalls  an 
Krebs.  Die  Familie  hat  sich  in  den  letzten  Jahren  weiter  verkleinert. 

Hans  Vergosen,  der  es  nach  dem  Krieg  in  der  Textil-Stadt  Mönchengladbach  zum  Textil- 
ingenieur gebracht  hat,  lebt  in  Düsseldorf,  wo  er  seit  vielen  Jahren  ein  Stoff-Geschäft  führt. 

Die  wichtigste  und  positivste  Erfahrung  im  Leben  von  Ruth  Vergosen  war  die  Begegnung  mit 
ihrem  späteren  Ehemann,  Günter  Hermges.  Sie  heirateten  1 950  und  führten  47  Jahre  lang  eine 
glückliche  Ehe.  Sie  bekamen  zwei  Kinder,  die  beide  verheiratet  sind  und  Ruth  bislang  je  einen 
Enkel  bescherten.  Ruth  und  Günter  Hermges  führten  viele  Jahre  lang  gemeinsam  ein  Geschäft. 
Der  Tod  ihres  Mannes,  im  Jahre  1996,  veränderte  Ruths  Leben  schlagartig,  sie  hat  mehr  als 
sechs  Jahre  gebraucht  um  sein  Hinscheiden  einigermaßen  zu  verkraften.  Jetzt  aber  kommt  ihre 
Kämpfernatur  wieder  zum  Vorschein. Warum  sollte  sie  mit  ihren  70  Jahren  das  Haus  aufgeben, 
indem  sie  mit  ihrem  Mann  glücklich  war  und  in  dem  alle  ihre  Erinnerungen  stecken?  Nur  eines 
verkraftet  sie  noch  schlecht  - und  das  ist,  wenn  sie  eine  CD  mit  der  Musik  ihres  Mannes  spielt, 
der  ein  leidenschaftlicher  Jazzmusiker  war.  Er  spielte  Schlagzeug  und  war  Sänger  seiner  Band. 
Bei  der  swingenden  und  erheiternden  Musik  kommen  Ruth  immer  noch  regelmäßig  die 
Tränen. 

Obwohl  Günter  Hermges,  so  wie  Ruth's  Vater,  Hans  Vergosen,  Katholiken  waren,  liegen  beide 
Männer  auf  dem  jüdischen  Friedhof  in  Mönchengladbach  beerdigt. 

Im  Alltag  und  in  ihrer  Umgebung  ist  Ruth  aus  der  Familie  nur  noch  ihr  Bruder  geblieben,  den 
sie  in  ziemlich  regelmäßigen  Abständen  sieht  und  zu  dem  sie  ein  gutes  Verhältnis  hat.  Hans  lässt 
bei  manchen  Unterhaltungen  mit  seiner  Schwester  durchblicken,  dass  er  sich  heute  wundert, 
dass  Ruth  trotz  der  fehlenden  Schulbildung  lesen  und  schreiben  kann.  Jedoch  leidet  Ruth 
heute  mehr  denn  je  darunter,  dass  sie  nie  die  Möglichkeit  hatte  einen  eigenen  und  selbst 
gewählten  Beruf  ausgeübt  zu  haben.  Man  sieht  es  der  zierlichen,  eleganten,  attraktiven,  sehr 


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agilen  und  tatkräftigen  Frau  nicht  an.  dass  sie  ein  schweres  Schicksal  zu  bewältigen  hatte.  Ruth 
Hermges  hat  keine  Angst  vor  nichts  und  niemandem.  Wer  die  energische  und  selbstbewusste 
Frau  näher  kennt,  kann  kaum  glauben,  dass  sie  nur  ein  Jahr  lang  die  Schule  besuchen  konnte. 
Das  Schicksal  mit  dem  Namen  „Nationalsozialismus“  hat  Ruths  Persönlichkeit  geformt, 
gebeutelt  und  geknetet,  aber  sie  hat  sich  niemals  unterkriegen  lassen. 

Ich  persönlich  finde  erwähnenswert  und  wichtig,  sie  in  der  Chronik  der  Mönchengladbacher 
Juden  aufzunehmen. 


Während  meiner  Schulzeit  in  den  50er  und  60er  Jahren  habe  ich  nicht  viel  über  den  Krieg, 
die  Nazis  und  die  SS  erfahren,  selbst  die  KZ  wurden  totgeschwiegen.  Dass  Goebbels  aus 
Rheydt  kam,  erfuhr  ich  erst  viel  später.  Vielleicht  haben  sich  die  Menschen  geschämt,  so 
grausame  Dinge  vollbracht  zu  haben.  Aber  vielleicht  wollten  sie  nicht  über  den  Krieg  reden, 
weil  sie  nicht  als  Helden  und  Sieger  hervorgingen.  Hat  man  uns  die  jüngste  Geschichte  unter- 
schlagen weil  die  Deutschen  merkten  versagt  zu  haben? 

Mitscherlich  erklärt  in  seinem  Buch  „Die  Unfähigeit  zu  Trauern“:  „Wo  ausgebaut  und  auf- 
gebaut wurde,  geschah  es  fast  buchstäblich  auf  den  Fundamenten,  aber  kaum  noch  in  einem 
durchdachten  Zusammenhang  mit  der  Tradition.  Das  trifft  nicht  nur  für  Häuser,  sondern  auch 
für  den  Lehrstoff  unserer  Schulen,  für  die  Rechtssprechung,  die  Gemeindeverwaltung  und 
vieles  andere  zu...  Vorerst  fehlt  das  Sensorium  dafür,  dass  man  sich  darum  bemüht  hätte  - 
vom  Kindergarten  bis  zur  Hochschule  - die  Katastrophe  der  Vergangenheit  in  unseren 
Erfahrungsschatz  einzubeziehen...  In  allem  sehen  wir  jene  Hemmung,  jene  Blockierung  der 
sozialen  Phantasie,  jenen  fühlbaren  Mangel  an  sozialer  Gestaltungskraft“.  (5) 

Nicht  nur  die  Lehrer  an  den  Schulen  drückten  sich  vor  der  Wahrheit,  sondern  der  Grossteil 
der  Bevölkerung  blieb  - und  bleibt  - auf  Befragen  stumm,  sucht  nach  Ausreden  und 
Ausflüchten,  um  Hitler  Untaten  zu  rechtfertigen.  Hatte  doch  - laut  Aussage  der 
Kriegsgeneration  - , Adolf*  doch  für  weniger  Arbeitslose  gesorgt  und  die  Autobahnen  gebaut 
(die  allerdings  schon  vorher  geplant  worden  waren).  Für  die  damalige  Jugend,  die  Hitler 
und  Goebbels  voller  Enthusiasmus  zujubelte,  war  diese  Zeit  vielfach  eher  ein 
,Abenteuerspielplatz“.  (Viele  Menschen,  die  unter  dem  Naziregime  aufwuchsen,  reden  heute 
noch  mit  Glanz  in  den  Augen  von  der  schönen  Zeit). 

Ich  bin  sicher,  nur  wenige  der  heutigen  Abiturienten  wissen,  dass  Goebbels  in  Rheydt  geboren 
wurde  und  sie  deshalb  eine  ganz  besondere  Stadt  ist.  Was  hat  die  Stadt  Rheydt  zum  Andenken 
an  ihre  früheren  jüdischen  Mitbürger  gemacht?  Außer  dem  Gedenkstein,  den  man  in  den  70er 
Jahren  an  die  Stelle  der  ehemaligen  Synagoge  aufstellte,  und  einer  Strasse,  die  plötzlich  „Moses 
Stern  Strasse“  hieß,  ist  mir  nichts  aufgefallen. 

Dieses  Treffen  aller  lebenden  Juden  aus  Mönchengladbach  und  Rheydt,  das  Ende  der  80er 
Jahre  stattfand,  kann  keine  Entschädigung  sein.  Nicht  einmal  auf  der  ökumenischen 
Gedenkfeier  - am  13.5.95  - in  der  Mönchengladbacher  Synagoge  sind  mir  - außer  dem 
Bürgermeister,  dem  Polizeipräsidenten,  nebst  Gattinnen  und  Journalisten  - keine  normalen 
Bürger  aufgefallen.  Ein  besseres  Beispiel  ist  die  Universitätsstadt  Tübingen,  die  öfter  ihre  ehe- 
maligen jüdischen  Mitbürger  zu  einem  Gedankenaustausch  und  zu  Gedenkfeiern  in  die  alte 
Heimat  einlädt.  So  lernt  auch  die  Städtegesellschaft  besser  mit  ihrer  Vergangenheit  umzu- 
gehen. Haben  sie,  die  Bewohner  von  Mönchengladbach  und  Rheydt,  nicht  sogar  Recht?  Wenn 
man  sich  50  Jahre  um  nichts  gekümmert  hat,  braucht  man  es  auch  an  solch  einem  Jahrestag 
nicht.  Mich  hat  es  in  die  Synagoge  gezogen,  weil  ich  mich  mit  der  jüdischen  Bevölkerung 
solidarisch  zeigen  wollte.  Ich  kann  nur  hoffen,  dass  die  Juden  uns  und  unseren  Vätern 
verzeihen,  ich  jedenfalls  wüsste  nicht,  ob  ich  dazu  in  der  Lage  wäre. 

Der  Gottesdienst  und  Gedenkfeier  zum  50.  Jahrestag  des  Kriegsendes  für  die  gefallenen 
Soldaten  war  besser  besucht.  Die  Deutschen  beklagen  lieber  ihre  eigenen  Toten  als 
diejenigen,  die  durch  ihre  Schuld  umkamen.  Sie  fühlen  sich  zum  Teil  nicht  einmal  schuldig, 
sondern  noch  als  Opfer:  Was  haben  sie  nur  alles  während  des  Krieges  mitgemacht,  die 
zahllosen  Bombenangriffe,  die  schreckliche  Evakuierung,  Männer  wurden  getötet,  Frauen 
vergewaltigt,  Kinder  wurden  zu  Waisen.  Es  war  in  der  Tat  schrecklich,  aber  wem  hatten  sie  das 

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O 


alles  zu  verdanken?  Sich  selbst!  Hätten  die  Deutschen  nicht  voller  Überschwang  „Hurra!“ 
geschrieen  und  Hitler  und  die  Nationalsozialisten  nicht  gewählt,  wäre  uns  viel  erspart 
geblieben.  „Aber  es  schien  zunächst  lustvoll  und  herrlich  zu  sein,  zum  Volk  der  Auserwählten 
zu  gehören.  Als  die  Alliierten  deutsche  Städte  zerbombten,  taten  sie  dies,  weil  Hitler  ihnen 
gedroht  hatte  „die  Städte  unserer  Feinde  auszuradieren“.  (6)  Es  war,  wenn  man  so  will,  reine 
Notwehr,  aber  die  Deutschen  fühlen  sich  noch  als  Märtyrer. 

Und  wie  war  es  mit  dem  Widerstand  in  Mönchengladbach  und  Rheydt  bestellt?  Angeblich 
sollen  damals  30  bis  40  Personen  bereit  gewesen  sein,  Juden  zu  unterstützen,  sie  zu 
verstecken  oder  ihnen  auf  andere  Art  zu  helfen.  Das  ist  keine  große  Zahl  in  der  ehemals 
200.000  Einwohner  zählenden  Stadt.  Dafür  ist  mir  ein  Fall  persönlich  bekannt:  „Frau  Stein“ 
war  mitten  im  Winter  auf  der  Suche  nach  Sommerkleidern.  Ich  konnte  mir  damals,  in  den  60er 
Jahren,  nicht  vorstellen,  wo  man  im  Januar  Sommergarderobe  benötigte.  Sie  erzählte  dann, 
dass  sie  ihre  Freunde  in  Israel  besuchen  wolle.  Später  erfuhr  ich,  hinter  vorgehaltener  Hand 
natürlich,  dass  Herr  und  Frau  Stein  während  des  Krieges  in  ihrem  Haus  Juden  versteckt 
hielten.  Obwohl  die  Gestapo  mehrmals,  durch  Nachbarn  denunziert,  Hausdurchsuchungen 
vornahm,  wurden  sie  nicht  entdeckt.  Die  jüdische  Familie  überlebte  und  siedelte  nach  Israel. 
Eigentlich  ist  das  eine  völlig  normale  Handlung,  dass  man  seinen  Freunden  hilft,  wenn  sie  in 
Not  geraten,  aber  ansonsten  habe  ich  von  keiner  weiteren  Rettung  in  meinem  Umfeld  gehört. 
Die  Stadt  Rheydt  oder  Mönchengladbach  hat  weder  Orden  noch  Medaillen  verteilt,  obwohl 
Herr  Stein  kein  Unbekannter  bei  der  Sparkasse  war.  Man  vergaß,  verdrängte,  ignorierte. 

Ich  möchte  hiermit  dem  Ehepaar  Stein,  ehemals  vom  Bäumchesweg,  die  beide  längst  tot  sind, 
ein  Denkmal  setzen! 


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EINFÜHRUNG 

Dieser  Bericht  ist  besonders  für  die  Jugend  geschrieben.  Sie  ist  unsere  Hoffnung  und 
Zuversicht,  sie  ist  offen  und  lernfähig.  Sie  wehrt  sich  gegen  das  Unrecht  und  weiß  auch  besser 
mit  der  Vergangenheit  umzugehen,  wenn  man  sie  das  lehrt. 

Waren  es  doch  hauptsächlich  Jugendliche,  die  die  Kinosäle  füllten,  als  „Schindlers  Liste“ 
aufgeführt  wurde.  Leute,  der  Altersklasse  zwischen  40  und  50,  konnte  man  an  einer  Hand 
abzählen.  Und  wenn  ich  Frauen  und  Mütter  meines  Alters  befragte,  ob  sie  sich  mit  ihren 
Kindern  den  Film  ansehen  würden,  bekam  ich  oft  ausweichende  Antworten:  „Nach  50  Jahren 
muss  man  doch  endlich  mal  vergessen  können“  oder  „Das  ist  alles  zu  furchtbar,  das  will  Ich 
meinem  Kind  nicht  zumuten“.  Dabei  sind  die  jungen  Menschen  mehr  gefordert  als  man  glaubt. 
Ehekrisen,  Scheidungen,  Mord  und  Totschlag  im  Fernsehen,  im  Kino  oder  aber  aus  der  Zeitung 
mutet  die  Gesellschaft  ihnen  zu,  aber  ein  Stück  reale  Vergangenheit  nicht.  Die  Verbrecher  des 
Krieges,  Die  Grosseltern,  wollen  weder  von  dem  Film,  noch  etwas  von  diesem  Bericht 
wissen,  sie  hüllen  sich  lieber  in  Schweigen  und  tun,  als  wüssten  sie  von  nichts.  Sie  haben  sogar 
noch  für  alles  eine  Ausrede  und  viele  Entschuldigungen.  Anstatt  dass  die  heute  alten  Männer, 
z.T.  Mörder  von  vielen  tausend  Menschen,  weinend  zusammenbrechen,  ihre  Taten  zugeben  und 
bereuen,  Einkehr  bei  sich  selbst  halten  , sich  als  schuldig  zu  erkennen  geben,  fühlen  sie  sich 
noch  angegriffen  und  behaupten  - und  das  wiederum  nicht  ohne  Stolz  - dass  sie  nur  ihre 
Pflicht  getan  haben.  Ich  finde  das  schwer  zu  verdauen! 

Und  wie  war  ich  einst  stolz  auf  „meine  68er  Generation“  (und  dass  ich  dazu  gehörte).  Ich  hielt 
sie  (uns)  für  etwas  ganz  Besonderes,  sie  (wir)  würden  die  Welt  umkrempeln.  Diese  Bewegung 
setzte  sich  für  soziale  Gerechtigkeit  ein,  für  eine  Neuorientierung  in  der  Politik.  Bei  der  68er 
Studentenbewegung  spürte  man  die  geballte  Energie.  Die  Demonstranten  lieferten  sich 
heftige  Straßenschlachten  mit  der  Polizei,  wobei  sie  zum  Teil  sogar  ihr  Leben  aufs  Spiel 
setzten.  Ich  war  mir  damals  sehr  sicher,  dass  die  Welt  in  25  Jahren  großmütiger,  selbstloser, 
fairer  und  vorurteilsloser  sein  würde  und  nun  ist  dieser  großartige  Traum  auf  der  Strecke 
geblieben. 

Ich,  die  ich  1967  aus  der  Provinz  nach  Berlin  kam,  konnte  Rudi  Dutschke  „life“  erleben.  Mir 
war  fast  schwindelig  inmitten  tausender  Studenten  und  vor  Glück,  dass  ich  selbst  einmal  im 
Zentrum  des  Geschehens  war. Von  der  damaligen  Revolte  ist  nicht  viel  in  die  „Neuzeit“  über- 
geschwappt. Wo  sind  die  vielen  Idealisten,  Revoluzzer,  Systemverbesserer,  Sozialreformer,  die 
seinerzeit  im  Kampf  um  Gleichberechtigung  den  Aufstand  geprobt  haben,  geblieben?  Sollten 
sie  sich  etwa  in  den  Vorstandsetagen  der  Banken,  Versicherungen  und  der  großen  Konzerne 
versteckt  halten? 

Wo  ist  der  Elan  der  68er  geblieben?  Mir  scheint,  er  ist  im  All  verpufft. Von  den  großen  Namen 
ist  mir  nur  noch  der  gewisse  Herr  Cohn-Bendit  und  ein  anderer  namens  Fischer  im 
Gedächtnis  haften  geblieben!  Der  Mief  von  tausend  Jahren  - und  nicht  nur  unter  denTalaren- 
ist  an  uns  hängen  geblieben. 

Ich  habe  trotzdem  schon  frühzeitig  versucht,  aus  meinen  Kindern  „Menschen“  zu  machen,  sie 
auch  über  negative  Dinge  des  Lebens  aufgeklärt,  über  Krieg  und  Rassenhass  und,  dass  es 
ungerecht  in  der  Welt  zugeht,  aber  auch,  dass  jeder  seinen  Teil  zum  friedlichen  Miteinander 
beitragen  muss.  Dass  man  Mitmenschen  hilft,  wenn  sie  Hilfe  benötigen  und  dass  man  teilt, 
wenn  andere  zu  wenig  haben.  Durch  internationale  Schulen,  mit  Schülern  aus  über  40 
Nationen,  haben  sie  Rassismus  gar  nicht  erst  kennen  gelernt.  Geschichte  wurde  an  den 
Schulen  unserer  Töchter  intensiv  behandelt.  Ganz  besonders  haben  sich  die  beiden  Töchter 


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für  den  2.  Weltkrieg  interessiert.  Deshalb  schreckten  sie  auch  nicht  davor  zurück,  einen 
Besuch  in  Polen,  in  die  unliebsame  Vergangenheit,  zu  machen.  Wie  soll  man  der  Zukunft  begeg- 
nen, wenn  man  die  Vergangenheit  nicht  kennt?  Leider  war  es  nur  einer  Tochter  möglich  mit- 
zukommen. 

Und  so  begannen  wir  unsere  Rundreise  durch  Polen  nur  zu  zweit. 


LIDICE  UND  ORADOUR 

Mein  Kind,  frag  Deinen  Vater,  wo 
er  war,  als  Lidice  und  Oradour 
im  Brand  sich  krümmten,  lichterloh. 

Frag  nach  dem  falschen  Schlag  der  Uhr 

bei  Dir  zu  Haus  und  anderswo. 

Den  Lehrer  frag:  die  Angelschnur 
schlägt  nach  ihm  aus.  Der  Wolf  im  Zoo 
erschrickt  vor  Lidice  und  Oradour. 

Dein  Nachbar,  der  Geranien  froh, 
vergaß  Euch,  Lidice  und  Oradour, 
das  Feuerkind  im  Feuerstroh, 
das  Messer  bei  der  Menschenschnur. 

Vom  Hut  aus  Filz,  vom  Korb  aus  Stroh 
kein  Pflaster  schluckt  die  rote  Spur. 

Mein  Kind,  mach  es  nicht  ebenso, 

geh,  lies  von  Lidice  und  Oradour.  (Wolfgang  Weyrauch)  (29) 


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DIE  POLENREISE 


BRESLAU 

Anfang  Juli  1 994  machten  wir  - meine  Tochter  und  ich  - uns  auf  den  Weg  nach  Polen. 

Sie  hatte  gerade  ihr  Abitur  bestanden.  Nun  wollten  wir  der  jahrelang  studierten  deutschen 
Geschichte  des  2.  Weltkrieges  - wenigstens  zum  Teil  - auf  den  Grund  gehen.  In  Berlin- 
Lichtenberg  bestiegen  wir  den  20  Uhr-Zug  nach  Breslau.  Unsere  erste  Etappe  endete  nach  6 
Stunden  Fahrt  im  Bahnhof  von  Wroclaw.  Dort  erwartete  uns  mitten  in  der  Nacht  ein 
cleverer  Taxifahrer,  der  uns  ins  sehr  nahe  gelegene  Hotel  Metropol  fuhr  und  uns  für  die  sehr 
kurze  Fahrt  10,-  DM  abnahm,  unsere  Koffer  auf  dem  Gehweg  abstellte  und  eilends  davonfuhr. 
Für  ihn  hatte  sich  das  lange  Aufbleiben  in  dieser  Nacht  doch  noch  gelohnt.  Bevor  er  losbrau- 
ste, erzählte  er  uns  in  gebrochenem  Deutsch,  dass  Hitler  schon  in  diesem  Steinklotz  von 
Hotel  zu  nächtigen  pflegte.  Mit  dieser  überaus  „beruhigenden  Nachricht“  klopften  wir  an  die 
riesige  und  von  innen  verriegelte  Holztür  des  „Gruselkabinetts“.  Niemand  öffnete,  niemand 
schien  uns  - sogar  nach  mehrmaligem  Hämmern  - zu  hören.  Da  standen  wir  nun  mit 
unserem  Gepäck,  mitten  in  der  Dunkelheit  und  der  polnischen  Sprache  nicht  mächtig.  Mir 
fielen  die  kriminellen  Vergehen  der  Polen  ein.  In  den  Zeitungen  stand  immer  wieder,  Polen 
stehlen  alles,  was  nicht  angebunden  ist;  sicher  schrecken  sie  auch  vor  Mord  nicht  zurück. 
Huschte  da  nicht  ein  Schatten  vorbei? 

Waren  dort  keine  Geräusche?  Jemand  schlurfte  mit  Schlüsselgerassel  zur  Tür.  Eine  Matrone 
zeigte  uns  verschlafen,  jedoch  recht  barsch  den  Weg  in  unser  Zimmer.  Erschöpft  von  der 
langen  Reise  betraten  wir  das  Hotelzimmer;  es  war  schmal,  nicht  besonders  geräumig,  einfach 
eingerichtet,  aber  wir  waren  froh  und  dankbar  ausruhen  zu  dürfen. Von  dem  grossen  Fenster 
aus  konnten  wir  direkt  auf  die  Oper  und  ins  Zentrum  blicken.  Wir  nahmen  aber  erst  am 
nächsten  Morgen  Notiz  davon,  als  wir  schon  früh  durch  den  Verkehrslärm  geweckt  wurden. 
Zwischen  den  beiden  Betten  stand  ein  Fernseher,  der  mit  seinen  beiden  Schwarz-Weiß- 
Kanälen  an  die  50er  Jahre  erinnerte.  Bevor  wir  uns  abends  auf  die  nachgiebige  Matratze 
legten,  schlichen  wir  noch  schnell  über  den  unheimlichen  Gang  zu  „Damski“,  um  uns  für  die 
Nacht  zu  erleichtern.  Der  Rückweg  wurde  atemlos  und  im  Laufschritt  zurückgelegt,  als  wäre 
uns  Adolf,  der  „Gröfaz“  (größter  Führer  aller  Zeiten)  auf  den  Fersen. 

KRAKAU 

Nach  3 Tagen  bestiegen  wir  den  Zug  nach  Krakau.  Nach  5 Stunden  Bahnfahrt  erreichten  wir 
diese  schöne  und  historische  Stadt.  Wir  ließen  uns  mit  dem  Taxi  ins  Hotel  „Cracovia“  fahren. 
Der  rechteckige,  starre  Kasten  sozialistischen  Stils  war  bewohnt  von  internationalen,  in  der 
Hauptsache  aber  amerikanischen  Touristen.  Unser  Doppelzimmer  wirkte  wie  eine  Suite.  In 
einem  Raum  standen  die  beiden  Betten  und  ein  Schrank,  in  dem  anderen  schmalen  Zimmer 
war  ein  gemütlicher  Aufenthaltsraum  eingerichtet  mit  Couch,  Sessel,  Telefon  und  Fernseher 
mit  internationalen  Kanälen.  Hier  hatten  wir  auch  jeder  unser  eigenes  Bad.  Noch  bei  Tageslicht 
wollten  wir  uns  ein  wenig  umsehen.  Am  „Rynek  Glowny“,  dem  Altstadt-Markt-Platz,  kamen 
wir  aus  dem  Staunen  nicht  heraus:  so  viel  alte  Schönheit,  hellen  Glanz,  Sauberkeit  und 
Atmosphäre  hatten  wir  nicht  erwartet.  Die  Straßencafes  waren  voll  besetzt,  Menschen  rede- 
ten, lachten,  aßen.  Der  Duft  von  gebratenem  Fleisch  stieg  uns  in  die  Nase.  Auch  wir  waren 
hungrig  und  suchten  nach  einem  freien  Platz.  Junge,  freundliche  Menschen  fragten  nach 


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unseren  Wünschen.  Es  waren  Studenten,  die  alle  Deutsch  und  Englisch  sprachen.  Besonders 
fiel  mir  ihre  Höflichkeit  und  eine  gewisse  Zurückhaltung  auf.  Sie  waren  kein  bisschen  auf- 
dringlich, schienen  eher  gehemmt.  Dabei  hatten  diese  jungen  Leute  es  keinesfalls  nötig,  sich 
vor  anderen  Europäern  zu  verstecken,  denn  sie  sahen  auch  noch  überdurchschnittlich  gut  aus. 
Ihr  bescheidenes  Auftreten  tat  wohl,  diese  Eigenschaft  ist  leider  vielen  Jugendlichen  in 
anderen  Ländern  abhanden  gekommen.  Das  Essen  in  diesem  Straßencafe  am  Marktplatz 
schmeckte  genauso  vorzüglich  wie  es  aussah.  Als  dann  noch  herrlich  drapierte  frische  Früchte 
auf  Eis  an  uns  vorbei  getragen  wurden,  konnten  wir  nicht  widerstehen.  Die  Johannisbeeren, 
Waldbeeren,  Stachelbeeren,  Brombeeren,  alles  was  sich  auf  unserem  Eisbecher  türmte, 
schmeckte  so,  wie  ich  es  noch  aus  meiner  Kindheit  in  Erinnerung  hatte.  Zufrieden,  gesättigt 
und  überrascht  von  so  vielen  positiven  Eindrücken,  lehnten  wir  uns  zurück,  um  die  Menschen 
dieser  Stadt  und  die  Touristen  zu  beobachten.  Junge  Musikanten  spielten  auf,  Folkloretänzer 
bewegten  sich  harmonisch  zur  Musik,  der  Feuerschlucker  ließ  seine  Fackeln  im 
Bongorhythmus  tanzen.  Amerikanische  Besucher  waren  leicht  auszumachen.  Deutsche 
erkannte  man  an  den  Socken  in  den  Birkenstock  Schuhen  und  den  unverkennbaren 
Trägerhemden,  auch  schreckten  viele  vor  Schiessers  unübertroffenem  Netzhemd  nicht 
zurück.  Ein  junger  Pole  merkte,  dass  wir  Deutsche  waren  und  sprach  uns  hocherfreut  an. Wir 
unterhielten  uns  mehr  als  eine  Stunde.  Und  gegen  Ende  der  Unterhaltung  lud  er  uns  zu  sich 
nach  Hause  ein,  ebenfalls  in  das  Wochenendhaus  seiner  Eltern  in  Zakopane.  Über  so  viel 
Spontanität  uns  fremden  Menschen  gegenüber  war  ich  erstaunt.  Da  aber  der  folgende  Tag 
schon  verplant  war,  verabschiedeten  wir  uns  voneinander.  Krakau  hatte  uns  sehr  beeindruk- 
kt.Von  den  Sehenswürdigkeiten,  Schloss  Wawel,  dem  Florianstor,  der  Tuchhalle,  (eine  histori- 
sche Markthalle)  dem  Trompetenbläser  auf  dem  gotischen  Turm  der  Marienkirche,  bekamen 
wir  herrliche  Eindrücke  und  beschlossen  sogar,  irgendwann  einmal,  wiederzukommen. 

AUSCHWITZ  UND  BIRKENAU 

Am  nächsten  Tag  wollten  wir  zu  einem  wichtigen  Ziel  unserer  Reise,  ins  Konzentrationslager 
,Auschwitz“.  Zwar  hatten  wir  viele  Filme,  Dokumentationsberichte  und  Fotos  aus  den  KZ 
gesehen,  aber  wir  wollten  die  Restbestände  des  Grauens  selbst  auf  uns  einwirken  lassen.  Der 
Bus,  der  uns  in  die  mörderische  und  unbarmherzige  Vergangenheit  führte,  wartete  bereits  vor 
dem  Hotel.  Unter  den  ungefähr  zwölf  Leuten  im  Bus  fiel  mir  sofort  eine  mir  gleichaltrige 
Deutsche  auf.  Sie  war  - genau  wie  ich  - mit  ihrer  Tochter  unterwegs.  Die  meisten  Reisenden 
waren  Amerikaner.  Ein  älterer  Herr  mit  weißem  Bart,  er  schien  in  Israel  beheimatet  zu  sein, 
setzte  sich  von  allen  ab.  Mit  Sicherheit  war  er  ein  ehemaliger  KZ-Häftling  und  besuchte  nun, 
nach  fast  50  Jahren,  die  Stätte  der  brutalen  Gewalt,  der  er  sicherlich  mit  knapper  Mühe  und 
Not  entronnen  ist.  Wie  schmerzhaft  musste  für  ihn  diese  Erinnerung  sein!  Am  nächsten 
Morgen  sah  ich  ihn  wieder  in  der  Frühstückshalle  unseres  Hotels.  Wieder  saß  er  alleine. 
Traurig  sah  er  aus.  Wie  gerne  hätte  ich  mit  ihm  gesprochen,  ihm  Trost  gespendet  oder  ihm  nur 
meine  Hilfe  angeboren,  vielleicht  einfach  nur  seine  Hand  gehalten  - oder  seinen  Arm  mit  der 
unauslöschlich  eingebrannten  Häftlingsnummer.  Aber  wie  hätte  ich  mich  als  Deutsche 
erdreisten  können,  diesen  fremden  Menschen  anzusprechen?! 

Die  junge  polnische  Reisebegleiterin  des  Busses  erklärte  uns  auf  Englisch,  was  wir  nach  der 
60  km  langen  Fahrt  zu  erwarten  hätten.  Erstaunt  war  ich,  an  diesem  hellen  Morgen  schon 
etliche  Busse  an  der  Gedenkstätte  stehen  zu  sehen.  Massen  strömten  in  die 


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Museumseinrichtungen.  Bald  war  auch  der  Kinosaal  mit  Menschen  gefüllt,  und  der 
Dokumentationsfilm  konnte  beginnen.  Ich  war  verwundert,  wie  viele  Jugendliche  sich  für  die 
Vergangenheit  interessierten.  Junge  Israelis  konnte  man  an  ihrer  jüdischen  Kopfbedeckung,  der 
Kipa,  erkennen.  Deutschsprechende  Schulklassen  bildeten  Gruppen,  man  hörte  die  unter- 
schiedlichsten Sprachen,  bis  der  Film  begann.  Dann  betretenes  Schweigen, Trauer, Tränen,  hier 
und  da  ein  unterdrücktes  Schluchzen  von  Leuten,  die  wahrscheinlich  ihre  Familienangehörigen 
in  diesem  Konzentrationslager  verloren  haben.Wie  konnten  wir  als  Deutsche  überhaupt  noch 
erhobenen  Hauptes  durch  die  Gedenkstätte  gehen?  Hätten  wir  uns  nicht  vor  Scham  und 
Schuldgefühl  in  die  hinterste  Ecke  verkriechen  müssen? 

Die  Besichtigung  nahm  ihren  Lauf. Wir  sahen  die  Koffer,  die  man  den  Neuankömmlingen  gleich 
abgenommen  hatte,  um  den  Inhalt  zu  konfiszieren.  Hätten  nicht  auch  Koffer  von  uns  dabei  sein 
können?  Hätte  nicht  irgendein  fanatischer  Idiot  auch  unserer  Familienidylle  ein  Ende  machen 
können?  Es  ist  schwer  zu  begreifen,  dass  Menschen  aus  Fleisch  und  Blut,  wie  Du  und  ich, 
systematisch  morden  und  zerstören  und  auch  noch  Buch  darüber  führen.  Auch  wir  gingen 
durch  das  Tor  mit  der  Aufschrift , Arbeit  macht  frei“  wie  schon  so  viele  vor  uns.  Nachdem  wir 
schon  einige  Stunden  im  Museum  von  Auschwitz  verbracht  hatten.  Berge  von  Koffern,  Brillen, 
Zahnbürsten,  Kämmen  gesehen  hatten,  standen  wir  vor  den  Beinprothesen.  Eine  rosa  farbene 
kleine  Prothese  hatte  einem  Kind  gehört...  Kiloweise  lagen  Haarbüschel  aufgehäuft,  die  sich 
durch  die  Vergiftung  mit  Zyklon  B grau  gelblich  verfärbt  hatten.Trotzdem  waren  die  Haare  für 
Decken  und  Teppiche  verwertet  worden.  Aus  dem  „Todesblock“  war  keiner  lebendig  heraus- 
gekommen. Nachdem  die  Todeskandidaten  oft  wochenlang  gefoltert  und  gequält  worden 
waren,  hat  man  sie  einfach  an  die  Wand  gestellt  und  exekutiert.Wir  glaubten,  die  Todesschüsse 
noch  zu  hören.  In  den  20  Minuten  Pause  während  der  Besichtigung  scharten  sich  die  Besucher 
um  die  Würstchenbuden.  Uns  war  der  Appetit  von  der  Besichtigung  gänzlich  vergangen.  Bei 
30  Grad  im  Schatten  waren  wir  jedoch  froh, Wasser  bei  uns  zu  haben.  Die  Sommer  der  40er 
Jahre  waren  sicher  nicht  minder  heiß,  wie  hatten  die  Gefangenen  das  ausgehalten?  Sie 
mussten  sich  den  ganzen  Tag  mit  schwerer  Arbeit  abplacken  und  hatten  mit  Sicherheit  Durst, 
trotzdem  bekamen  sie  nur  kleine  Rationen  an  Flüssigkeit. 

Wir  konnten  noch  einen  genüsslichen  Schluck  nehmen,  bevor  wir  uns,  wie  bei  einem 
Betriebsausflug,  alle  im  Bus  versammelten.  Nun  folgte  Teil  II  der  Besichtigung:  Birkenau.  Nach 
einigen  Minuten  sah  man  schon  das  bekannte  Tor,  die  Zugschienen,  die  legendäre  Rampe.  Hier 
hatte  damals  auch  das  lagereigene  Orchester  gespielt.  Neuankömmlinge  wurden  mit  Musik 
begrüßt  worden,  bevor  viele  von  ihnen  gleich  „ins  Gas“  gingen.  Sterben  beim  Radetzkimarsch. 
Hier  in  Birkenau  war  per  Daumenzeig  über  Leben  und  Tod  entschieden  worden.  Viele 
Zeugenberichte  haben  später  die  Dramen  geschildert,  die  sich  in  der  Warteschlange  abge- 
spielt haben.  Manche  Mutter  hat  ihr  Kind  verleugnet,  um  ihr  eigenes  Leben  zu  retten.  Wenn 
Kinder  verzweifelt  hinter  ihren  Müttern  schreiend  und  weinend  hinterherliefen,  ließen  sich  die 
Aufseher  dadurch  nicht  ihr  Programm  durcheinander  bringen,  denn  in  der  Masse  hatte 
Disziplin  zu  herrschen.  So  schossen  sie  ohne  zu  zögern  den  Störenfried  nieder.  Auch  mit 
Kranken  oder  Behinderten  hatte  es  kein  Erbarmen  gegeben.  Wenn  Kinder  ohnmächtig  von 
den  Strapazen  der  langen  Zugfahrt  nur  noch  leise  wimmerten  oder  zitterten,  warf  man  sie 
gleich  auf  den  bereitstehenden  Lastwagen,  der  für  Tote  reserviert  war,  denn  „unnütze 
Brotesser  und  minderwertige  Elemente“  (7)  wurden  nicht  geduldet.  Hier  also  hatte  „Tadeusz 
Borowski“  (8)  die  Züge  mit  den  vielen  entstellten  und  verkrampften  Leichen  entladen.  Hier 
war  es,  wo  er  die  Züge  von  Urin,  Erbrochenem  und  Exkrementen  säuberte.  Obwohl  er  sich 
ekelte  und  ihm  der  Geruch  den  Magen  umdrehte,  hoffte  er,  etwas  Essbares  zu  finden.  Obwohl 

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dieser  Mensch  das  KZ  überlebte,  konnte  er  mit  dem  wirklichen,  realen  Leben  nicht  mehr 
zurechtkommen,  er  beging  wenige  Jahre  nach  seiner  Rettung  aus  dem  Lager  Selbstmord,  Wir 
standen  auf  dem  Wachturm  von  Birkenau  und  überschauten  das  ganze  Lager.  Hier  allein  waren 
3 Millionen  Menschen  systematisch  umgebracht  worden. 


AUSCHWITZ 

Kalt  und  trüb  ist  noch  der  Morgen, 
Männer  gehn  zur  Arbeit  hin. 
Schwer  von  Leid,  gedrückt  von  Sorgen, 
Fern  der  Zeit,  da  sie  geborgen. 
Langsam  wandern  sie  dahin. 

Aber  jene  Männer  dort 
Bald  nicht  mehr  die  Sonne  sehn. 
Freiheit  nahm  man  ihnen  fort. 
Welch  ein  grauenvoller  Mord, 

Dem  sie  still  entgegen  gehn. 

Täglich  hinter  den  Baracken 
Seh  ich  Rauch  und  Feuer  stehn. 

Jude,  beuge  deinen  Nacken, 
Keiner  hier  kann  dem  entgehn. 
Siehst  du  in  dem  Rauche  nicht 
Ein  verzerrtes  Angesicht? 

Ruft  es  nicht  voll  Spott  und  Hohn: 
Fünf  Millionen  berg'  ich  schon! 
Auschwitz  liegt  in  meiner  Hand, 
Alles,  alles  wird  verbrannt. 

Täglich  hinterm  Stacheldraht 
Steigt  die  Sonne  purpurn  auf. 
Doch  ihr  Licht  wird  öd  und  fad. 
Bricht  die  andre  Flamme  auf. 

Denn  das  warme  Lebenslicht 
Gilt  in  Auschwitz  längst  schon  nicht. 
Blick  zur  roten  Flamme  hin: 

Einzig  wahr  ist  der  Kamin. 
Auschwitz  liegt  in  seiner  Hand, 
Alles,  alles  wird  verbrannt. 

(Ruth  Klüger)  (9) 


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„Das  erste  was  man  empfand,  als  man  aus  dem  Zug  stieg,  war  der  beißende  Geruch  und  die 
ätzende,  dicke  - mit  gelblichem  Rauch  geschwängerte  - Luft“.  (10)  So  beschrieb  Ruth  Klüger 
ihren  ersten  Eindruck  von  Birkenau,  den  sie  als  Kind  erlebte  und  bis  heute  nicht  vergessen 
kann.  Bis  auf  den  heutigen  Tag  nicht  in  der  Lage  ist,  gebratenes  Fleisch  zu  riechen  oder  zu 
essen. 

Wir  besuchten  nur  die  ersten  Holzbaracken,  in  denen  die  Häftlinge  zu  hunderten  auf 
Holzpritschen  gelegen  hatten,  und  die  nur  mit  etwas  Stroh  aufgefüllt  waren.  Oft  waren  sie 
unter  dem  Gewicht  der  vielen  Menschen  zusammengebrochen. Toiletten  gab  es  in  Form  von 
langen  Gestellen  mit  Löchern,  ca.  50  Frauen  (oder  mehr)  mussten  gleichzeitig  ihre  Notdurft 
im  Eiltempo  verrichten.  Es  gab  weder  Papier  noch  Seife,  selbstverständlich  auch  keine 
Hygienebinden  für  Frauen  während  der  Menstruation,  falls  sie  die  überhaupt  noch  bekamen. 
Dadurch,  dass  sie  ständig  am  Rande  des  Verhungerns  waren,  blieb  die  Regel  bald  aus.  Typhus 
und  Kolibakterien  breiteten  sich  in  rasender  Geschwindigkeit  aus,  denn  um  die  Hygiene  war 
es  katastrophal  bestellt.  Ungeziefer  wie  Läuse,  Wanzen  und  Flöhe  hatten  freien  Eintritt  und 
seGten  sich  mit  Genuss  an  Mensch  und  Holz  fest.  Man  muss  sich  außerdem  vorstellen,  wie 
bitterkalt  es  im  Winter  und  wie  brütend  heiß  es  im  Sommer  in  den  Holzverschlägen  war.  Das 
waren  die  grauenhaften  äußeren  Umstände,  aber  sie  mussten  auch  Erniedrigungen, 
Demütigungen,  Spott  und  Schläge  über  sich  ergehen  lassen. 

Als  uns  nun  ein  ehemaliger  Häftling  durch  das  Lager  führte,  uns  die  Funktionen  der  einzelnen 
Holzhäuser  erklärte  und  von  den  Gepflogenheiten  der  SS-Schergen  erzählte,  schrie  eine  Frau 
aus  unserer  Gruppe  auf.  Obwohl  sie  vorher  nur  Englisch  geredet  hatte,  quollen  ihr  un- 
kontrolliert die  deutschen  Worte  aus  dem  Mund,  sie  schrie,  sie  war  verzweifelt,  sie  war  außer 
sich.  Plötzlich  müssen  schreckliche  Erinnerungen  in  ihr  wach  geworden  sein,  sie  konnte  sich 
kaum  beruhigen.  Gerne  hätte  ich  mit  ihr  geredet,  sie  getröstet  und  von  ihren  jammervollen 
Erinnerungen  mehr  erfahren.  Aber  ich  blieb  wie  versteinert  stehen.  Ich  wollte  sie  mit  meinen 
Fragen  nicht  noch  mehr  quälen.  Der  alte  Herr  mit  dem  weißen  Bart  kam  aus  einer  ganz 
anderen  Ecke  zurück  in  den  Bus  und  seGte  sich  an  seinen  alten  PlaG  in  der  hinteren  Reihe. 
Er  konnte  es  wohl  in  der  Gruppe  nicht  aushalten,  er  wollte  lieber  still  für  sich  und  ganz 
alleine  dieses  furchtbare  Trauma  noch  einmal  durchdenken.  Selbst  nach  einer  halben  Stunde 
konnte  sich  die  amerikanische  Jüdin  nicht  beruhigen.  Sie  muss  damals  noch  ein  Kind  gewesen 
sein,  höchstens  zehn  oder  zwölf  Jahre  alt.  Sie  redete  immer  wieder  mit  sich  selbst,  dass  sie  nie 
hätte  hierher  zurückkommen  dürfen.  Zu  den  Deutschen  im  Bus  bekamen  wir  keinen  Kontakt, 
sie  wirkten  recht  arrogant,  aber  vielleicht  meinten  sie  das  gleiche  von  uns. 

WARSCHAU 

Auf  unserem  Programm  stand  für  den  nächsten  Morgen  Warschau.  Wir  standen  an  diesem 
herrlichen  Sommersonntagmorgen  schon  früh  am  Bahnhof,  der  Zug  fuhr  pünktlich  ein.  Die 
Eindrücke  von  Auschwitz  und  Birkenau  hatten  unsere  Stimmung  sehr  bedrückt,  so  hing  jede 
ihren  Gedanken  nach.  Ich  schloss  die  Augen,  horchte  auf  das  Rattern  der  Räder.  Der  Zug  hatte 
an  Geschwindigkeit  zugenommen.  Ich  dachte  an  die  verzweifelten  Menschen,  die  damals  in 
umgekehrte  Richtung  fuhren  - von  Warschau  nach  AuschwiG...  Und  wie  sie  in  den  geschlos- 
senen Viehwaggons  kaum  Luft  bekamen,  und  dies  bei  einer  Hitze  von  über  30  Grad,  wie  heute. 
Sie  müssen  fürchterlichen  Durst  verspürt  haben,  den  sie  nicht  stillen  konnten.  Da  es  keine 
Toiletten  gab,  mussten  sie  ihre  Notdurft  dort  verrichten,  wo  sie  gerade  standen.  Und  jedes 


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Mal  beim  Einfahren  in  irgendeinen  Bahnhof,  als  der  Zug  langsamer  und  der  Rhythmus  des 
Ratterns  länger  brauchte,  mag  die  Hoffnung  der  Eingesperrten  gewachsen  sein,  bald  aus  ihren 
Käfigen  befreit  zu  werden.  Die  Fahrt  ging  jedoch  erbarmungslos  weiter.  Ich  dachte  an  die 
vielen  Juden,  die  ich  im  Laufe  meines  Lebens  in  den  verschiedensten  Winkeln  der  Erde 
kennen  gelernt  hatte.  Alle  verband  sie  das  gleiche  Schicksal,  sie  alle  hatten  Verwandte,  Freunde 
und  Bekannte  verloren.  Mir  fiel  die  alte  Dame  in  einem  Bus  von  London  ein,  als  ich  sie  nach 
einer  bestimmten  Haltestelle  fragte.  Sie  erklärte  mir  bereitwillig  mit  starkem  Deutschen 
Akzent,  wie  viele  Haltestellen  ich  noch  vor  mir  hatte.  Auf  meine  Frage,  ob  sie  Deutsche  sei, 
stand  sie  spontan  von  ihrem  Sitz  auf  und  verließ  unter  Murmeln,  dass  sie  ihren  fürchterlichen 
Akzent  wohl  nie  los  würde,  den  Bus.  Sie  wollte  sich  auf  keinen  Fall  länger  mit  mir  unterhalten. 

Vor  meiner  Ehe  habe  ich  in  Johannesburg  gelebt.  Dort  hatte  ich  eine  jüdische  Kollegin 
(Mrs.  Markus),  die  mit  ihrer  Familie  noch  rechtzeitig  dem  Naziterror  entfliehen  konnte.  Leider 
konnte  ihr  Mann  die  Freiheit  in  Süd  Afrika  nicht  lange  genießen,  er  starb  kurze  Zeit  später  an 
einem  Herzinfarkt.  So  war  seine  Frau,  die  vorher  nie  berufstätig  war,  gezwungen,  sich  eine 
Arbeit  zu  suchen,  damit  sie  die  Kinder  und  sich  selbst  ernähren  konnte.  Sie  war  mir  gegen- 
über immer  nett  und  hilfsbereit,  zog  es  aber  vor.  Englisch  mit  mir  zu  sprechen.  Nie  hat  sie  mich 
zu  sich  nach  Hause  eingeladen. 

Später  lernte  ich  Eleonor  Sella  auf  der  Karibik-Insel  Puerto  Rico  kennen.  Unsere  beiden 
Männer  wurden  dorthin  als  „Expatriates“  von  ihren  jeweiligen  Firmen  eingesetzt.  Während 
mein  Mann  ganz  Lateinamerika  bereiste,  war  der  Agraringenieur  Eytan  Sella  mit  neuen 
Pflanzungen  von  Obst  und  Gemüse  betraut.  Unsere  Töchter  besuchten  dieselbe  Schule,  Karin 
und  Natalie  sogar  in  dieselbe  Klasse.  In  den  fünf  Jahren  unseres  Aufenthaltes  freundeten  sich 
die  beiden  Mädchen  sehr  an.  So  lernten  wir  auch  ihre  Eltern  kennen.  Nach  vielen  Begegnungen 
und  Gesprächen  erfuhren  wir  vom  Schicksal  von  Karins  Großmutter,  einer  polnischen  Jüdin, 
die  ihren  KZ-Aufenthalt  nur  durch  viel  Glück  überlebte  und  später  nach  Israel  übersiedeln 
konnte.  Nachdem  sie  im  Laufe  ihres  Lebens  ihre  Schreckensvisionen  aus  der  Zeit  im  Lager  an 
ihre  Kinder  und  Enkel  weitergab,  waren  die  verständlicherweise  jedem  Deutschen  gegenüber 
skeptisch.  Trotzdem  behandelte  Eleonor  mich  freundschaftlich.  Mir  machten  die  vielen 
Gespräche  mit  der  quicklebendigen  und  mitten  im  Leben  stehenden  Frau  sehr  viel  Vergnügen. 
Ich  hätte  damals  gerne  mehr  und  intensiveren  Kontakt  zur  ganzen  Familie  gehabt.  Wir 
planten  auch  gemeinsame  Restaurantbesuche,  die  sich  seltsamerweise  nie  verwirklichten.  In 
fünf  Jahren  ist  es  uns  kein  einziges  Mal  gelungen,  gemeinsam  mit  der  Familie  etwas  zu  unter- 
nehmen oder  sie  zu  uns  nach  Hause  einzuladen.  Zwar  schätzte  Eleonor  meine  Backkünste, 
trank  auch  gerne  einen  Kaffee,  wenn  sie  ihre  Tochter  bei  uns  abholte,  nahm  gerne  und 
dankbar  mein  braunes,  selbstgebackenes  Brot  mit  nach  Hause,  aber  zu  einem  näheren  Kontakt 
konnten  sich  Sella's  nicht  entschließen.  Die  Wunden  saßen  zu  tief,  der  Schmerz  über  den 
Verlust  lieber  Angehöriger  war  zu  groß.  Wir  akzeptierten  das. 

Es  gab  viele  jüdische  Familien  in  San  Juan  de  Puerto  Rico.  Eines  Tages  feierte  Grant,  ein 
Mitschüler  aus  Karins  und  Natalies  Klasse,  seine  Bar-Mitzwah  (religiöses  Ritual  1 3 jähriger 
Jungen).  Alle  Schulkameraden  waren  zu  diesem  wichtigen  Ereignis  eingeladen.  Die  Mädchen 
diskutierten  noch  eifrig,  was  sie  zu  dieser  Festlichkeit  anziehen  sollten,  als  wir  - mein  Mann 
und  ich  - überraschenderweise  eine  Einladung  für  die  Feier  in  der  Synagoge  bekamen.  Ich  war 
aufgeregt:  nie  zuvor  hatte  ich  eine  Synagoge  betreten  und  hätte  immer  gern  mehr  über  die 
jüdischen  Feierlichkeiten  gewusst.  Aber  plötzlich  spürte  ich  einen  Druck  im  Magen:  Konnte 
man  als  Deutsche  in  ein  jüdisches  Gotteshaus  gehen?  Am  besagten  Termin  war  mein  Mann  auf 


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einer  Geschäftsreise,  und  mir  war  bei  dem  Gedanken,  alleine  in  die  Synagoge  zu  gehen,  nicht 
wohl.  Zum  Glück  war  Eleonor  auch  eingeladen.  So  machten  wir  uns  mit  unseren  Kindern 
gemeinsam  auf  den  Weg  zur  feierlichen  Zeremonie.  In  der  Synagoge  hatten  die  Kinder  und 
Jugendlichen  einen  gemeinsamen  Platz.  Ich  verkroch  mich  mit  Eleonor  in  die  hinterste  Ecke, 
aber  auch  dort  verfolgte  mich  mein  schlechtes  Gewissen.  Alte  Männer  in  schwarzen  Roben 
und  langen  weißen  Bärten  begrüßten  mich  auf  das  herzlichste  mit  ihrem  „Shabbat  Shalom“, 
mit  dem  ich  überhaupt  nichts  anzufangen  wusste.  Meine  jüdische  Begleiterin  ließen  sie  links 
liegen.  Ausgerechnet  mich,  eine  Tochter  von  Mördern  und  Verbrechern,  begrüßten  sie  per 
Handschlag.  Während  der  dreistündigen  feierlichen  Handlung  wütete  in  mir  ein  ungeheurer 
Sturm  an  Gefühlen:  Sollte  ich  aufspringen  und  mich  als  Nachfahre  von  grausamen  Straftätern 
zu  erkennen  geben,  mich  vielleicht  hier  in  aller  Öffentlichkeit  entschuldigen?  Ich  saß  da  wie 
versteinert.  Äußerlich  gelassen  ging  ich  nach  den  Feierlichkeiten  zum  festlich  geschmückten 
Buffet.  Dort  begrüßte  mich  meine  Gynäkologin,  unser  Zahnarzt  machte  seine  Aufwartung, 
vieler  mir  bekannter  Personen  hatten  an  dieser  Bar-Mitzwah  teilgenommen. 

Eine  andere  sehr  wertvolle  Erfahrung  machten  wir,  als  derVater  einer  Klassenkameradin  starb. 
Wir  waren  alle  sehr  bedrückt  und  traurig,  dass  Berti  ihren  Vater  so  früh  verlor.  Ich  sträubte 
mich,  die  Witwe  in  ihrem  Schmerz  mit  meiner  Gegenwart  zu  behelligen.  Man  klärte  mich  auf, 
dass  es  zu  den  Pflichten  eines  guten  Juden  gehört,  die  vor  Kummer  und  Leid  erstickenden 
Überlebenden  in  ihrem  Seelenschmerz  nicht  allein  zu  lassen.  Um  Trauernde  kümmert  man 
sich  fünf  Tage  und  Nächte.  Ständig  müssen  Freunde  und  Verwandte  zugegen  sein,  und  indem 
der  oder  die  Hinterbliebene  redet  oder  weint,  den  Hergang  des  Sterbens  so  oft  wie  möglich 
schildert,  befreit  und  entledigt  er  oder  sie  sich  von  der  Pein.  Ich  ließ  mich  zu  einem  Besuch 
überreden,  und  wieder  gemeinsam  mit  den  Kindern  gingen  wir  in  das  Haus  des  Verstorbenen. 
Und  ich  glaube,  sie  haben  Recht,  die  Juden.  Während  wir  uns  von  den  Trauernden  abwenden, 
uns  zurückziehen,  aus  falschem  Schamgefühl  heraus  - oder  einfach,  weil  wir  den  Tod  ver- 
drängen, lassen  wir  die  Hinterbliebenen  in  ihrem  Leid  alleine,  obwohl  sie  gerade  jetzt  der  Hilfe 
bedürfen.  Zwar  kann  der  Schmerz  über  den  Verlust  einer  verstorbenen  Person  nicht  getilgt 
oder  vertrieben  - aber  er  kann  gelindert  werden. 

Leo  hatte  Glück  gehabt.  Noch  bevor  der  Zweite  Weltkrieg  begann,  setzte  sich  seine  Familie 
in  die  Vereinigten  Staaten  ab.  Wir  lernten  Ihn  in  den  80er  Jahren  kennen,  als  er  wegen 
Geschäftsangelegenheiten  bei  uns  anrief.  Leider  musste  ich  ihn  mehrmals  vertrösten,  da  mein 
Mann  ständig  auf  Reisen  war.  Bei  jedem  Gespräch  fiel  mir  sein  Akzent  auf.  Meine  Tochter 
meinte,  er  rede  das  typische  New  Yorker-Englisch;  ich  war  anderer  Meinung.  Später,  als  wir  ihn 
näher  kennen  lernten,  stellte  sich  heraus,  dass  wir  beide  aus  derselben  Stadt  kommen.  Obwohl 
er  bereits  als  Kind,  mit  13  Jahren,  Deutschland  verließ,  hat  er  in  über  50  Jahren  seinen 
rheinischen  Dialekt  nicht  verloren.  Das  trifft  auch  für  seine  Frau  Lore  zu,  die  ab  und  zu  noch 
in  einen  herrlichen  Badener  Akzent  verfällt. 

An  all  diese  Menschen,  an  diejenigen,  die  heute  noch  unsere  Freunde  sind,  an  alle  die,  die  im 
KZ  umkamen  und  an  diejenigen,  die  das  KZ  überlebten,  dachte  ich,  als  wir  mit  dem  Zug  von 
Krakau  nach  Warschau  unterwegs  waren.  Der  Zug  lief  pünktlich  in  Warschau  auf  dem 
„Centralny“-Bahnhof  ein.  Dort  erwarteten  uns  bereits  unsere  englischen  Freunde,  mit  denen 
wir  fünf  Jahre  lang  in  Madrid  Tür  an  Tür  gewohnt  hatten. 

Auch  in  Warschau  wollten  wir  der  Vergangenheit  auf  den  Fersen  bleiben.  In  der  Altstadt 
besuchten  wir  das  Heimatmuseum,  das  direkt  am  Marktplatz  liegt.  Hier  konnte  man  sich  in 
einem  Vorkriegsfilm  vom  Glanz  und  Schönheit,  vom  kulturellen  Reichtum  und  von  der 


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einstmaligen  Eleganz  Warschaus  selbst  überzeugen.  Was  nicht  im  Bombenhagel  unterging,  ver- 
wüsteten die  Nazis  in  akribischer  Kleinarbeit  im  Sommer  44. Warschau  war  zu  95  % zerstört. 

Die  Altstadt  und  das  Schloss  wurden  nach  dem  Krieg  wieder  nach  den  alten 
Architekturplänen  aufgebaut. Auf  dem  Platz  an  derTlomackie  Straße  (ul.  - ulicia  = Straße),  wo 
einst  die  Synagoge  stand,  befindet  sich  heute  ein  moderner  Glaspalast. 

Nichts  erinnert  mehr  an  alte  jüdische  Tradition  und  Gläubigkeit.  Auf  der  gegenüberliegenden 
Seite  der  ehemaligen  Synagoge  befindet  sich  das  jüdische  Museum,  in  dem  wir  uns  eingehendst 
umschauten.  Einer  jüdisch-amerikanischen  Gruppe  wurde  jedes  Detail  genau  erklärt. 

Tief  beeindruckt  und  gleichzeitig  entsetzt  über  so  viel  menschliche  Rohheit  waren  wir  vom 
„Gestapohauptquartier“  in  der  Szucha  Strasse,  damals  das  einzige  Gebäude,  das  von  der 
Zerstörung  verschont  blieb.  Heute  ist  unter  anderem  das  Bildungsministerium  in  diesem  Bau 
untergebracht.  Die  Kellerräume,  in  denen  damals  die  Häftlinge  gefoltert  und  gequält  wurden, 
sind  heute  noch  zu  besichtigen.  Uns  jagte  es  noch  die  kalten  Schauer  über  den  Rücken,  als  wir 
lasen  und  auch  sahen,  welch  grausame  „Spiele“  mit  den  Inhaftierten  getrieben  wurden.  Alle, 
die  die  Gestapo  für  Agenten  und  Spitzel,  also  für  Staats-  und  Volksfeindlich  hielt,  wurden  von 
SS-Männern  barbarisch  im  „Reichsicherheitshauptamt“  zugerichtet  und  auf  brutalste  Weise 
traktiert.  Trotz  der  brachialen  Gewalt  haben  manche  Menschen  Wochen  oder  auch  Monate 
diese  Folter  überlebt.  Unmenschlich  muss  es  auch  im  „Zug“  zugegangen  sein.  Dort  saßen  die 
„Straftäter“  tagelang  hintereinander  auf  Stühlen  und  mussten  die  Wand  anstarren,  sie  durften 
weder  einschlafen,  miteinander  reden,  noch  sich  bewegen.  Bei  Zuwiderhandlung  hagelte  es 
Repressalien.  An  den  Zellenwänden  konnte  man  noch  die  mit  dem  Fingernagel  eingeritzten 
verzweifelten  Inschriften  erkennen.  Eine  junge  Frau  schrieb: 

„Es  ist  leicht  über  Polen  zu  reden 
schwer  dafür  zu  arbeiten 
es  ist  hart  zu  sterben 

aber  am  schwersten  ist  es  zu  leiden“.  (II) 

Dies  war  der  letzte  händeringende  Aufschrei  einer  21jährigen,  die  noch  ein  ganzes  Leben  vor 
sich  gehabt  hätte. 

In  der  Schreibstube  spürten  wir  förmlich  noch  die  Nazi-Knute.  Hier  blickten  die  starren 
Augen  des  „Führers“  auf  uns  herab.  Eine  alte  Schreibmaschine  stand  einsatzbereit  auf  dem 
Schreibtisch,  der  lange  SS-Mantel  hing  an  der  Garderobe,  und  die  Peitsche  lag  zum  Gemetzel 
bereit. 

Viele,  die  im  Gestapohauptquartier  gefoltert  wurden,  schickte  man  anschließend  ins  Pawiak 
Gefängnis.  Dies  war  ebenfalls  ein  gefürchteter  Ort,  wo  die  Insassen  keineswegs  vor 
Menschenschlächtern  verschont  blieben.  Das  Pawiak  Gefängnis  gehört  mit  zu  den  dunkelsten 
Kapiteln  Warschaus.  Es  ist  als  Museumsstätte  eingerichtet,  war  aber  in  diesem  Sommer  wegen 
Renovierung  geschlossen. 

Vom  Warschauer  Ghetto  ist  heute  nichts  mehr  auszumachen.  An  diesem  historischen  Ort  ste- 
hen heute  Plattenbauten.  Sie  lassen  vergessen,  dass  hier  einstmals  tausende  von  jüdischen 
Menschen  lebten,  die  später  - wenn  sie  nicht  verhungert  sind  - verschleppt  und  ermordet 
wurden. 


28 


Nachdem  das  Warschauer  Ghetto  im  Sommer  1 940  errichtet  wurde,  wohnten  bereits  ein  Jahr 
später  fast  eine  halbe  Million  Juden  hier,  die  aus  allen  Richtungen  Polens  zusammengetrieben 
wurden.  Durchschnittlich  sechs  Menschen  lebten  zusammengepfercht  in  einem  Raum.  Die 
Ernährung  war  katastrophal,  die  tägliche  Lebensmittelration  lag  unter  dem  Existenzminimum 
und  Tausende  von  Juden  starben  an  Unterernährung.  Da  das  Elend  1942  immer  größer  wurde, 
schlossen  sich  die  Juden  des  Warschauer  Ghettos  zu  einer  Widerstandsorganisation  zusam- 
men, der  es  gelungen  war, Waffen  und  Munition  in  das  Ghetto  zu  schmuggeln.  Sie  wehrten  sich 
gegen  die  unzumutbaren  Lebensbedingungen  und  gegen  die  seit  dem  20.  Juli  1 942  erfolgten 
Transporte  in  die  Vernichtungslager,  die  zunächst  nur  die  Arbeitsunfähigen,  später  willkürlich 
Ausgewählte  trafen. 

Nach  dem  bewaffneten  Aufstand  vom  18.  Januar  1943,  befahl  Heinrich  Himmler  am 
16.  Februar  das  Ghetto  mit  Waffengewalt  zu  räumen  und  völlig  zu  zerstören.  „Dieser 
Ausrottungsaktion  setzten  die  Juden  einen  verzweifelten  Widerstand  entgegen,  den  die 
deutschen  Truppen  erst  nach  einem  Monat  durch  die  systematische  Zerstörung  der  einzelnen 
Stadtviertel  haben  brechen  können“.  (12) 

„Es  gab  ein  letztes  Aufbäumen  der  halb  verhungerten  und  trotzdem  wild  entschlossenen  und 
um  ihr  Leben  kämpfenden  Juden,  dann  endete  der  Aufstand  mit  der  vollständigen 
Niederbrennung  und  Zerstörung  des  Ghettos  durch  die  Einheiten  der  SS  und  der  deutschen 
Polizei.  Bei  der  rücksichts-  und  erbarmungslosen  Vorgehensweise  gegen  die  sich  verzweifelt 
wehrenden  Juden  kommen  im  Frühjahr  1943  60.000  ums  Leben“.  (12a) 

Martin  Gray  (13)  beschreibt  in  seinem  Buch  „Der  Schrei  nach  Leben“  („die  Geschichte  eines 
Mannes,  der  die  Unmenschlichkeit  besiegte,  weil  er  an  die  Menschlichkeit  glaubte“)  wie  er  in 
dieser  Region  Warschaus  aufwuchs,  gelebt,  geliebt,  gelitten  hat.  Er  setzte  sein  junges  Leben  aufs 
Spiel,  als  man  diese  Zone  zumauerte  und  er  Lebensmittel,  Medizin  und  Waffen  ins  Ghetto 
schmuggelte,  damit  die  an  Hunger  leidenden  und  kranken  Menschen  eine  Überlebenschance 
hatten.  Seine  Schilderungen  muten  mehr  wie  ein  Kriminalroman  an  - oder  die  Tat  eines 
Lebensmüden!  Es  muss  der  helle  Wahnsinn  gewesen  sein,  ständig  unerlaubt  und  unter 
Lebensgefahr  das  Ghetto  zu  verlassen  und  anderen  Menschen  zu  helfen.  An  den  ehemaligen 
„Umschlagplatz“  erinnert  heute  nur  noch  eine  helle  Marmorwand.  In  der  Zamenhofstraße  - 
auf  einem  kleinen  Platz  - gibt  es  dann  noch  das  gewaltige  Denkmal,  das  zur  Erinnerung  an  die 
400.000  ermordeter  Juden  des  Warschauer  Ghettos  übrig  geblieben  ist. 

Wir  haben  uns  in  diesem  heißen  Sommer  nicht  nur  mit  den  dunkelsten  Seiten  unserer 
Vergangenheit  beschäftigt,  es  gab  auch  viele  Lichtblicke.  Die  herrlichen  Schlösser  und  Parks 
boten  uns  Erholung.  Wir  besichtigten  Kirchen  und  Königspaläste,  besuchten  den  Laziensky- 
Park  mit  dem  glanzvollen  Schloss,  eingebettet  in  einen  See.  Wir  kamen  am  Frederik  Chopin- 
Monument  vorbei  und  genossen  die  schatten  spendenden  Bäume.  Wie  schon  so  oft  vorher 
gelesen:  der  Sommer-Himmel  über  Polen  ist  tatsächlich  weiß!  Wir  legten  auch  einen 
Einkaufsnachmittag  an  der  „Nowy  Swiat“  (neue  Welt)  Strasse  ein  und  stürzten  uns  mit  den 
Einheimischen  in  das  Gewühl  der  Geschäfte.  Auch  das  Wohnhaus  der  legendären  Marie  Curie 
besichtigten  wir.  Da  der  „Wilanow-Park“  nur  eine  kurze  Wegstrecke  von  dem  Haus  unserer 
Freunde  entfernt  lag,  besuchten  wir  ihn  öfter.  Wir  erfreuten  uns  an  den  schönen  hellen 
Räumen  des  Palastes,  bestaunten  die  kunstvoll  geschmiedeten  Drachen  am  Ende  einer  jeden 
Dachrinne  und  genossen  den  Blick  aus  den  geöffneten  Fenstern  in  den  gepflegten  Park. 
Manchmal  suchten  wir  abends  noch  Abkühlung  im  Wilanow  Park  und  beobachteten 
Menschen,  die  sich  von  der  Schwüle  des  Tages  in  nicht  allzu  klaren  Seen  erfrischten. 

29 


Wir  erfuhren  von  den  Einheimischen,  dass  die  Nazis  versucht  hatten  auch  dieses  schöne 
Bauwerk  zu  zerstören,  denn  man  fand  nach  dem  Krieg  Sprengsätze  im  Mauerwerk,  die  wohl 
aus  Zeitmangel  nicht  gezündet  wurden, 

LUBLIN 

Dann  setzten  wir  unsere  Reise  in  die  Vergangenheit  fort.  In  Warschau  nahmen  wir  den  Acht- 
Uhr-Zug  nach  Lublin.  Dieses  Mal  fuhr  der  Zug  über  die  Weichsel  zum  Warschauer- Stadtteil 
Praga.  Hier  also  - jenseits  des  Flusses  - hatte  die  sowjetische  Armee  im  Sommer  1944 
gelegen  und  zugesehen,  wie  die  Deutschen  Soldaten  die  Stadt  Warschau  systematisch 
zerstörten...  Einige  Kinder  und  Jugendliche  badeten  im  trüben  Fluss  in  Ermangelung  an 
Schwimmbädern.  Die  gut  dreistündige  Fahrt  verlief  friedlich  an  endlosen  Wäldern,  kleinen 
Seen  und  alten  Bauernhöfen  vorbei.  Lublin  war  fast  eine  andere  Welt.  Wir  hatten  den 
Eindruck,  als  seien  wir  schon  über  die  Grenze  nach  Russland  gefahren,  und  all  zu  viele 
Kilometer  waren  es  auch  tatsächlich  nicht  mehr  bis  dorthin.  Die  Leute  am  Bahnhof  sahen 
ärmlich,  fast  „abgerissen“  aus.  Lublin  ist  eine  der  östlichsten  Groß-Städte  Polens,  eine 
Industriestadt,  die  den  Wandel  zu  einem  etwas  besseren  Lebensstandard  noch  nicht  geschafft 
hatte.  Majdanek  war  unser  nächstes  Ziel.  Vom  Bahnhof  aus  fuhren  wir  mit  dem  Taxi  zu  dem 
etwa  fünf  Kilometer  entfernt  liegenden  ehemaligen  Konzentrationslager.  Im  Jahr  zuvor  hatte 
ich  diesem  ehemaligen  Lager  einen  Besuch  abgestattet.  Da  mich  dieser  Ort  hier  tief  beein- 
druckt hatte,  wollte  ich  ihn  meiner  Tochter  zeigen.  Im  vergangenen  Jahr  hatte  ich  kein 
Fotomaterial  dabei  und  auf  der  Suche  nach  Literatur  und  Fotos  wurde  ich  auch  nicht  fündig. 
Heute  war  ich  mit  allem  bestens  ausgestattet.  Majdanek  liegt  zu  sehr  abseits,  als  dass  sich  viele 
Besucher  hierher  verirren  würden.  Keine  Busse,  nur  drei  bis  vier  Autos  standen  verloren  auf 
dem  riesigen  Parkplatzgelände.  Die  wenigen  Besucher  verloren  sich  auf  dem  weitläufigen 
Areal.  Am  Eingang  kann  der  Besucher  ein  großes,  massives  Monument  betrachten,  das 
„Ehrenmal  des  Kampfes  und  Martyriums,  Symbol  der  Tragik,  der  Hoffnung  und  des  Sieges“. 

Von  einer  bestimmten  Stelle  der  Chaussee  Lublin-Zamosc  aus,  kann  man  durch  die  Öffnung 
des  Denkmals  den  „Mausoleums-Tempel“  auf  dem  Hügel  in  etwa  einem  Kilometer  Entfernung 
sehen.  Dort  ruht  die  restliche  Asche  der  verbrannten  Häftlinge,  die  man  nach  der  Befreiung 
noch  vorfand.Wir  besichtigten  die  Baracken.Wir  betraten  die  „Duschräume“  und  sahen  noch 
gestapelte  Bestände  von  „Zyklon  B“.  „Aus  den  erhaltenen,  unvollständigen  Dokumenten  geht 
hervor,  das  die  internationale  Gesellschaft  für  Schädlingsbekämpfung,  kurz  „Testa“  genannt, 
von  Oktober  1 942  bis  zum  Sommer  1 944  7.7 1 I kg  Gift  geliefert  hat"  (14)  In  einer  anderen 
Baracke  türmte  sich  - hinter  einem  großmaschigen  Drahtgeflecht  aufbewahrt  - Menschenhaar, 
dass  von  tausenden  Häftlingsköpfen  stammte,  die  bei  der  Ankunft  gleich  geschoren  wurden. 
„Oswald  Pohl  teilte  den  KZ-Kommandanten  in  einem  Geheimbefehl  vom  6.  August  1942  mit, 
dass  Menschenhaar  zu  Filz  verarbeitet  werde.  Aus  dem  ausgekämmten  und  geschnittenen 
Frauenhaar  werde  Garn  gesponnen  und  zu  Socken  für  U-Boot  Besatzungen  und  zu 
Filzstrümpfen  für  Eisenbahner  verarbeitet“,  (15) 

In  der  nächsten  Holzbaracke  waren  die  Schuhe  der  Gefangenen  hinter  einem  Drahtgitter 
gestapelt.  Hier  lagen  sie,  die  kleinen  Grazilen,  die  Mittelgroßen  und  die  Übergrößen.  Schmale 
Treter  und  breite  Latschen,  die  einstmals  hellen  und  die  dunklen  Schuhe,  alle  mehr  oder 
minder  verschlissen  und  durcheinander  geworfen.  Auch  wenn  ihre  Besitzer  schon  lange  nicht 
mehr  lebten,  so  war  der  Geruch  von  Leder  und  Schweiß  an  ihnen  haften  geblieben  und  schlug 


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uns  bei  der  Hitze  erbarmungslos  ins  Gesicht.  Wie  schon  vor  einem  Jahr  verspürte  ich  einen 
Druck  in  der  Magengrube.es  würgte  mich.  Erbrechen  wäre  eine  Erleichterung  gewesen,  diese 
Übelkeit  hielt  noch  über  Stunden  an.  Ich  dachte,  man  könnte  sich  bei  mehrmaligen  Besuchen 
abhärten,  womöglich  abstumpfen,  aber  der  Schmerz  und  die  Trauer  über  so  viele  sinnlose 
Morde  blieben.  Es  revoltierte  in  mir  - und  so  gewannen  Übelkeit,  Schmerz,  Pein,  Betrübnis  und 
Verzweiflung  die  Übermacht.  Ich  ließ  sie  gewähren! 

Die  Holzverschläge  mit  den  Pritschen  waren  noch  mit  Stroh  und  alten  Stoff-Fetzen  bestückt. 
Vögel  nisteten  nun  darin  und  hatten  es  sich  bequem  gemacht.  Im  vergangenen  Jahr  hatte  uns 
ein  Wärter  in  den  hinteren  Teil  des  Schlaftraktes  geführt.  Wir  stiegen  auch  jetzt  über  die 
hölzernen  Ballustraden,  beeilten  uns,  damit  die  morschen  Bretter  unter  unserem  Gewicht 
nicht  zusammenbrachen.  Wir  hasteten  unerlaubterweise  durch  die  Baracke  Nr.  15  und 
besichtigten  die  ehemaligen  Waschgelegenheiten  der  hier  gefangengehaltenen  Geschöpfe;  wie 
riesige  Steintröge  sahen  sie  aus.  Hier  mussten  sich  Menschen  säubern,  die  verschwitzt  von 
einem  15-stündigen  Arbeitstag  kamen  oder  die  stundenlang  beim  Appell  (zur 
„Stärkemeldung“)  im  Morast  gestanden  hatten.  In  den  Schlafbaracken  hausten  manchmal  bis 
zu  tausend  Leute,  die  sich  alle  in  einem  winzigen  Waschraum  reinigten,  um  nicht  noch  mehr 
Ungeziefer  oder  Krankheiten  zu  bekommen.  Hier  kühlten  sie  ihre  Wunden,  und  hier  konnten 
sie  womöglich  zusätzlich  noch  etwas  trinken.  „Das  Lubliner  Konzentrationslager,  eines  der 
zuletzt  errichteten  großen  Lager,  wurde  nie  fertig  gestellt.  Die  primitiven,  überbelegten 
Holzbaracken  - ohne  die  elementarsten  Einrichtungen  - und  die  ständig  eintreffenden 
Häftlingsmassen  bewirkten,  dass  die  Unterbringungsverhältnisse  menschenunwürdig  waren“. 
(16)  Ursprünglich  waren  diese  Holzverschläge  für  250  Häftlinge  vorgesehen,  aber  dann 
mussten  sich  500,  800  und  manchmal  1 .000  Lagerinsassen  ihre  Unterkunft  teilen,  die  weder 
vor  Nässe  schützte,  noch  im  Sommer  die  Hitze  abhielt.  Im  Waschraum  befanden  sich  - außer 
den  Steintrögen  - ebenfalls  ca.  zehn  braune  Tonrohre,  die  aus  dem  Boden  ragten.  Sie  dienten 
den  müden,  kranken  und  ausgelaugten  Menschen  als  Toilette.  Privatsphäre  gab  es  nicht. 

Grausamer  Höhepunkt  war  das  Krematorium.  Zwei  Reihen  von  jeweils  sechs  Öfen  sorgten 
für  „schnelle  und  effiziente“  Verbrennung.  Waren  doch  deutsche  Experten  für  hohe 
Temperaturen,  guten  Luftabzug  und  für  „schnelle  Entsorgung“  verantwortlich.  „Eine 
Verbrennungsstelle  fasste  zwei  bis  fünf  Leichen.  Die  Kapazität  eines  Ofens  betrug  etwa  1 00 
Leichen  pro  Tag  bei  pausenloser  Verbrennung.  Die  Verbrennung  der  Ladung  eines  Ofens 
dauerte  etwa  eine  Stunde".  ( 1 7) 

Vorher  jedoch  wurden  die  leblosen  Körper  noch  auf  Wertsachen  untersucht.  In  einem 
kleinen  Raum  mit  Fenster,  damit  genügend  Tageslicht  auf  die  Kadaver  fiel  und  man  ja  keine 
Goldkrone  übersah,  wurden  auf  einem  steinernen  Seziertisch  die  Leichen  gründlich  unter- 
sucht und  kamen  danach,  vom  Schlachtklotz,  gleich  nach  nebenan  in  die  Verbrennungsanlage. 
Vor  dem  Eingang  des  Krematoriums  waren  rote  Rosen  gepflanzt,  die  gerade  in  ihrer  vollen 
Schönheit  - wie  zum  Trotz  - dastanden.  Dieser  Anblick  tat  wohl  und  gab  Hoffnung.  Das  Wort 
„Rosen“  hatte  hier  in  Majdanek  eine  ganz  besondere  Bedeutung.  „Die  Auslese  erfolgte  auf 
dem  Platz  vor  der  Gaskammer,  der  Rosengarten  oder  Rosenfeld  genannt  wurde.  Die 
romantische  Bezeichnung  bezog  sich  nicht  auf  Blumen,  die  es  dort  nicht  gab,  sondern  auf  die 
Selektierten".  ( 1 8) 

Wir  pilgerten  zur  großen  Kuppel  mit  der  restlichen  Asche  und  Knochen  der  Märtyrer  dieses 
Lagers  und  ruhten  im  Schatten  der  Kuppel  aus.  Wir  lauschten  dem  Gespräch  dreier  junger 
Amerikanerinnen.  Eine  war  ganz  alleine  mit  dem  Fahrrad  in  Polen  unterwegs  und  besuchte  die 
Konzentrationslager,  um  später  als  Journalistin  darüber  zu  berichten.  Diese  junge  Frau  hatte 

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auch  hier  Familienmitglieder  verloren  und  wollte  nun  etwas  von  derVergangenheit  an  Ort  und 
Stelle  einfangen.  Auch  die  anderen  beiden  Mädchen  hatten  Angehörige,  die  in  diesem  Camp 
umgekommen  waren,  auch  sie  wollten  sich  vom  grausamen  Schicksal  ihrer  Verwandten  selbst 
überzeugen.  Wir  saßen  schweigend  da,  jede  hing  ihren  Gedanken  nach.  Ich  dachte  an  Dr. 
Simons,  den  guten  Engel  aus  meiner  Heimatstadt  Rheydt,  den  ich  nie  kennen  gelernt,  aber  viel 
Gutes  über  ihn  erfahren  hatte.  Selbst  in  der  Gefangenschaft  hat  er  seinen  Mithäftlingen  Mut 
gemacht  und  Beherztheit  gezeigt.  Hier  liegt  er  nun  irgendwo  anonym  verscharrt.  Am  15.  Juni 
1942  war  er  mit  einem  „Sondertransport“  von  Düsseldorf  nach  Lublin  deportiert  worden. 
(19)  Vielleicht  ist  er  am  „Blutmittwoch“,  dem  3.  November  1943,  umgekommen,  an  dem  Tag, 
den  die  SS  „Erntefest“  nannten.  Es  lief  eine  landesweite  „Säuberungsaktion“,  die  „Endlösung 
der  Judenfrage“.  Die  , Aktion  Reinhard“  dauerte  vom  Frühjahr  1942  bis  November  1943. 
Danach  waren  fast  alle  Juden  aus  dem  Lager  verschwunden.  (Übrig  blieben  u.  A.  Russen, 
Rumänen,  politische  Häftlinge  und  Homosexuelle).  An  diesem  einen  Tag,  dem  „Blutmittwoch“, 
am  3.  November,  kamen  in  Majdanek  18.000  Menschen  ums  Leben.  An  langen  Gräben,  die  die 
Häftlinge  selbst  ausheben  mussten,  wurden  sie  erschossen.  Ein  Teil  der  Leichen  wurde  später 
auf  riesigen  Scheiterhaufen  im  Lager  verbrannt.  Mit  der  Asche  der  Ermordeten,  die  verbrannt 
wurden,  wurden  Gemüsegärten  gedüngt,  größere  Knochenteile  zu  Knochenmehl  gemahlen. 

Ich  schaute  auf  die  8,80  Meter  hohen  Wachtürme,  die  alle  1 50  Meter  aufgestellt  waren.  Es  exi- 
stierten 18  davon.  Mein  Blick  fiel  auf  die  „Todeszone“,  ein  fünf  Meter  breiter  Streifen,  einge- 
zäunt in  Stacheldraht,  deren  innerer  Teil  früher  selbstverständlich  unter  Hochspannung  stand. 
In  den  „Todesstreifen“  hatte  man  Kies  gestreut,  damit  die  Menschengestalten  bei  nächtlicher 
Beleuchtung  besser  sichtbar  waren.  ,AHe  Sicherheitsvorkehrungen  -Umzäunung, Wachtürme, 
Blockführerstuben,  Beleuchtung,  Hochspannung,  Bunker-  sollten  bei  den  Häftlingen  jede 
Hoffnung  auf  Freiheit  vernichten  und  sie  glauben  lassen,  dass  der  einzige  Weg  aus  dem  Lager 
durch  die  Krematoriumsesse  führe“.  (20) 

Auch  in  Majdanek  hatten  die  Häftlinge  Nummern.  Anders  als  in  Auschwitz  trugen  die 
Gefangenen  ein  Metallschild  mit  eingestanzter  Nummer  an  einem  Draht  um  den  Hals.  Die 
Nummern  gingen  nie  weiter  als  20.000,  dann  wurden  sie  wiederholt,  die  Neuankömmlinge 
bekamen  die  Nummern  ihrer  toten  Vorgänger.  Dieses  Rotationssystem  bis  20.000  wurde  für 
Frauen  und  Männer  getrennt  angewandt.  „Die  Kennzeichnung  der  Häftlinge  war,  wie  in  den 
anderen  Lagern  fast  identisch.  Politische  Häftlinge  bekamen  einen  roten  Winkel,  Bibelforscher 
einen  violetten,  Kriminelle  einen  grünen.  Sicherheitsverwahrte  ebenfalls  einen  grünen,  aber 
mit  der  Spitze  nach  oben.  Homosexuelle  erhielten  einen  rosa  und  Asoziale  einen  schwarzen 
Winkel.  Juden  trugen  einen  Davidsstern,  der  aus  einem  übereinander  genähten  gelben  und 
einem  roten  Dreieck  bestand“.  (21)  Anhand  der  Dreiecke  (Winkel)  konnten  die  SA- 
Blockfüh rer/Kapos,  SA-Lagerleiter,  SS-Rottenführer,  SS-Sturmbann-  und  Obersturmbann- 
führer, SS-Gruppenführer  und  Obergruppenführer....  schon  von  weitem  sehen,  mit  wem  sie  es 
zu  tun  hatten.  Aber  in  allen  Fällen  knüppelten  und  schlugen  sie  auf  ihre  wehrlosen  Opfer  ein, 
denn  irgendetwas  machten  sie  in  ihren  Augen  immer  falsch.  Bis  aufs  Sterben  war  alles  verboten. 

Da  die  Lagerinsassen  gezwungen  waren  täglich  rund  1 5 Stunden  zu  arbeiten  - und  am  Samstag 
halbtags  - blieb  ihnen  kaum  Zeit  für  private  Beschäftigungen.  Ihre  „Behausungen“  mussten  in 
Ordnung  gehalten  und  ebenfalls  für  persönliche  Hygiene  gesorgt  werden,  soweit  das  über- 
haupt möglich  war.  Trotzdem  fanden  sie  noch  Zeit  - und  das  war  für  die  Häftlinge  überle- 
bensnotwendig - sich  von  der  öden  Gleichmäßigkeit,  vom  grausamen  Lagerleben  abzulenken. 
Es  bildeten  sich  Theatergruppen,  manche  malten,  und  es  entstanden  Chöre  in  den 


32 


verschiedensten  Sprachen,  da  ja  über  50  Nationen  in  Majdanek  unfreiwillig  versammelt  waren. 
Im  Mai  1 943  führten  gefangene  Künstler  die  Arbeit  einer  Säule  mit  den  drei  Adlern  aus,  in 
deren  Fuß  heimlich  die  Asche  von  Mithäftlingen  eingemauert  wurde.  Diese  Säule  wurde  zu 
einem  beispiellosen  Ehrenmal  für  die  ermordeten  Menschen.  Natürlich  war  uns  diese 
Gedenksäule  bei  unserem  Besuch  auch  aufgefallen.  Es  gab  namhafte  Maler,  Bildhauer, 
Schauspieler,  Musiker,  sie  alle  konnten  ihrer  Kunst  nicht  viel  Zeit  widmen,  lediglich  einige 
Minuten  vor  dem  Morgen  - oder  nach  dem  Abendappell.  Der  Sonntag  blieb  ihnen  als  einzig 
freier  Tag.  Vieles  war  ihnen  zwar  verboten  auszuführen,  aber  mancher  Lagerführer  war  stolz, 
berühmte  Künstler  in  seiner  Gruppe  zu  haben.  Bei  vielen  Häftlingen  machte  sich  Lesehunger 
bemerkbar,  sie  hätten  für  Lektüre  gerne  auf  eine  Ration  Brot  verzichtet.  Bücher  oder 
Zeitungen  waren  jedoch  im  Lager  strengstens  verboten.  Aber  auf  irgendeine  Art  wurde  immer 
wieder  Lektüre  eingeschmuggelt.  Was  den  Insassen  von  Majdanek  ein  Buch  bedeutete,  davon 
zeugen  Äußerungen  damaliger  Häftlinge:  „Nichts  vermag  so  den  Schmerz  zu  mildern,  die 
Verzweiflung  zu  betäuben  und  Vergessenheit  zu  geben,  wie  ein  gutes  Buch“.  (22) 

Am  I. April  1944  wurde  das  Lager  evakuiert,  alle  Insassen,  die  verzweifelt  um  ihr  Überleben 
gekämpft  hatten,  sich  mit  Kultur  ans  Leben  klammerten,  deren  Lebenswille  sie  Monate  und 
Jahre  Hunger,  Schläge,  Demütigungen  hatte  überleben  lassen.  Diese  armen  Menschen 
entkamen  nach  so  vielem  Leid  dem  Tod  in  Majdanek,  hatten  die  Freiheit  vor  Augen,  um  dann 
letztendlich  doch  noch  in  Auschwitz  ermordet  zu  werden. 

Vor  uns  lag  der  lange  und  sonnen  beschienene  Weg  zum  Ausgang  mit  dem  gigantischen 
Denkmal.  Auch  der  mit  Stacheldraht  gesäumte  „Hohlweg“,  der  ehemalige  Todesstreifen, 
führte  in  diese  Richtung.  Links  von  uns  lagen  friedlich  die  dunklen  Baracken.  Ich  hatte  den 
Eindruck,  sie  waren  seit  dem  vergangenen  Jahr  weniger  geworden.  Hinter  den  finsteren  und 
Unheil  verkündenden,  in  Reih  und  Glied  stehenden  Baulichkeiten  konnte  man  in  ca.  5 
Kilometer  Entfernung  die  Silhouette  der  Stadt  Lublin  erkennen.  Rechts  von  uns,  direkt  im 
Anschluss  an  das  Lager,  haben  die  Lubliner  ihre  Toten  zur  letzten  Ruhe  gebettet.  Ich  dachte 
plötzlich  an  Musik.  Von  hier  oben,  der  obersten  Stufe  der  Mausoleums-Treppe,  müsste  man 
der  360.000  ermordeter  Menschen  gedenken,  möglicherweise  mit  einem  Orff'schen  Chor, 
der  die  Erde  ringsherum  erzittern  ließe.  Oder  sollten  die  traurigen  Klageweisen  einer 
Klezmer-Klarinette  den  ganzen  Jammer  um  den  Erdball  tragen?  Zumindest  aber  bis  nach 
Deutschland,  eisig  Vaterland,  zu  hören  sein. 

Beklommen  und  bedrückt  verließen  wir  das  jetzt  so  friedliche  Gelände  und  machten  uns  zu 
Fuß  auf  den  Rückweg  nach  Lublin.  Wenigstens  ein  Stück  wollten  wir  im  Geiste  mit  den 
Gefangenen  gehen.  Wir  fragten  uns,  wie  menschliche  Wesen  einander  so  viel  Leid  zufügen 
können.  Aber  leider  gibt  es  noch  heute  Gefängnisse,  in  denen  auf  die  gleiche  menschen- 
verachtende Weise  gefoltert  und  misshandelt  wird.  Und  wie  erklärte  Mitscherlich  in  der 
„Unfähigkeit  zu  trauern“:  „Es  gibt  offensichtlich  keine  natürliche  angeborene  Rücksichtnahme 
aus  Menschlichkeit.  Der  Unterlegene  wird  zur  Beute  ungehemmter  Mordgier...  Der  Ekel, den 
die  Nazipropaganda  gegen  die  Juden  zu  erwecken  bestrebt  war,  setzt  diese  Manipulation  fort: 
Die  Juden  wurden  als  „Ungeziefer“  wahrgenommen.  Ungeziefervernichtung  ist  erlaubt  und 
darf  konfliktfrei  geschehen“.  (23)  Und  da  die  Nazis  den  Befehl  von  oben  hatten  und  sie  ihrem 
„Führer“  nur  zu  gern  gefällig  sein  wollten,  schlachteten  und  metzelten  sie.  „Die  Präzision 
unseres  Gehorsams  wurde  gebührend  erprobt,  und  der  fast  grenzenlose  Wille,  uns  den 
Hoffnungen  des  Führers  würdig  zu  erweisen,  durfte  ausschweifen...  Das 
Ausrottungsprogramm,  das  ohne  den  begeisterten  Einsatz  des  Kollektivs  gar  nicht  hätte 


33 


begonnen  werden  können,  muss  erschrecken“.  (24)  Es  ist  sehr  schwierig,  all  das  nachzuvoll- 
ziehen, aber  eines  ist  sicher:  „Das  alles  das,  was  geschah,  geschehen  konnte,  ist  nicht  allein  das 
Ergebnis  mirakulöser  Führungsqualitäten,  sondern  ebenso  eines  unglaublichen  Gehorsams“. 
(25)  Es  ist  fast  unmöglich,  sich  solch  eine  Massenhysterie,  wie  sie  zur  Nazizeit  vorgekommen 
ist,  vorzustellen.  Während  wir  noch  hin  und  her  diskutierten  und  argumentierten,  taten  uns 
die  Füße  weh,  Beine  und  Handgelenke  schwollen  bei  der  sengenden  Gluthitze  an  und  wir 
hatten  erst  zwei,  höchstens  drei  Kilometer  zurückgelegt.  Wir  gaben  auf,  wir  wollten  uns  nicht 
länger  kasteien  und  suchten  nach  einem  Taxi,  das  uns  in  die  Innenstadt  brachte.  In  der  Altstadt 
ließen  wir  uns  an  einem  schattigen  Platz  nieder  und  ruhten  unsere  erschöpften  Glieder  aus. 

Sehr  anheimelnd  war  diese  Altsstadt  nicht,  die  Gebäude  waren  renovierungsbedürftig.  Auch 
hier,  auf  diesem  Platz,  haben  in  den  Kriegstagen  Erschießungen  stattgefunden.  „Verräter  und 
volksfeindliche  Individuen“  (26)  wurden  standrechtlich  erschossen.  Wir  konnten  uns  nur  zu 
gut  vorstellen,  wie  in  diesem  Gemäuer  die  Schüsse  hallten  und  die  Toten  in  ihren  Blutlachen 
lagen.  Aber  so  triste  wie  wir  fanden  die  heutigen  Bewohner  Lublins  ihren  Rathausplatz  nicht, 
denn  es  herrschte  ein  munteres  Kommen  und  Gehen  von  jungen  Brautpaaren,  die  sich  im 
20-Minuten-Takt  trauen  ließen.  Wir  haben  mindestens  vier  bis  fünf  Pärchen  beobachtet,  alle 
festlich  herausgeputzt,  die  Bräute  manchmal  in  den  schönsten  Pastellfarben.  Wir  waren  durch 
die  vielen  Eindrückemüde  und  bedrückt. Wir  verspürten  nicht  mehr  den  Wunsch,  die  Burg  von 
Lublin  zu  besichtigen.  Auch  dort  hielt  man  Menschen  gefangen,  die  gefoltert  und  später 
ermordet  wurden.  In  der  Lubliner  Burg  wurden  unter  der  faschistischen  Besatzung  80.000 
Menschen  inhaftiert. 

Es  ist  kein  Wunder,  dass  die  Polen  nicht  gut  auf  uns  Deutsche  zu  sprechen  sind.  Wir  zerstör- 
ten nicht  nur  ihre  Häuser,  hinterließen  Ruinen  und  gebrochene  Herzen.  An  vielen  polnischen 
Frauen  wurden  medizinische  Experimente  durchgeführt.  Wir  nahmen  ihnen  Väter  und  Söhne 
und  ließen  sie  dann  in  ihrer  unendlichen  Verzweiflung  und  Misere  alleine  zurück.  Viele  Polen 
wurden  gezwungen  in  deutschen  Firmen  Zwangsarbeit  zu  leisten.  Von  Entschädigungen  oder 
Unterstützung  haben  die  Menschen  bis  heute  nichts  gesehen. 

Während  unserer  Rückfahrt  nach  Warschau  ereignete  sich  folgendes:  Eine  Frau  mittleren 
Alters,  die  wohl  gerade  von  der  Arbeit  kam,  setzte  sich  zu  uns  ins  Abteil.  Auf  unser  freund- 
liches und  wohl  recht  original  klingendes  „Dzien  dobry“  (guten  Tag)  antwortete  sie  mit  einem 
Redeschwall,  den  wir  natürlich  nicht  verstanden.  Als  wir  uns  als  Deutsche  zu  erkennen  gaben, 
sprach  sie  kein  Wort  mehr  mit  uns  und  würdigte  uns  während  der  ganzen  Fahrt  keines  wei- 
teren Blickes. 

Die  letzten  Tage  in  Warschau  gingen  schnell  vorbei.  Am  I.  August  1994  machten  wir  uns  auf  in 
Richtung  Bahnhof,  vorbei  am  Ehrenmal  der  gefallenden  Menschen  des  Warschauer  Aufstandes, 
der  vor  genau  50  Jahren  stattgefunden  hatte.  Der  Warschauer  Aufstand  vom  I.  August  1944 
dauerte  63  Tage.  Hitler  war  so  erbost  über  den  Widerstand,  dass  er  Befehl  gab,  die  ganze  Stadt 
zu  zerstören.  80  Prozent  der  Häuser  wurden  zerbombt,  der  Rest  von  den  Flammen  verzehrt. 
Im  Jahre  1945  waren  850.000  Bewohner  Warschaus  tot  oder  vermisst,  das  waren  zwei  Drittel 
der  Einwohner  von  1 939.  Und  heute  Abend  sollten  die  Gedenkfeierlichkeiten  stattfinden.  Dies 
sollte  auch  die  erste  offizielle  Reise  des  neu  gewählten  Deutschen  Bundespräsidenten,  Roman 
Herzog,  sein.  An  diesem  Abend  musste  er  in  aller  Öffentlichkeit  Profil  zeigen,  diese  erste 
,Amtshandlung“  war  sicherlich  kein  leichter  Beginn  für  den  neuen  Mann  an  Deutschlands 
Spitze. Wir  jedoch  wollten  uns  darauf  beschränken,  ihn  abends  im  Fernsehen  zu  verfolgen  und 
stürzten  uns  ins  Gewühl  des  „Centralny“-Bahnhofs  (Hauptbahnhof)  und  warteten  geduldig  auf 


34 


den  Zug,  der  uns  an  die  Küste,  nach  Danzig,  bringen  sollte. Auch  in  Polen  schien  Hauptreisezeit 
zu  sein,  auf  allen  Gleisen  liefen  Züge  aus  den  entferntesten  Gegenden  ein,  es  herrschte  ein 
reges  Treiben  und  ein  munteres  Stimmen-  und  Sprachengewirr, 

DANZIG  ZOPPOT  GYDINIA 

Ein  sympathischer  Endvierziger  und  seine  Mutter  teilten  das  Abteil  mit  uns.  Er  erzählte  aus 
seinem  Leben  bei  „Solidarnosc“.  Er  war  ehemaliger  intimer  Mitarbeiter  Lech  Walensas  und 
hatte  im  Untergrund  gearbeitet.  Als  dann  Anfang  der  80er  Jahre  die  Situation  heikel  wurde, 
floh  er  von  Danzig  ins  Ausland.  Er  verbrachte  nun  1 3 Jahre  in  Amerika,  genau  in  New  Orleans. 
Dies  war  seine  erste  Reise  in  die  Heimat.  Heute  war  er  mit  seiner  alten  Mutter  von  Radom 
nach  Gdynia  unterwegs,  um  Verwandte  zu  besuchen.  Wir  unterhielten  uns  äußerst  angeregt 
auf  Englisch,  während  die  Mutter  aus  der  Kriegszeit  im  Gefangenenlager  in  Norddeutschland 
noch  recht  gut  Deutsch  sprach.  Sie  arbeitete  für  eine  deutsche  Firma  als  Zwangsarbeiterin. 
Obwohl  sie  keine  angenehmen  Erinnerungen  an  diese  Zeit  hatte,  war  sie  uns  gegenüber  recht 
freundlich  und  aufgeschlossen.  Plötzlich  ertönte  eine  Durchsage,  die  wir  natürlich  nicht 
verstanden.  Man  übersetzte  uns,  dass  der  Zug  mit  einiger  Verspätung  in  Danzig  ankommen 
werde,  da  durch  die  Erhitzung  der  Schienen  die  Geschwindigkeit  gedrosselt  werden  müsse. 
Nach  einiger  Zeit  suchten  wir  Kühlung  am  offenen  Fenster.  Wir  sahen  riesige,  frisch  abgeern- 
tete Kornfelder.  Dieses  endlose  Gelb  tat  nicht  nur  den  Augen  wohl,  es  legte  sich  auch  wie  ein 
beruhigender  Schleier  auf  das  Gemüt.  Das  erst  vor  kurzem  geschnittene  Getreide  war  in 
vielen  Garben  zusammengebunden  und  lehnte  in  kleinen  Gruppen  aneinander.  Keine  Maschine 
hatte  hier  das  Korn  zu  rechteckigen  Paketen  gequetscht  - oder  in  riesigen  Rollen  geformt,  es 
sah  noch  genau  so  aus,  wie  ich  es  aus  meiner  Kindheit  in  Erinnerung  hatte.  Gegen  Ende  der 
Reise  kamen  wir  an  der  Stadt  Malbork  vorbei  und  sahen  vom  Zug  aus  die  Marienburg,  die 
monumentale  mittelalterliche  Festung  der  deutschen  Ordensritter  (das  weckte  auch 
Erinnerungen  unseligen  Gedenkens).  Bald  stiegen  wir  in  Gdynia  aus.  Auch  unser  bärtiger 
Freund  verließ  mit  seiner  Mutter  das  Bahnhofsgelände,  nach  einer  kurzen  Verabschiedung 
verloren  wir  uns  aus  den  Augen. 

Im  Hotel  Gdynia  hatten  wir  ein  recht  schönes  Zimmer  mit  Blick  auf  den  Hafen.  Am  Sonntag 
besichtigten  wir  Gdansk  und  wandelten  auf  den  Spuren  „Oskar  Matzeraths“.  Ich  war  tief 
beeindruckt  von  den  schönen  alten  Kirchen,  den  herrlichen  Backsteinbauten  und  den 
Kaufmannshäusern,  die  während  des  Krieges  völlig  zerstört  und  später  originalgetreu  wieder 
aufgebaut  worden  waren.  Natürlich  erstanden  wir  eine  Kleinigkeit  in  der  „Bernsteingasse“.  Bei 
der  Fülle  an  schönen  und  geschmackvoll  gearbeiteten  Stücken  war  die  Entscheidung  schwer. 
Der  „Lange  Markt“  mit  seinem  barocken  Neptunbrunnen  gehört  zu  den  schönsten  Plätzen 
Europas.  Hier  herrschte  an  diesem  Hochsommer-Sonntag  ein  reger  Betrieb.  Menschen 
verschiedenster  Nationen  waren  unterwegs.  Das  Wahrzeichen  der  alten  Hansestadt,  das 
Krantor,  erkannte  ich  gleich.  Auf  alten  Fotos  hatte  ich  es  bereits  gesehen.  Wir  kamen  in  dem 
Gewühl  nur  langsam  voran,  doch  plötzlich  befanden  wir  uns  auf  dem  Flohmarkt.  Hier  lagen 
Hakenkreuze,  Nummernschilder  alter  SS-Fahrzeuge,  jede  Menge  Naziliteratur  und 
Kultsymbole  Rechtsradikaler.  Am  liebsten  hätte  ich  den  ganzen  Nazi-Krempel  aufgekauft  und 
auf  irgendeiner  Müllkippe  verbrannt.  Wir  ließen  jedoch  den  Händlern  ihren  gefährlichen  Tand 
und  Firlefanz  und  gingen  weiter. 


35 


Ganz  in  der  Nähe  ist  das  ehemalige  KZ  Stutthof  zu  besichtigen.  Hier  fanden  85.000  Häftlinge 
aus  den  verschiedensten  Ländern  den  Tod.  Auch  Hilde  Sherman  (geb.  Zander)  aus  Rheydt 
sollte  nach  der  Auflösung  des  Lagers  in  Riga  nach  Stutthof  verlegt  werden.  Da  aber  Anfang 
1945  die  Sowietarmee  bereits  auf  dem  Vormarsch  war,  wurden  sie  zunächst  von  Riga  nach 
Libau  gebracht. Von  dort  aus  ging  der  letzte  Transport  mit  dem  Kohlenfrachtschiff  „Elbing“,  das 
die  Häftlinge  noch  mit  Stahlhelmen  beladen  mussten,  in  Richtung  Hamburg,  wo  dann  diese 
wenigen  noch  überlebenden  hungernden  und  kranken  Menschen  - ein  Schatten  ihrer  selbst- 
in das  Gefängnis  Fuhlsbüttel  gebracht  wurden.  Vom  14.  bis  17.  April  1945  wurden  jüdische 
Häftlinge  von  Fuhlsbüttel  nach  Kiel  transferiert  - zu  Fuß  versteht  sich.  Sie  schliefen  unterwegs 
bei  den  Bauern  in  den  Scheunen.  Als  die  ausgelaugte  und  müde,  fast  gespenstisch  aussehende 
Menschengruppe  die  Bauern  um  Wasser  bat,  stellten  sie  sofort  und  anstandslos  Gefäß,  Kübel 
und  Trinkbecher  den  durstigen  und  ausgemergelten  Juden  zur  Verfügung.  Verrückt  vor  Durst 
wollten  sie  sich  auf  das  Wasser  stürzen,  aber  ein  Kommando  der  SS  verbot  ihnen  zu  trinken. 
„Die  SS  stieß  die  Eimer  und  Töpfe  um,  das  Wasser  floss  auf  die  Strasse.  Dann  geschah  das 
Unbegreifliche:  Die  Leute  am  Straßenrand  fingen  an  zu  murren,  erst  leise,  dann  lauter,  schließ- 
lich ertönten  RufeiVerbrecher,  Mörder,  Schweinehunde!  Die  SS  traute  ihren  Ohren  nicht,  Hals 
über  Kopf  trieben  sie  uns  weiter“.  (27)  Dann  dauerte  es  noch  einmal  14  Tage,  bis  Hilde 
Sherman  in  Schweden  in  Freiheit  war.  Sie  wanderte  sieben  Monate  später  nach  Kolumbien 
aus.  Sie  war  damals  22  Jahre  alt  und  erreichte  kaum  noch  lebensfähig  den  südamerikanischen 
Kontinent. 

Nach  Danzig  stand  Zoppot  auf  dem  Programm.  Seit  dem  1 9.  Jahrhundert  ist  Zoppot  ein  welt- 
bekannter Bade-  und  Kurort.  Der  einstige  Arzt  Napoleons,  Jean  Haffner,  hat  hier  1823  eine 
Badeanstalt  gebaut.  Wir  gingen  in  Richtung  Strand.  Ein  langer  Seesteg  ragte  weit  ins  Meer 
hinein.  Von  hier  aus  hatte  man  einen  prachtvollen  Blick  auf  das  ehemals  elegante  und  hoch 
herrschaftliche  Grand  Hotel.  Wir  pendelten  einige  Tage  zwischen  den  Städten  Gdansk,  Sopot 
und  Gdynia  und  machten  nette  und  witzige  Bekanntschaften.  Einige  junge  Leute  sprachen  uns 
an  und  ließen  uns  spüren,  dass  sie  nichts,  aber  auch  rein  gar  nichts  gegen  Deutsche  haben.  Es 
freute  uns,  dass  sie  den  Mut  hatten,  uns  anzusprechen.  Dann  kam  der  Tag,  an  dem  wir  dieses 
gastfreundliche  Land  mit  den  liebenswürdigen  Menschen  verlassen  mussten.  Der  Abschied 
stimmte  uns  traurig,  aber  wir  würden  sehr  gerne  wiederkommen,  um  noch  viele  neue  Seiten 
am  alten  Polen  zu  entdecken. 


36 


NACHWORT 

In  der  Zwischenzeit  gab  und  gibt  es  viele  Kriege  auf  der  Welt,  niemand  scheint  etwas  aus  dem 
fürchterlichen  Blut  vergießen  des  Zweiten  Weltkrieges  gelernt  zu  haben,  wo  insgesamt 
40  Millionen  Menschen  den  Tod  fanden. 

Der  augenblickliche  Krieg  in  Jugoslawien,  wo  es  wieder  nur  unschuldige  Opfer  gibt,  dort  wo 
wieder  gefoltert  und  gemordet  wird,  lassen  einen  an  der  Menschlichkeit  zweifeln.  In  Gedenken 
der  Kriegsopfer  - und  zur  Beherzigung  aller  Überlebenden  ist  das  Gedicht  von  Matthias 
Claudius  gewidmet. 

Kriegslied 

's  ist  Krieg!  's  ist  Krieg!  O Gottes  Engel  wehre. 

Und  rede  Du  darein! 

's  ist  leider  Krieg  - und  ich  begehre 
Nicht  Schuld  daran  zu  sein! 

Was  soll  ich  machen,  wenn  im  Schlaf  mit  Grämen 
Und  blutig,  bleich  und  blass 
Die  Geister  der  Erschlagnen  zu  mir  kämen 
Und  vor  mir  weinten,  was? 

Wenn  wackre  Männer,  die  sich  Ehre  suchten. 

Verstümmelt  und  halb  tot 

Im  Staub  sich  vor  mir  wälzten  und  mir  fluchten 

In  ihrer  Todesnot? 

Wenn  tausend,  tausend  Väter,  Mütter,  Bräute, 

So  glücklich  vor  dem  Krieg, 

Nun  alle  elend,  alle  arme  Leute, 

Wehklagten  über  mich? 

Wenn  Hunger,  böse  Seuch  und  ihre  Nöten 
Freund,  Freund  und  Feind  ins  Grab 
Versammleten  und  mir  zu  Ehren  krähten 
Von  einer  Leich  herab? 

Was  hülf  mir  Krön  und  Land  und  Gold  und  Ehre? 

Die  könnten  mich  nicht  freun! 

's  ist  leider  Krieg  - und  ich  begehre 
Nicht  schuld  daran  zu  sein! 

(Matthias  Claudius,  1 740  - 1 8 1 5) 


37 


KZ  Auschwitz 


Birkenau 


Museum  Majdanek  - Lublin 


-1JI 



If  J 

Hi, 

Schlafstätten 


Toiletten 


Seziertisch 


Eingang  zum  Krematorium,  der  Rosengarten  genannt  wurde 


Gestapo  Hauptquartier/Warschau 


DAS  WARSCHAUER  GHETTO 


PRACA  PRZYMUSOWA 


Di[  m iiiisdr  HfBiicfiociiiiii  smo  yfiPiiicHKi  sich 

tH  [KIlMItlill  »C  H)«lini(H..6.-. MOIItillS  i.NElDiN 

um  povotiiiit7oPiitcr  timm  jesi  shvicsie 

PUNKTUALNIE06-RANO wDNtU  WYZNACZONYM . 


■ 

LITERATUR-  UND  QUELLENVERZEICHNIS 

1 

1 

■ 

1 

Josef  Marszalek,  Majdanek  / Konzentrationslager  Lublin, 
Verlag  Interpress, Warschau  1984 

1 

1 

2 

Chronik  der  Deutschen,  Chronik  Verlag,  Harenberg  Kommunikation 
Verlags-  und  Mediengesellschaft  GmbH  und  CO.  Kg,  Dortmund  1 983 

■ 

1 

2a 

ebenda 

3 

ebenda 

1 

3a 

ebenda 

1 

4 

Günter  Erckens,  Juden  in  Mönchengladbach,  Gesamtherstellung: 
Peter  und  Walter  Pies,  Reyerstrasse  42-44  Mönchengladbach 

1 

5 

Alexander  und  Margarete  Mitscherlich,  Die  Unfähigkeit  zu  trauern. 
R.  Piper  und  Co. Verlag,  München,  1970 

1 

6 

ebenda 

1 

7 

Jösef  Marszalek,  Majdanek  / Konzentrationslager  Lublin, 
Verlag  Interpress, Warschau  1984 

1 

8 

Tadeusz  Borowski 

1 

9 

Ruth  Klüger,  weiter  Leben  - eine  Jugend,  DTV  GmbH  und  Co.  Kg,  München,  1994 

■ 

10 

ebenda 

1 

1 1 

Section  of  Museum  of  History  of  Polish  Revolutinary  Movement,  Warschau, 
Aleja  Wojska  Polsiego  25,  Drukarnia  im.  Rewolucji  Pazdziernikowej, Warschau, 
1981 

1 

1 

12 

Chronik  der  Deutschen,  Chronik  Verlag,  Dortmund  1983 

■ 

12a 

ebenda 

1 

13 

Martin  Gray,  Der  Schrei  nach  Leben,  Goldmann  Verlag,  1993 

1 

14 

Jösef  Marszalek,  Majdanek  / Konzentrationslager  Lublin, 
Verlag  Interpress, Warschau,  1984 

1 

15 

ebenda 

1 

16 

ebenda 

■ 

56 

1 

1 

1 7 ebenda 

18  ebenda 

19  Günter  Erckens,  Juden  in  Mönchengladbach,  Gesamtherstellung: 

Verlag-  und  Mediengesellschaft  GmbH  und  Co  Kg,  Dortmund  1 983 

20  Josef  Marszalek,  Majdanek  / Konzentrationslager  Lublin, 

Verlag  Interpress, Warschau  1 984 

2 1 ebenda 

22  ebenda 

23  Alexander  und  Margarete  Mitscherlich,  Die  Unfähigkeit  zu  trauern, 

R.  Piper  und  Co. Verlag,  München,  1970 

24  ebenda 

25  ebenda 

26  ebenda 

27  Hilde  Sherman,  Zwischen  Tag  und  Dunkel,Verlag  Ullstein  GmbH, 

Frankfurt,  1984 

28  Matthias  Claudius,  Das  große  deutsche  Gedichtbuch,  Athenäum  Verlag,  1977 

29  Wolfgang  Weyrauch,  Das  große  deutsche  Gedichtbuch,  Athenäum  Verlag,  1977 

Fotonachweis: 

Ingrid  Decker 

Josef  Joseph  mit  Familie  - Auszug  aus  dem  Buch:  Juden  in  Mönchengladbach 

Goebbels-Fotos  - aus  dem  Buch  „Goebbels,  eine  Biographie“  von  Ralf  Georg  Reuth 

Fotos  vom  Warschauer  Ghetto  stammen  aus  einem  polnischen  Buch  mit  dem 
Namen  „Ghetto“ 

Postkarte  eines  Dali-Gemäldes  aus  dem  Madrider  Museum  „Reyna  Sophia“ 


57 


DIE  JUGENDJAHRE 

DER 

ELISABETH  KOCH-THAU 


Dies  ist  die  etwas  andere  Überlebensgeschichte  einer  Jüdin, 
die  die  Kriegsjahre  in  dem  von  den  Deutschen  besetzten 
Frankreich  - unter  den  widrigsten  Umständen  - überlebt 
hat.  Beherzt  und  unerschrocken  nahm  sie  jede  Heraus- 
forderung an  und  anstatt  sich  zu  verstecken  nützte  sie  ihr 
arisches  Aussehen  und  begab  sich  in  die  „Höhle  des  Löwen“, 
aus  der  sie  zum  Glück  wieder  heil  heraus  kam. 

Frau  Elisabeth  Koch  verdankt  nicht  nur  einigen  deutschen 
Soldaten  ihr  Leben,  sie  hat  es  größtenteils  sich  selbst  zu 
verdanken,  denn  nur  durch  ihr  geschicktes  und  diploma- 
tisches Auftreten,  ihr  angenehmes  Äußeres  und  ihre 
liebenswerte  und  hilfsbereite  Art,  hat  sie  die  Herzen  der 
„Feinde“  im  Sturm  erobert.  Trotz  allem  gehörte  zum 
Überleben  eines  jeden  Juden  während  der  Nazizeit  eine 
gehörige  Portion  Glück  - und  daran  hat  es  Frau  Elisabeth 
Koch  nicht  gemangelt. 


I 


Im  letzten  aufflammenden  Novembergefecht  des  Jahres  1918,  nur  wenige  Tage  vor  dem  Ende 
des  Ersten  Weltkrieges,  wurde  Elisabeth  Koch  in  dem  von  Deutschland  besetzten  Teil  Polens, 
am  7.  November  in  Kolomea,  geboren.  Ihr  Vater  hatte  ihr  wieder  und  wieder  von  ihrer 
dramatischen  Geburt  erzählt,  die  unter  den  widrigsten  Umständen  stattfand.  Beim  letzten 
Schussgefecht  des  Novemberaufstandes  hatte  der  Vater  die  Hebamme  aufgesucht,  beide 
kamen  unter  Lebensgefahr  doch  noch  rechtzeitig  zur  Geburt  ihrer  ersten  und  einzigen 
Tochter  zu  Hause  an.  So  begann  Ellis  Leben  auf  dramatische  Art  und  Weise,  doch  das  Glück 
war  stets  auf  ihrer  Seite. 

Der  Vater,  Karl-Michael  Koch,  war  Leutnant  und  lernte  im  deutsch  besetzten  Polen  seine  Frau, 
Berta  Klinger,  die  Tochter  eines  Rabbiners,  kennen.  Sie  verliebten  sich  sehr  ineinander  und 
heirateten  kurze  Zeit  später.  1916  wurde  ihr  erster  Sohn,  Felix,  geboren.  Nach  Kriegsende 
nahm  Karl-Michael  seine  polnische  Frau  und  die  beiden  Kinder  mit  in  seine  Heimatstadt  Wien, 
wo  er  sein  Studium  der  Physik,  Chemie,  Mathematik  und  Philosophie  wieder  aufnahm.  Er  war 
zunächst  Professor  an  einem  Wiener  Gymnasium  und  später  an  der  Universität.  In  Wien 
wurde  1922  der  jüngste  Sohn,  Fritz,  geboren.  Die  Familie  lebte,  wenn  auch  bescheiden,  so  doch 
zufrieden,  denn  das  Gehalt  des  Professors  war  nicht  besonders  üppig,  jedoch  der  nächste 
Weltkrieg  kündigte  sich  schon  bald  an. 

Ferien  gab  es  nur  ab  und  zu,  und  dann  nur  für  die  Buben.  Der  Vater  fuhr  mit  ihnen  nur 
wenige  Kilometer  aus  Wien  heraus  aufs  Land.  EIN  legte  keinen  großen  Wert  aufs  Verreisen,  sie 
liebte  ihre  Stadt  Wien,  vor  allem  liebte  sie  es,  in  der  Nähe  ihrer  Mutter  zu  sein,  zu  der  sie  eine 
starke  Bindung  und  eine  sehr  enge  Beziehung  hatte.  Der  Kontakt  zum  Vater  war  nicht  sehr 
intensiv,  denn  er  war  ein  strenger,  gebieterischer  und  konsequenter  Patriarch.  Ein  Beispiel 
dafür  war,  dass  er  sie  bestrafte,  weil  sie  Linkshänderin  war.  Sie  musste  bei  den  gemeinsamen 
Mahlzeiten  an  einem  Extratisch  sitzen  und  so  lange  üben,  bis  sie  mit  der  rechten  Hand  den 
Löffel,  die  Gabel  oder  das  Messer  halten  konnte.  Es  war  eine  Zeit  der  Qual.  Die  Eltern  rieben 
sich  unnötig  an  vielen  Kleinigkeiten  auf.  Bis  heute  benützt  EIN  ihre  linke  Hand  zum  Schreiben 
oder  Essen,  alle  drastischen  Maßnahmen  haben  nicht  gefruchtet  - außer  Unfrieden  zu  stiften. 
Auch  die  Freizeitbeschäftigung  musste  sinnvoll  gestaltet  werden.  Vergnügungen,  wie  Kino, 
wurden  als  sinnloser  Zeitvertreib  angesehen  und  im  Hause  Koch  nicht  geduldet.  Den  Kindern 
wurde  erlaubt  Schach  zu  spielen  oder  Kreuzworträtsel  zu  lösen,  denn  lernen  stand  immer  an 
erster  Stelle. 

Während  der  Vater  sich  intensiv  seinen  Schülern  widmete  und  sich  ausgiebig  mit  der 
Wissenschaft  beschäftigte,  die  Kunst  und  die  klassische  Oper  liebte,  war  seine  Frau  Berta  eher 
eine  „Hühnermutter“,  eine  Glucke,  die  lieber  bei  ihren  Küken  blieb.  Sie  war  auch  keine 
Intellektuelle  und  fühlte  sich  im  Kreise  der  aufgeblasenen  und  wichtigtuerisch  erscheinenden 
Gesellschaft  nicht  wohl.  Berta  Koch  war  eine  gut  aussehende  und  sehr  bodenständige  Frau, 
jedoch  keineswegs  ein  Kind  von  Traurigkeit,  im  Gegenteil,  sie  tanzte  sehr  gerne  und  war  in  der 
Lage,  stundenlang  Witze  oder  Anekdoten  zu  erzählen.  Den  Kindern  schien  es  wenig 
auszumachen,  dass  ihr  Vater  oft  unterwegs  war,  denn  er  behandelte  sie  meist,  als  seien  sie  noch 
drei  weitere  Schüler  aus  seiner  Klasse. 

Die  Jahre  vergingen,  alle  Kinder  bekamen  eine  erstklassige  Ausbildung.  In  den  BOerJahren 
wurden  die  Zeiten  unruhiger.  Berta  Koch  spürte  früh  ein  drohendes  Unheil  durch  die  neue 
Partei  - NSDAP  - kommen.  Ihr  waren  die  unbekannten  Politiker  und  ihre  Anhänger  nicht 
geheuer.  Als  die  Tochter  sich  mit  siebzehn  Jahren  in  einen  nicht  jüdischen  Schulkameraden 
verliebte  - ihre  große  Liebe  - versucht  die  Mutter,  ihr  diese  Freundschaft  auszureden.  Solche 

2 


Verbindungen  seien  nicht  von  Dauer.  Und  seit  Hitler  an  der  Macht  war,  machte  sich  der 
Antisemitismus  jeden  Tag  stärker  bemerkbar.  1 935  wurde  ein  Dekret  erlassen,  das  Mischehen 
mit  Juden  verbot.  Durch  die  Nürnberger  Gesetze  wurden  1 935  den  Juden  alle  staatsbürger- 
lichen Rechte  entzogen.  Ehen  und  außereheliche  sexuelle  Beziehungen  zwischen  Juden  und 
,Ariern“  wurden  verboten.  Berta  Koch  machte  sich  zu  Recht  Gedanken  um  die  unglückliche 
Verbindung  ihrer  Tochter  mit  dem  jungen  Mann,  die  von  vornherein  zum  Scheitern  verurteilt 
war.  Sie  wollte  ihrer  Tochter  jede  Art  von  Kummer  oder  Erniedrigung  ersparen,  denn  sie  hatte 
Angst,  dass  sie  als  „Saujüdin“  womöglich  noch  verfolgt  würde.  Aber  welcher  junge  Mensch 
lässt  sich  mit  siebzehn  Jahren  schon  gerne  in  sein  Liebesieben  hineinreden?  Die  jungen 
Verliebten  schmiedeten  Zukunftspläne,  sie  stellten  sich  bereits  vor,  wie  ihre  Kinder  aussehen 
würden  und  verbrachten  jede  freie  Minute  miteinander.  Auch  der  Vater  betrachtet  diese 
Verbindung  sehr  sorgenvoll  und  war  sich  mit  der  Mutter  einig,  Elli  für  einige  Zeit  zu 
Verwandten  nach  Metz,  zur  Schwester  von  Ellis  Mutter,  zu  schicken,  damit  die  stürmische 
Verliebtheit  der  jungen  Leute  durch  räumliche  Trennung  ein  wenig  gedämpft  würde. 

Elli  verließ  ihr  Elternhaus  schwerere  Herzens.  Hatte  sie  doch  bereits  Pläne  und  Ideen  - aber 
die  einer  Träumerin  - geschmiedet.  Nun  überlegte  sie  ob  sie  zur  Universität  gehen  sollte  oder 
ob  sich  vielleicht  der  König  von  England  in  sie  verlieben  würde,  eventuell  würde  sie  gar  noch 
als  Filmstar  entdeckt...? 

Und  so  begab  sich  Elli  auf  ihre  erste  große  Reise  - ganz  alleine  - ins  Ausland.  Mit  Frankreich 
verband  sie  in  Gedanken  Paris,  davon  hat  sie  gehört  und  auch  schon  Fotos  gesehen.  Als  sie 
nun  in  Metz  ankam,  in  eine  Provinzstadt,  war  ihre  Enttäuschung  riesengroß.  Zwar  bemühte 
sich  die  Familie  sehr  um  Elli  und  sie  wurde  wie  eines  der  drei  eigenen  Kinder  behandelt.  Onkel 
und  Tante  führten  ein  bedeutendes  Möbel-  und  Dekorationsgeschäft,  waren  gut  situierte 
Leute  und  finanzielle  Sorgen  gab  es  nicht.  Obwohl  Elli  haben  kann,  was  ihr  Herz  begehrt,  hatte 
sie  Heimweh  nach  ihrer  Mutter  und  nach  Wien.  Sie  vermisste  ihre  Nähe,  ihre  Stimme,  ihren 
Rat  und  ihren  Trost,  vor  allem  trauerte  sie  ihrer  großen  Liebe  nach. 

Nach  einigen  Monaten  hielt  Elli  es  nicht  länger  aus,  sie  wollte  zurück  nach  Wien.  Die  Tante  half 
beim  Kofferpacken.  Als  sie  am  nächsten  Morgen  in  aller  Frühe  das  Haus  verlassen  wollten, 
fanden  sie  Flugblätter  mit  Informationen,  die  besagten,  dass  Hitler  bereits  seine  Truppen  in 
Österreich  hatte  einmarschieren  lassen.  Am  nächsten  Tag,  dem  1 3.3.38,  wurde  der  Anschluss 
Österreichs  an  das  Deutsche  Reich  verkündet.  Unter  diesen  Umständen  konnte  Elli 
Frankreich  nicht  mehr  verlassen.  Ihre  Situation  im  Haus  ihrer  Verwandten  hatte  sich 
schlagartig  geändert:  Von  nun  an  war  sie  kein  Gast  mehr,  sondern  ein  Flüchtling. 

Die  Verwandten  setzten  Elli  zu,  dass  sie  ihren  taubstummen  Sohn,  ihren  Cousin,  heiraten  soll- 
te. Durch  diese  Ehe  sei  sie  Französin  und  hätte  nichts  mehr  zu  befürchten,  außerdem  könnte 
sie  dann  ebenfalls  ihre  Mutter  nach  Frankreich  holen.  Zwar  hatte  der  taubstumme  Sohn  zu 
diesem  Zeitpunkt  eine  ebenfalls  taubstumme  Freundin,  aber  die  Familie  zog  die  junge, 
hübsche,  wohlerzogene  und  gesunde  Frau  als  Schwiegertochter  vor.  Elli  konnte  nun  das  Gefühl 
nicht  loswerden,  dass  sie  von  Anfang  an  als  Schwiegertochter  auserkoren  war.  Die  politische 
Krise,  durch  den  Anschluss  Österreichs,  kam  ihren  Verwandten  gerade  recht.  Da  die 
französische  Ausländerpolizei  Elli,  die  nun  über  Nacht  Deutsche  war,  nur  wenig  Zeit  zur 
Ausreise  gab,  sah  sie  keinen  anderen  Ausweg,  als  ihren  behinderten  Vetter  zu  ehelichen. 

Heimlich  weinte  sie  sich  die  Augen  aus. Todunglücklich  dachte  sie  an  den  jungen  Mann,  den  sie 
in  Wien  zurückgelassen  hatte,  hoffte,  er  werde  sie  noch  in  letzter  Sekunde  aus  den  Fängen  des 
ungeliebten  Bräutigams  retten.  Ihr  Wiener  Freund  hatte  aber  nichts  Eiligeres  zu  tun,  als  sich 

3 


den  Nazis  anzuschließen  und  im  großen  Pulk  mitzumarschieren.  Er  kümmerte  sich  weder  um 
Ellis  Brüder,  noch  um  die  Eltern  seiner  Angebeteten.  Nach  dem  Krieg  jedoch  wollte  er  Elli 
heiraten.  Alle  Gräueltaten,  die  das  Nazi-Regime  angerichtet  hatte,  jede  unterlassene 
Hilfeleistung,  der  Hass  und  die  Verfolgung  auf  Juden,  all  das  schien  plötzlich  vergessen.  Dabei 
hatte  sich  der  junge  Wiener  nicht  einmal  die  Mühe  gemacht,  Elli  in  Frankreich  ausfindig  zu 
machen.  Wie  hätte  Elli  solch  einem  Mann  noch  Vertrauen  schenken  können? 

Tante  und  Onkel  richteten  ein  hinreißendes  Hochzeitsfest  aus,  es  wurde  an  nichts  gespart. 
Freunde,Verwandte  und  Geschäftsleute  wurden  zu  dieser  rauschenden  Feier  eingeladen.  Der 
einzige  unglückliche  Mensch  bei  diesem  sonst  fröhlichen  Ereignis  war  die  Hauptperson.  Der 
für  jede  andere  Frau  „schönste  Tag  im  Leben“  war  für  die  junge  - jetzt  heimatlose  Elli  - ein 
Alptraum,  schrecklicher  Höhepunkt  in  einem  jungen  Leben. 

Wie  Elli  später  erfuhr,  konnte  sie  froh  sein,  dem  Wien  1938  nach  der  „Reichskristallnacht“ 
entflohen  zu  sein.  Frauen  und  Mädchen  mussten  sich  nackt  ausziehen,  sie  wurden 
vergewaltigt  und  gedemütigt,  sie  wurden  gezwungen  die  Strassen  zu  säubern  und  waren 
Spielball  der  Nazis.  Elli  hätte  diesen  Schock  in  ihrer  Unerfahrenheit,  Unaufgeklärtheit  und 
Unschuld  nicht  überwunden. 

Zum  gleichen  Zeitpunkt,  nach  der  „Kristallnacht“,  im  November  1938,  nachdem  die 
Ausplünderung  der  jüdischen  Geschäfte  begonnen  und  Massenverhaftungen  und  die  ersten 
Deportationen  stattgefunden  hatten,  machte  sich  Felix  Koch,  der  Leutnant  bei  der  Armee  war, 
mit  zwei  Kameraden  aus  Wien  heimlich  auf  den  Weg  nach  Luxemburg.  Sie  waren  nur  des 
Nachts  unterwegs,  sie  schwammen  durch  die  Mosel  und  auf  abenteuerliche  Weise  erreichten 
sie  ihr  Ziel  Luxemburg. 

Während  Elli  und  ihr  älterer  Bruder  Felix  im  Ausland  vorläufig  gerettet  waren,  lebten  die 
Mutter  und  der  jüngere  Bruder  noch  in  Wien.  Der  Vater,  Karl-Michael  Koch,  hatte  die  Familie 
verlassen  und  floh  nach  Russland.  Er  hofft,  dort  als  Wissenschaftler  mit  kommunistischen  und 
idealistischen  Ideen,  eine  Arbeit  zu  finden.  Berta  Koch,  die  sich  in  Wien  in  einem  Keller  bei 
Bekannten  versteckt  hielt,  meldete  sich  auf  Vorladung  der  Behörden  nicht.  Fritz  Koch,  noch 
Schüler,  wurde  fast  verhaftet,  weil  ein  Mitschüler  ihn  denunzierte,  mit  der  Begründung,  er  habe 
aufs  Hitlerbild  gelacht.  Mit  anderen  Verhafteten  kam  er  in  ein  Sammellager,  in  dem  sich  die 
Insassen  gegenseitig  schlagen  mussten.  Ein  Polizist,  der  Fritz  kannte  und  ihn  wohl  auch 
mochte,  ließ  ihn  frei  mit  dem  Rat,  so  schnell  wie  möglich  nach  Hause  zu  rennen. 

Elli  wollte  nun  auf  dem  raschesten  Weg  ihre  Mutter  und  den  jüngeren  Bruder  aus  Wien  holen. 
Durch  die  Heirat  besaß  sie  einen  französischen  Pass  und  wurde  von  nun  an  „Madame  Thau“ 
genannt.  In  Metz  lernte  sie  einen  Senator  kennen,  der  mit  ihrer  Familie  befreundet  war.  Der 
versprach  Elli,  alles  zu  tun,  um  ihre  Mutter  nach  Frankreich  zu  holen.  In  der  Zwischenzeit 
erfuhr  sie,  dass  sich  ihr  älterer  Bruder  Felix  in  Luxemburg  aufhielt,  von  nun  an  besuchte  sie 
ihn  so  oft  sie  konnte.  Da  Luxemburg  von  Metz  aus  in  kurzer  Zeit  mit  der  Bahn  zu  erreichen 
war,  brachte  sie  ihm  Essen  mit  und  erzählte  von  ihrer  unglücklichen  Ehe  mit  dem  Cousin.  Die 
Geschwister  schmiedeten  Pläne,  wie  sie  ihren  jüngeren  Bruder  aus  Wie  holen  könnten. 

Doch  eines  Tages  überschlugen  sich  die  Ereignisse.  Felix  verdiente  sich  in  Luxemburg  bei 
einem  Bauern  ein  paar  Pfennige.  Dieser  entpuppte  sich  jedoch  nach  kurzer  Zeit  als  Nazi- 
Sympathisant  und  hängte  ein  Hitlerbild  auf.  Als  der  Bauer  erfuhr,  dass  sein  Gehilfe  Jude  war, 
jagte  er  ihn  schimpfend  davon.  Felix  beschwerte  sich  zwar  bei  der  Behörde,  die  ihrerseits  den 
Bauern  verklagen  wollte.  Aber  Felix  riet  dringend  davon  ab,  denn  durch  eine  Beschwerde 
hätten  Schwierigkeiten  und  Verzögerungen  bei  der  Einreise  des  jüngeren  Bruders  nach 


4 


Luxemburg  entstehen  können.  Die  Verwaltung  genehmigte  und  forcierte  die  Einreise  des 
Bruders  Fritz  nach  Luxemburg  - und  schon  kurze  Zeit  später  war  es  soweit.  Elli  kam  eilends 
aus  Metz  angereist,  um  ihren  kleinen  Bruder  am  Bahnhof  in  Empfang  zu  nehmen.  Sie  suchte 
nach  einem  Jungen,  konnte  aber  keinen  entdecken,  bis  eine  tiefe  Stimme  sie  plötzlich  von 
hinten  ansprach:  „Servus  Ella“.  Vor  ihr  stand  ein  hoch  gewachsener,  schlaksiger,  junger  Mann, 
den  sie  fast  nicht  wieder  erkannt  hätte.  Die  Freude  war  übergroß,  zumal  Fritz  die  Adresse  des 
neuen  Verstecks  der  Mutter  mitbrachte. 

In  Luxemburg  waren  zu  dem  Zeitpunkt  schon  etliche  jüdische  Flüchtlinge  untergekommen. 
Zwei  Hotels  wurden  ihnen  zur  Verfügung  gestellt,  die  für  Frauen  und  Männer  getrennt  waren. 
Die  Frauen  kümmerten  sich  um  das  Essen  und  die  Wäsche  und  erledigten  alle  anfallenden 
Hausarbeiten,  die  für  die  beiden  jüdischen  Unterkünfte,  nötig  waren. 

Im  Frühjahr  1940  begann  die  „Westoffensive“.  Die  deutsche  Armee  verletzte  bei  ihrem 
Vormarsch  ins  nördliche  Frankreich  die  Neutralität  der  Staaten  Belgien,  Niederlande  und 
Luxemburg.  Am  4.  Juni  1940  ging  die  „Kesselschlacht“  von  Dünkirchen  zu  Ende,  und  bereits 
Mitte  Juni  standen  die  deutschen  Truppen  in  Paris.  Die  Kapitulation  der  neutralen  Staaten  und 
die  Eroberung  des  Kessels  von  Dünkirchen  beendete  die  erste  Phase  des  Westfeldzugs. 

Elli,  ihr  taubstummer  Mann,  ihr  Onkel,  die  Tante,  Cousin  Charles,  Cousine  Regine  und  einige 
andere  Verwandte  steckten  drei  Tage  und  Nächte  im  stärksten  Bombenhagel  im  Keller  fest 
und  wussten  nicht,  ob  sie  je  noch  lebend  herauskommen  würden.  Nach  diesem  gewaltigen 
Bombenangriff  war  die  Stadt  total  verwüstet,  überall  stiegen  Rauch-  und  Feuersäulen  auf.  Sie 
saßen  mitten  im  Chaos,  und  aus  Angst  vor  den  deutschen  Soldaten  floh  die  jüdische  Familie 
Thau  in  den  Westen  Frankreichs.  Sie  beluden  ihren  Lastwagen  mit  Waren  aus  dem  Geschäft, 
um  unterwegs  davon  leben  zu  können,  und  ließen  sich  zunächst  in  Vittel  nieder.  Dort  lagerten 
sie  die  Gegenstände  ein  und  suchten  nach  einer  Unterkunft.  Doch  schon  nach  kurzer  Zeit 
erreichte  die  deutsche  Armee  auch  diesen  Teil  Frankreichs.  Erneut  fielen  Bomben,  und  es  blieb 
ihnen  nichts  anderes  übrig,  als  weiter  in  den  Westen  zu  fliehen.  Sie  wollten  nach  Bordeaux, 
denn  dort  hatten  sich  zu  diesem  Zeitpunkt  bereits  viele  jüdische  Flüchtlinge  eingefunden. 
Dort  fand  die  Familie  Thau  eine  bescheidene  Unterkunft. 

Während  des  Vorrückens  der  deutschen  Armee  in  den  mittelfranzösischen  Raum  und  der 
Eroberung  der  gesamten  Kanal-  und  Atlantikküste,  verließ  die  französische  Regierung  Paris 
und  zog  sich  nach  Südfrankreich  zurück.  Der  berühmte  Badeort  Vichy  wurde  von  1940  - 44 
Sitz  der  Regierung  Petain.  Nach  dem  Zusammenbruch  der  französischen  Armee  - Ende  Juni 
1940  - (21.6.1940)  Unterzeichnete  eine  französische  Delegation  im  Auftrag  des  Marschalls 
Phillippe  Petain  den  Waffenstillstand.  Dieser  Waffenstillstand  zerteilte  das  französische 
Staatsgebiet  in  eine  besetzte  Zone  entlang  der  nördlichen  Küste  und  in  ein  unbesetztes 
Gebiet  im  Süden  und  Südwesten  des  Landes. 

Die  Familie  Thau  lebte  nun  in  einem  von  Deutschen  besetzten  und  verwalteten  Gebiet.  Die 
Nazis  verloren  auch  hier  keine  Zeit  ihre  Gräueltaten  fortzusetzen.  Als  erste  „Amtshandlung“ 
demolierten  und  plünderten  sie  jüdische  Geschäfte.  Die  Juden  mussten  nun  auch  hier  einen 
Judenstern  tragen.  Auf  ihre  Pässe  und  Kennkarten  wurde  ein  „J“  für  „Jude“  gestempelt.  Und 
schon  bald  fuhren  auch  von  Frankreich  aus  die  Deportationszüge  in  die  Konzentrationslager. 
Elli,  die  „arisch“  aussah  — mit  ihren  blonden  Haaren  und  blauen  Augen  — war  immer  darauf 
bedacht,  dass  man  das  Goldkreuz  an  ihrem  Hals  sah.  Sie  weigerte  sich  strikt  einen  Judenstern 
zu  tragen  und  ließ  sich  auch  nicht  in  ihrer  Bewegungsfreiheit  einschränken.  Eines  Tages  gab  sie 
an,  ihre  Papiere  verloren  zu  haben  und  bekam  einen  neuen  Ausweis  ausgestellt.  Ihr  Geburtsort 


5 


war  jetzt  mit  Wien  und  ihre  Religion  mit  katholisch  angegeben.  Mit  diesem  neuen  Dokument 
und  ihrem  .Arischen“  Aussehen  schien  sie  gerettet  zu  sein. 

Zu  diesem  Zeitpunkt  hatte  EIN  keine  Ahnung,  wo  sich  ihre  Brüder  und  ihre  Mutter  aufhielten. 
Eines  Tages,  die  Hungersnot  war  sehr  groß,  machte  EIN  ihrem  Onkel  den  Vorschlag,  bei  der 
deutschen  Kommandantur  einen  Passierschein  zu  beantragen,  damit  sie  nach  Vittel  reisen  und 
dort  die  eingelagerte  Ware  aus  dem  Depot  holen  könnten.  Dem  Onkel  war  nicht  besonders 
wohl  bei  dem  Gedanken.  Da  sie  aber  kaum  noch  etwas  zu  essen  hatten,  die  Kleidung 
zerschlissen  war,  ließ  er  sich  auf  das  abenteuerliche  Wagnis  ein.  Bei  der  Kommandantur 
konnte  EIN  den  jungen  diensthabenden  Soldaten  durch  ihre  Art  überzeugen  und  er  stellte 
sofort  und  wohlwollend  zwei  Passierscheine  aus.  Mit  dem  einen  fuhren  Onkel  und  Nichte  mit 
dem  Lieferwagen  nach  Vittel,  mit  dem  anderen  reiste  sie  alleine  nach  Metz  weiter.  Unterwegs 
bekamen  sie  anstandslos  Benzin  und  gelangten  mühelos  und  ohne  Schwierigkeiten  nach  Vittel. 
In  der  kleinen  Stadt  Zentralfrankreichs  erfuhren  sie,  dass  die  Nazis  alle  Güter  beschlagnahmt 
und  mitgenommen  hatten.  Sollte  der  lange  Weg  und  die  vielen  Anstrengungen  umsonst  gewe- 
sen sein?  In  der  Kommandantur  verlangten  EIN  und  ihr  Onkel  ihr  Hab  und  Gut  zurück.  Dort 
jedoch  wollte  man  die  beiden  Bittsteller  abwimmeln  und  erklärte  ihnen,  die  Ware  sei  kein 
Privateigentum  mehr,  sondern  gehöre  jetzt  dem  deutschen  Staat.  Da  kannten  sie  EIN  nicht,  sie 
kämpfte  wie  eine  Löwin.  Letzten  Endes  gestand  man  ihnen  zu,  die  vorhandenen  Gegenstände 
direkt  an  Ort  und  Stelle  an  Wehrmachtsangehörige  zu  verkaufen.  Da  dies  aber  mehr  als  zwei 
Tage  in  Anspruch  nahm,  fuhr  EIN  mit  dem  zweiten  Passierschein  nach  Metz  und  hoffte,  noch 
einiges  an  Ware  aus  dem  Geschäft  mitnehmen  zu  können.  Dort  stand  noch  alles  so  da,  wie  sie 
es  verlassen  hatten,  aber  die  deutsche  Wehrmacht  hatte  die  Türen  versiegelt,  alles  war 
beschlagnahmt.  Auf  EINs  Anfrage,  was  mit  den  Dingen  geschehe,  riet  man  ihr  sehr  vorsichtig  zu 
sein  und  keine  Forderungen  zu  stellen,  sonst  sei  sie  an  der  Reihe...  So  schnell  wie  möglich 
machte  sie  sich  auf  den  Rückweg,  denn  Elsass-Lothringen  war  inzwischen  Deutsch  geworden. 
Zurück  in  Vittel  war  der  Verkauf  der  Ware  recht  gut  vorangegangen.  Die  wenigen  Stücke,  die 
übrig  geblieben  waren,  nahmen  sie  mit  nach  Hause.  Die  Deutschen  hatten  nun  vor,  das  Geld 
vom  Erlös  der  Ware,  nach  Bordeaux  zu  überweisen,  womit  sich  EIN  aber  nicht  einverstanden 
erklärte.  Sie  verhandelte  so  lange,  bis  sie  mit  dem  Bargeld  in  der  Tasche  endlich  zurückfahren 
konnten.  EINs  Onkel  war  mächtig  stolz  auf  seine  geschäftstüchtige  Schwiegertochter.  Nun 
konnte  die  sechsköpfige  Familie  endlich  wieder  die  notwendigsten  Dinge  einkaufen  und 
brauchte  so  schnell  nicht  wieder  zu  hungern. 

EIN  mied  die  Cafes,  die  nur  für  Juden  bestimmt  waren,  denn  hier  konnten  die  Nazis  jederzeit 
Zuschlägen.  Eines  Tages  ging  sie  mit  ihrer,  um  einige  Jahre  jüngere  Cousine  Regine  in  ein 
„normales“  Cafe,  an  dem  ein  Schild  stand  „Für  Juden  Zutritt  verboten“  und  forderte  wieder 
einmal  das  Schicksal  heraus.  Die  Tante  ermahnte  EIN  beim  Weggehen  noch:  „Wie  kannst  Du 
ohne  Judenstern  ausgehen?“  Worauf  EIN  erwiderte:  „Wie  könnte  ich  mit  Judenstern 
ausgehen?“.  Die  beiden  jungen  Frauen  setzten  sich  im  Cafe  an  einen  Tisch,  bestellten  Kaffee 
und  Kuchen  und  EIN  merkte,  wie  sie  die  Aufmerksamkeit  dreier  deutscher  Offiziere  auf  sich 
zog,  die  am  Nebentisch  saßen.  Einer  von  ihnen  kam  an  EINs  Tisch  und  obwohl  sich  EIN  mit 
Regine  auf  Französisch  unterhielt  fragte  er  sie,  ob  sie  Deutsche  sei.  EIN  war  erstaunt  und 
erschrocken  zugleich  und  wollte  wissen,  wieso  er  das  annehme.  Er  gab  ihr  unverblümt  zu 
verstehen,  dass  die  Art,  wie  sie  sich  hingesetzt  hatte,  sehr  deutsch  sei.  Von  diesem  Tag  an 
änderte  EIN  ihr  „Hinsetz-Gebaren“,denn  als  Deutsche  durfte  sie  keinesfalls  auffallen.  Sie  schlug 
von  nun  an  die  wohlgeformten  Beine  dekorativ  übereinander,  ließ  den  Rocksaum  ein  paar 


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Zentimeter  höher  rutschen  und  zündete  sich  beim  Hinsetzen  eine  Zigarette  an. Von  jetzt  an 
war  sie  die  „Grande  Dame“,  und  man  verwechselte  sie  nicht  mehr  mit  einer  Deutschen.  Als 
der  junge  Offizier  von  Elli  wissen  wollte,  was  sie  in  Bordeaux  mache,  sagt  sie  ihm  direkt  ins 
Gesicht,  sie  sei  Jüdin,  dass  sie  sich  ständig  verstecken  müsse,  da  sie  von  den  Deutschen  gejagt 
und  verfolgt  würde.  Sie  sagte  ihm  auch,  dass  sie  ein  menschenunwürdiges  Leben  führe  und  kei- 
nerlei Rechte  besäße.  Aus  tiefstem  Herzen  hoffte  sie,  dass  die  Deutschen  den  angezettelten 
Krieg  verlieren  mögen.  Denn  sie  führten  ja  keinen  Krieg  gegen  Länder,  sondern  gegen  eine 
Rasse  und  Religion,  dabei  könnte  sie  weiß  Gott  nichts  dafür,  dass  sie  als  Jüdin  geboren  wurde. 
Eine  Partei  suche  man  sich  aus,  aber  die  Herkunft  und  den  Glauben  könne  man  nicht  selbst 
bestimmen.  Und  da  sie  nun  mal  das  Pech  habe,  Jüdin  zu  sein,  sei  ihre  Zukunft  der  sichere  Tod. 
Dieser  junge  Soldat  hätte  für  Elli  gefährlich  werden  können.  Vielleicht  haben  ihn  ihre  Worte, 
ihr  energisches  Auftreten,  ihre  ganze  Erscheinung  beeindruckt.  Jedenfalls  hat  er  sie  nicht 
verraten. 

Während  der  ganzen  Zeit  war  Ellis  einziges  Sinnen  und  Trachten,  ihre  Mutter  nach  Frankreich 
zu  holen,  denn  die  Nazis  hatten  schon  schrecklich  in  Österreich  gewütet.  Charles,  Ellis 
jüngerer  Vetter,  war  bereits  mit  seinen  damals  12  Jahren  sehr  geschäftstüchtig  und  suchte  sich 
bei  den  deutschen  Soldaten  auf  der  Strasse  Übersetzungsjobs.  Da  er  auch  blond  und 
blauäugig  war,  schöpfte  niemand  Verdacht,  dass  er  jüdisch  sein  könnte.  Er  vermittelte  auch  Elli 
eine  Stelle  in  einem  Tabakladen,  wo  sie  dolmetschte.  Natürlich  fanden  die  jungen  Männer 
Gefallen  an  der  hübschen  Blondine  und  hätten  sie  gerne  eingeladen.  Aber  jedes  Mal  erfand  sie 
eine  andere  herz  zerreißende  Geschichte,  um  sich  der  jungen  Soldaten  zu  entledigen. 
Manchmal  erzählte  sie  von  ihren  drei  Kindern,  die  sie  versorgen  müsse,  ein  andermal  sprach 
sie  von  ihrem  verwundeten  Mann,  den  sie  zu  Hause  zu  pflegen  hätte.  Jedem  tischte  sie  eine 
andere  Variante  ihrer  Geschichten  auf,  um  nicht  mit  ihnen  ausgehen  zu  müssen.  Das  Risiko,  als 
Jüdin  erkannt  zu  werden,  war  einfach  zu  groß.  Zwar  konnte  sich  Elli  in  dem  Laden  ein  paar 
Franc  dazuverdienen,  die  zu  Hause  auch  sehr  willkommen  waren,  andererseits  verstrickte  sie 
sich  immer  mehr  in  neue  Schauer-  und  Lügengeschichten,  dass  sie  selbst  nach  einer  Weile 
nicht  mehr  auseinander  halten  konnte,  wem  sie  was  erzählt  hatte.  Als  ihre  Situation  zu  heikel 
wurde,  gab  sie  ihre  Tätigkeit  auf. 

Jemand  gab  ihr  einen  Tipp,  dass  ein  Spanier  eine  Schreibkraft  mit  Deutschkenntnissen  suchte. 
Sie  bewarb  sich  sofort  und  war  genau  die  richtige  Person  für  ihn.  Der  Spanier  kaufte 
waggonweise  Obst  und  Gemüse  auf  und  verkaufte  es  an  die  Deutschen.  Die  patriotischen 
Franzosen  hingegen  weigerten  sich,  den  Deutschen  nur  irgendetwas  an  Gütern  zu  verkaufen. 
Elli  stellte  die  Rechnungen  auf  Deutsch  aus,  das  ersparte  dem  Spanier  die  lange  Wartezeit  der 
Übersetzung  und  er  konnte  sofort  sein  Geld  kassieren.  Der  Spanier  machte  während  dieser 
Zeit  sehr  gute  Geschäfte,  und  Elli  lebte  auch  nicht  schlecht  davon.  Als  erstes  kaufte  der  neue 
Chef  Elli  eine  Uhr,  damit  sie  pünktlich  zum  Dienst  erscheinen  konnte.  Auch  fehlte  es  jetzt 
nicht  mehr  an  neuer  Garderobe,  die  Elli  sehr  zu  schätzen  wusste,  denn  ihr  Gehalt  war 
fürstlich.  Es  hatte  sich  bis  zu  dem  Spanier  herumgesprochen,  dass  in  Bayonne  ein  kleines 
Geschäft  existierte,  das  vom  Schwarzhandel  lebte.  Er  bat  Elli  eines  Tages,  doch  einmal 
mitzukommen,  sie  könne  dort  auch  etwas  für  sich  und  ihre  Familie  einkaufen.  Elli  nahm  die 
halbstündige  Bahnfahrt  nur  zu  gern  in  Kauf,  denn  die  halbverhungerte  Familie  war  dankbar  für 
alles,  was  Elli  mitbrachte.  Nach  ungefähr  drei  Wochen  bat  der  Spanier  Elli  nochmals,  ihn  nach 
Bayonne  zu  begleiten.  Elli  freute  sich,  dass  sie  der  Familie  wieder  etwas  mitbringen  konnte.  Im 
Bahnhof  von  Bayonne  standen  einige  Waggons  auf  dem  Abstellgleis,  die  von  einem 


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französischen  Soldaten  mit  Maschinengewehr  bewacht  wurden.  Auf  Ellis  Befragen,  was  es  mit 
den  Eisenbahnwagen  auf  sich  habe,  antwortete  der  Aufpasser,  dass  sich  in  diesem  Zug  Juden 
aus  Luxemburg  befänden,  die  er  bewachen  müsste,  da  sie  das  Gelände  nicht  verlassen 
dürften.  Beim  Stichwort  „Juden  aus  Luxemburg“  spitzte  Elli  die  Ohren.  Sie  bat  den  Soldaten 
nachschauen  zu  dürfen,  ob  nicht  „ihre  große  Liebe“,  die  sie  in  Luxemburg  hatte,  dabei  sei  - 
und  von  der  sie  so  plötzlich  getrennt  wurde.  Der  dienstbeflissene  Waffenträger  verneint,  es 
seien  doch  Juden,  außerdem,  wenn  die  Deutschen  das  erführen,  sei  er  seinen  Posten  los.  Doch 
Elli  ließ  nicht  locker,  mit  ihrem  süßen  Lächeln,  den  himmelblauen  flehenden  Augen,  stimmte  sie 
schließlich  den  Wachmann  um.  Er  rief  ihr  noch  nach:  „Pass  auf,  es  sind  Juden  dort  drin!“ 
Während  sie  am  Zug  entlang  lief,  der  mit  Menschen  voll  gestopft  war,  erkannten  sie  die  Leute 
aus  Luxemburg  wieder  die  riefen:  „Fritz,  Fritz,  deine  Schwester  ist  da“.  Fritz  sprang  so  schnell 
es  ging  aus  dem  Zug  und  die  Geschwister  lagen  einander  in  den  Armen.  Aber  da  kam  auch 
schon  der  französische  Aufseher  aufgeregt  angerannt  und  meinte:  „Schnell  in  den  Zug,  damit 
die  Deutschen  sie  nicht  sehen“.  Der  ältere  Bruder,  Felix,  der  gerade  seine  — vom  Roten  Kreuz 
ausgeteilte  - Suppe  aß,  ließ  sein  Essgeschirr  fallen,  als  er  Elli  erblickte.  Inzwischen  hatte  er  eine 
Frau,  namens  Gerda,  geheiratet,  die  er  in  Luxemburg  kennen  gelernt  hatte  und  mit  der  er  in 
die  Dominikanische  Republik  ausreisen  wollte. 

Die  fünfzig  Luxemburger  Emigranten  konnten,  trotz  des  Visums  für  die  Dominikanische 
Republik,  die  spanische  Grenze  nicht  passieren.  Sie  hatten  die  Freiheit  vor  Augen,  konnten 
jedoch  den  Abfahrtshafen,  Lissabon,  vorläufig  nicht  erreichen.  Sie  steckten  letzten  Endes 
mehrere  Monate  in  Bayonne  fest.  In  der  Grenzstadt  befand  sich  bereits  ein  - von  den 
Deutschen  errichtetes  - Lager,  in  dem  viertausend  jüdische  Flüchtlinge  aus  Deutschland 
untergebracht  waren. 

Der  „Obersturmbannführer“,  Adolf  Eichmann,  der  das  Amt  4 der  Gestapo  - im 
Reichssicherheitsdiensthauptamt  - inne  hatte,  war  verantwortlich  für  die  „Judenfrage“  in 
Deutschland,  vor  allem  in  den  von  den  Deutschen  besetzten  Gebieten.  Eichmann  zitierte  am 
24.  April  1941  den  Großrabbiner  von  Luxemburg  nach  Berlin,  er  wurde  von  einer  jüdischen 
Delegation  begleitet.  Die  Abordnung  stieg  im  ersten  Hotel  Berlins,  dem  legendären  „Adlon 
Hotel“,  ab. Von  dort  aus  gingen  sie  ins  Reichssicherheitshauptamt,  Kurfürsten  Straße  I 1 6,  wo 
Eichmann  sie  pünktlich  empfing.  Die  Delegation  wurde  von  Eichmann  äußerst  brutal 
behandelt.  Er  erklärte,  dass  Luxemburg  ein  deutscher  Gau  sei  und  „judenrein“  gemacht 
werden  müsse. Außerdem  sollte  sich  der  Großrabbiner  Serebrenik  darum  kümmern,  dass  die 
inzwischen  viertausend  deutsche  Juden  an  der  französisch-spanischen  Grenze  bald  ausreisen 
könnten,  sonst  führen  sie  mit  den  Zügen  in  östliche  Richtung  - in  die  Konzentrationslager... 
(Information  aus  dem  Buch:  „Longtemps  j'aurai  memoire“,  Dokumente  von  Zeitzeugen  über 
die  Juden  in  Luxemburg  während  des  Zweiten  Weltkrieges,  von  Paul  Cerf). 

(Einige  Zeit  später  kamen  noch  etliche  Luxemburger  Juden,  die  ein  Visum  für  ein  Drittland  in 
der  Tasche  hatten,  in  den  Konzentrationslagern  um.) 

Die  Deutschen  hatten  für  die  Emigranten,  die  auf  der  Durchreise  nach  Portugal  waren,  jedoch 
von  den  Spaniern  keine  Einreiseerlaubnis  erhielten,  eine  Notunterkunft  in  einem  alten 
Weinlager  eingerichtet.  Da  sie  von  dort  nicht  weg  durften  und  bewacht  wurden,  konnte  man 
von  einem  Gefangenenlager  sprechen,  wo  sie  mehrere  Monate  bleiben  mussten. 

Hier  in  Bayonne,  wo  die  Brüder,  die  sich  auf  der  Durchreise  von  Luxemburg  nach  Portugal 
befanden  und  hier  zunächst  gestrandet  waren,  bekam  Elli  endlich  die  neue  Adresse  ihrer 
Mutter,  die  sich  immer  noch  in  Wien  aufhielt.  Seit  sie  selbst  auf  der  Flucht  war,  hatte  sie  nichts 


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mehr  von  ihr  gehört,  nun  konnte  sie  wieder  Kontakt  mit  ihr  aufnehmen.  An  Tag  des 
Wiedersehens  mit  ihren  Brüdern  ging  Elli  weder  einkaufen,  noch  fuhr  sie  nach  Bordeaux 
zurück,  sie  blieb  bei  ihnen,  für  alle  war  ein  wunderbarer  Traum  in  Erfüllung  gegangen.  Elli  fuhr 
von  nun  an  öfter  in  die  Grenzstadt  und  besuchte  ihre  Geschwister,  aber  sie  musste  ständig 
auf  der  Hut  sein.  In  dieser  Zeit  starb  ihr  Onkel  in  Bordeaux  an  einer  Schilddrüsenoperation. 
Ellis  Brüder  konnten  es  irgendwie  einrichten,  heimlich  an  der  Beerdigung  teilzunehmen.  Als 
der  wachhabende  Soldat,  der  immer  noch  die  Aufsicht  über  die  Gefangenen  hatte,  eines  Tages 
zu  Elli  sagte:  „Sie  sind  ja  die  Judenmutter  hier“,  war  das  ein  Zeichen  aufaupassen.  Es  war  das 
letzte  Mal,  dass  sie  ihre  Brüder  und  die  Freunde  besuchte,  denn  sie  wusste  ja,  bald  würden  sie 
in  Freiheit  und  somit  in  Sicherheit  sein. 

Elli  nahm  Verbindung  mit  ihrer  Mutter  auf  und  versprach  ihr,  sie  so  bald  wie  möglich  nach 
Frankreich  zu  holen.  Ihre  Devise  war,  wenn  sie  ihre  Mutter  nicht  retten  kann,  dann  wolle  sie 
auch  nicht  mehr  leben,  danach  handelte  sie  während  der  ganzen  Zeit. 

Elli  hörte  von  einer  Frau,  die  auch  Wienerin  wie  sie  selbst  war,  die  für  die  Wehrmacht  und  für 
die  französische  Prefekture  Übersetzungen  machte  und  auch  Passierscheine  ausstellte.  Diese 
gewisse  Frau  Schneider,  Ehefrau  eines  damals  berühmten  Fußballspielers,  der  gerade  noch  in 
Algerien  zu  einem  Match  angetreten  war  und  im  nächsten  Moment  in  Bordeaux  stecken  blieb, 
engagierte  sich  kurz  entschlossen,  um  als  Dolmetscherin  zu  arbeiten.  Elli  suchte  sie  auf,  und 
es  gab  zwischen  den  beiden  Wienerinnen  eine  herzliche,  ja  feierliche  Begrüßung.Treu  und  brav 
schilderte  Elli  der  Frau  Schneider  ihre  Situation  und,  dass  sie  für  ihre  Tante  und  ihre  drei 
Kinder  Passierscheine  benötigte,  damit  sie  ins  unbesetzte  Frankreich  gelangen  könnten. 
Zuerst  wollte  Elli  ihre  Familie  in  Sicherheit  bringen,  um  sich  dann  intensiv  um  die  Ausreise 
ihrer  Mutter  aus  Wien  zu  kümmern.  Frau  Schneider  stellte  die  gewünschten  Passierscheine 
(gegen  gute  Bezahlung)  aus  und  gab  Elli  den  Rat:  „Wenn  Sie  Ihre  Mutter  retten  wollen,  sollten 
Sie  sich  bei  der  „Kriegsmarine-Dienststelle“  bewerben,  die  sucht  immer  Angestellte,  die  in 
Frankreich  wohnen  und  Deutsch  sprechen,  damit  sparen  sie  sich  das  Personal  aus 
Deutschland.  Und  wenn  Sie  vier  oder  fünf  Monate  dort  arbeiten,  bekommen  Sie 
Heimaturlaub.  Es  wird  Ihnen  ein  Urlaubsschein  ausgestellt,  mit  dem  Sie  Ihre  Mutter  nach 
Frankreich  holen  können.  Geht  die  Sache  gut,  so  haben  Sie  beide  Glück  gehabt,  geht  es  schief, 
dann  sind  sie  beide  verloren“.  Elli  war  sich  des  Risikos  bewusst,  aber  sie  wollte  sich  nicht  die 
geringste  Chance  entgehen  lassen,  um  ihre  Mutter  aus  den  Fängen  der  Nazis  zu  befreien. 
Bereits  am  nächsten  Tag  meldete  sie  sich  bei  der  „Kriegsmarine-Dienststelle“  und  fragt  nach 
Arbeit.  Ohne,  dass  sie  nach  Religion  und  Alter  befragt  wurde,  stellte  man  sie  gleich  ein.  Man 
führte  sie  in  das  Büro,  in  dem  sie  arbeiten  sollte  und  stellte  sie  ihren  Arbeitskollegen  vor.  Es 
waren  drei  Männer  und  zwei  Frauen,  die  mit  ihr  in  einem  Büroraum  saßen.  Elli  begrüßte  alle 
mit  einem  zackigen  „Heil  Hitler“.  Sie  hatte  bei  der  „Kriegsmarine-Dienststelle“  die  ein-  und 
ausgehende  Post  sorgfältig  einzutragen  und  Botengänge  zu  machen.  Nach  kurzer  Zeit 
erledigte  sie  die  ihr  aufgetragenen  Arbeiten  zur  größten  Zufriedenheit  aller.  Elli  war  bei  ihren 
Kollegen  sehr  geschätzt  und  wohlgelitten  und  da  sie  Französisch  sprach,  bat  man  sie  des 
Öfteren  - auch  privat  - das  eine  oder  andere  Teil  zu  besorgen.  Da  Elli  immer  hilfsbereit  und 
mit  dem  Fahrrad  recht  flexibel  war,  erledigte  sie  diese  Aufträge  prompt.  Manchmal  besorgte 
sie  Eier,  Stoffe  oder  Strümpfe.  Ihr  Chef,  der  sie  inzwischen  ins  Herz  geschlossen  hatte,  rief  sie 
immer  mit  ihrem  Nachnamen:  „Thau'chen,  jetzt  komm  doch  mal  her...“  Jedes  Mal  zitterten 
ihre  Knie,  lief  es  ihr  heiß  und  kalt  gleichzeitig  den  Rücken  hinunter.  Wann  immer  sie  gerufen 
wurde,  dachte  sie:  „Jetzt  ist  es  aus,  gleich  fliegt  alles  auf*.  Manchmal  bat  ihr  Chef  sie,  für  seine 


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Frau  Seidenstrümpfe  oder  andere  Kleinigkeiten  zu  kaufen  und  Elli  übernahm  diese  Aufgaben 
gerne. 

Nachdem  Ellis  Tante  mit  ihren  drei  Kindern  im  unbesetzten  Teil  Frankreichs  Unterschlupf 
gefunden  hatte,  war  sie  selbst  zunächst  bei  Bekannten  notdürftig  untergekommen.  Dann  ließ 
ihr  Chef  eigens  für  sie  eine  Wohnung  beschlagnahmen,  damit  sie,  als  Angestellte  der 
„Kriegsmarine-Dienststelle“,  eine  adequate  Wohnung  zur  Verfügung  hatte.  Der  Gedanke,  dass 
irgendjemand  ihretwegen  seine  Wohnung  räumen  musste,  war  ihr  unangenehm.  Bald  durfte  sie 
ihre  Mahlzeiten  in  der  Offiziersmesse  einnehmen.  Eines  Tages  teilte  sie  beim  Mittagessen  einen 
Tisch  mit  zwei  Schwestern  aus  Hamburg,  sie  hießen  Lilo  und  Sepp  Allermann.  Die  Eine  nahm 
ein  Glas  und  sagt:  „Wenn  ich  wüsste,  dass  aus  diesem  Glas  eine  Jüdin  getrunken  hätte,  ich 
würde  sterben“.  Elli  nahm  demonstrativ  das  Glas,  trank  daraus  und  stellte  es  wieder  hin.  Lange 
ahnten  die  Schwestern  nicht,  dass  Elli  Jüdin  war.  Im  Laufe  der  Zeit  entstand  nicht  nur  ein 
freundschaftliches,  sondern  ein  sehr  herzlich  Verhältnis  zu  ihnen  und  mit  der  Zeit  wurden  sie 
Freundinnen.  Und  weil  die  Geschwister  beide  in  denselben  jungen  Mann  verliebt  waren,  mit 
dem  sie  manchmal  Probleme  hatten,  musste  Elli  herhalten,  Missverständnisse  ausräumen  oder 
ihren  Streit  schlichten  und  sie  alle  versöhnen.  Elli  konnte  jetzt  fast  ein  normales  Leben  führen, 
sie  war  ein  Teil  der  , Alltags-Gesellschaft“  und  fühlte  sich  wieder  als  Mensch. 

Nach  drei  Monaten  bei  der  „Kriegsmarine-Dienststelle“  - natürlich  mit  dem  all  morgen-  und 
all  abendlich  frisch  herausgerufenen  „Heil  Hitler“  - fühlte  sich  Elli  fast  selbst  schon  wie  eine 
Deutsche  und  nicht  wie  eine  Verfolgte.  Fast  vergaß  sie  den  Krieg  und  das  damit  verbundene 
Elend,  aber  nur  fast... 

In  Arcachon  besaß  die  Kriegsmarine  ein  herrliches  Anwesen.  Auf  diesem  schönen  Sitz  am 
Meer  durften  die  Angestellten  der  Kriegsmarine  die  Wochenenden  oder  die  Ferien 
verbringen.  Auch  Elli  kam  an  manchen  Wochenenden  mit  ihren  Freundinnen  in  dieses 
Ferienparadies  und  sie  fühlte  sich  jedes  Mal  wie  eine  Fürstin. 

Aber  die  ständige  Angst,  jeden  Moment  entdeckt  zu  werden,  strapazierten  ihre  Nerven.  Eines 
Tages  passierte,  was  sie  immer  befürchtet  hatte.  Jemand  denunzierte  sie  bei  der  Kriegsmarine. 
Diese  Person  hatte  sie  dort  ein-  und  ausgehen  sehen,  oder  aber  kannte  ihre  Familie.  Herr 
Kleemann,  ihr  Chef,  stellte  sie  sogleich  zur  Rede.  Erfinderisch,  wie  Elli  nun  mal  war,  sie  wirkte 
äußerst  gelassen  und  behielt  die  Nerven,  erzählte  sie  von  dem  jüdischen  Austauschstudenten 
aus  Frankreich,  den  sie  in  Wien  durch  ihren  Vater,  der  ja  Professor  am  Gymnasium  war, 
kennen  gelernt  hatte.  Als  sie  ihn  wieder  in  Frankreich  besuchte  und  sah,  wie  wohlhabend  die 
Familie  war  und  welch  angenehmes  Leben  sie  führten,  habe  sie  von  diesem  Reichtum  ein 
wenig  profitieren  wollen.  Da  der  junge  Mann  Elli  sehr  gern  mochte,  heirateten  sie  kurze  Zeit 
später.  Dabei  habe  sie  nicht  darauf  geachtet,  dass  er  Jude  sei,  dieses  habe  sie  mit  1 8 Jahren 
noch  nicht  bedacht.  Jetzt  aber  lebe  sie  von  ihm  getrennt,  und  er  halte  sich  jetzt  im 
unbesetzten  Teil  Frankreichs  auf.  Elli  spielte  die  Rolle  der  naiven  und  überrumpelten  Ehefrau 
grandios,  während  sich  Herr  Kleemann  Notizen  machte.  Er  schrieb:  „Frau  Thau  war  zum 
Zeitpunkt  der  Ehe  minderjährig  und  sich  der  Rassenschande  nicht  bewusst“.  Er  schickte  einen 
Brief  an  das  Wiener  Gericht,  um  diese  Ehe  annullieren  zu  lassen.  Elli  war  ganz  Elend  zumute, 
sie  wusste,  dass  durch  dieses  Schreiben  der  so  dringend  ersehnte  Heimaturlaub  ins  Wasser 
fallen  könnte.  Dieser  Brief  hätte  alle  ihre  Pläne  zunichte  gemacht.  Sie  selbst  schrieb  den  Brief 
an  das  Wiener  Gericht,  das  war  ja  ihre  Aufgabe,  stempelte  ihn  ab,  nahm  ihn  mit,  gab  ihn  aber 
nicht  auf.  Und  während  Herr  Kleemann  auf  Nachricht  aus  Wien  wartete,  wurde  Elli  immer 
unruhiger.  Sie  wusste  nun,  dass  ihre  Tage  bei  der  „Kriegsmarine-Dienststelle“  gezählt  waren. 


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Kurze  Zeit  nach  diesem  Ereignis  feierte  die  Kriegsmarine  ein  großes  Fest.  Die  „Bismarck“ 
hatte  am  24.  Mai  1 94 1 das  britische  Flaggschiff  „Hood“  versenkt.  (Bevor  sie  selbst  drei  Tage 
später  von  britischen  Torpedos  getroffen  wurde  und  südwestlich  vor  Irland  im  Atlantik 
versank).  Dies  war  natürlich  ein  Grund  zum  Feiern.  Der  Admiral  selbst  lud  alle  Angestellten 
der  „Kriegsmarine-Dienststelle“  zu  diesem  Festakt  ein.  Natürlich  war  auch  Elli  mit  ihren 
beiden  Freundinnen  dabei.  Als  die  Feier  ihren  Höhepunkt  erreichte,  alle  zufrieden  und 
glücklich  waren,  fing  Elli  an  zu  weinen.  Sie  vertrug  keinen  Alkohol  und  wenn  sie  trank,  verfiel 
sie  in  eine  tiefe  Melancholie.  So  passierte  es  auch  an  diesem  harmonischen  Abend.  Der 
Admiral  wurde  auf  ihr  Schluchzen  aufmerksam  und  meinte;  „Wie  kann  man  denn  weinen  an 
solch  einem  schönen  Tag?“  Sie  erzählte  unter  Tränen,  dass  sie  so  lange  nicht  zu  Hause  in  Wien 
war,  dass  sie  so  Heimweh  habe  und  die  anderen  Kollegen  schon  alle  auf  Heimaturlaub  waren. 
Der  Admiral  zeigte  sich  an  diesem  ganz  speziellen  Tag  von  der  jovialen  Seite  und  meinte:  „ es 
ist  wohl  ein  Tag  Gutes  zu  tun“  und  befahl  ihrem  Chef;  „Herr  Indentatura,  einen  Urlaubsschein 
für  zwei  Wochen  für  diese  junge  Dame,  Heil  Hitler“.  (Indentatura  - Intendant,  war  in 
früheren  Jahren  ein  gebräuchlicher  Name  für  einen  Verwaltungsbeamten,  der  an  die  strenge 
Weisung  des  Königs  gebunden  war). 

Herr  Kleemann  gab  Elli  den  Urlaubsschein  mit  den  Worten:  „Na  Thau'chen,  da  hast  du  ja 
Glück  gehabt,  aber  bei  der  Gelegenheit  gehst  du  gleich  zum  Wiener  Gericht  und  schaust  nach 
Deinen  Scheidungspapieren“.  Elli  bereitete  sich  einige  Tage  auf  diese  Reise  vor.  Sie  besorgte 
kleine  Geschenke  und  etwas  zu  essen  für  ihre  Mutter  und  erhielt  ein  Ausweispapier  auf  den 
Namen  „Elisabeth  Thau-Koch";  das  Geburtsdatum  war  mit  „7. 1 1.18“  anstatt  „191 8“ 
angegeben.  Sie  erhielt  zwei  Fahrkarten,  eine  für  die  Hinfahrt,  die  andere  für  die  Rückfahrt  mit 
dem  Wehrmachtszug. 

Und  so  fuhr  eine  Jüdin,  mitten  im  Krieg,  in  aller  Seelenruhe,  bequem  und  angenehm  inmitten 
von  Militär  nach  Wien.  In  Metz  hatte  der  Zug  eine  Stunde  Aufenthalt  und  Elli  eilte  geschwind 
in  das  ehemalige  Geschäft  ihrer  Familie,  sie  wollte  nur  nachsehen,  ob  noch  irgendetwas  von 
dem  Eigentum  des  Onkels  vorhanden  war.  Sie  fand  nichts  mehr  von  dem  Familienbesitz  vor. 
Aber  eine  ehemalige  Nachbarin  erkannte  Elli  und  rief  händeringend:  „Eine  Jüdin,  eine  Jüdin  ist 
hier“.  Doch  Elli  erwiderte:  „Hör  auf  zu  jammern  und  zu  schreien,  ich  bin  keine  Jüdin  mehr,  man 
hat  mir  mein  ganzes  Blut  herausgenommen,  ich  habe  jetzt  reines  arisches  Blut  in  mir.“  Die 
Frau  schaute  Elli  fassungslos  an  und  schien  ihr  zu  glauben. 

Morgens  in  aller  Frühe  kam  Elli  in  Wien  an  und  ging  direkt  zur  Adresse  ihrer  Mutter.  Die  hau- 
ste immer  noch  in  einem  fürchterlichen  Kellerloch.  Mutter  und  Tochter  fielen  sich  in  die  Arme. 
Zu  diesem  Zeitpunkt  bekamen  die  restlichen  — in  Wien  verbliebenen  — Juden  immer  noch  von 
den  Nazi-Behörden  Vorladungen,  sich  zu  melden.  Wer  sich  meldete  kam  in  ein  Sammellager 
und  wurde  ins  „Niemandsland“  verschleppt  - die  meisten  nach  Auschwitz.  Ellis  Mutter  hatte 
nie  auf  Behördenbescheide  reagiert,  sie  hoffte,  baute  und  vertraute  auf  ihre  Tochter,  dass  sie 
eines  Tages  kommen  und  sie  retten  würde  und  nun  war  es  endlich  soweit.  Ohne  viel  Zeit  zu 
verlieren,  arbeitete  Elli  ihren  Rettungsplan  aus.  Sie  ließ  ihrer  Mutter  die  Rückfahrkarte  da,  kauf- 
te sich  eine  neue  und  fuhr  eine  Woche  später  mit  ihrem  Urlaubsschein  zurück  nach  Bordeaux. 
Sie  setzte  auf  das  vierzehn  Tage  gültige  Dokument,  das  in  ihrem  Büro  ausgestellt  wurde,  das 
Bild  ihrer  Mutter,  stempelte  alles  ordnungsgemäß  ab,  denn  sie  saß  ja  an  der  Quelle.  Das  Datum 
von  „18“  ändert  sie  auf  „1898“,  dies  war  das  Geburtsjahr  ihrer  Mutter  und  schickte  dieses 
kostbare  Papier  mit  einem  Anschreiben  nach  Wien:  „Liebe  Frau  Koch, 

versehentlich  habe  ich  Ihre  Urlaubsbescheinigung  mitgenommen  und  lege  sie  diesem  Brief 

I I 


bei,  damit  Sie  noch  rechtzeitig  von  Ihrem  Urlaub  zurückkommen  können“. 

Im  Büro  will  man  von  Elli  wissen,  was  sie  in  Wien  beim  Gericht  erreicht  hat.  Sie  erklärt,  sie 
habe  niemanden  angetroffen,  der  für  ihre  Sache  zuständig  war,  viele  seien  im  Urlaub  gewesen. 
Elli  hatte  ihrer  Mutter  genau  erklärt,  wo  sie  in  Metz  umsteigen  müsse  und  wann  der  Zug  in 
Bordeaux  ankomme.  Bis  zur  Ankunft  ihrer  Mutter  hatte  Elli  keine  ruhige  Minute  mehr;  sie 
schlief  nicht,  war  nervös,  sie  hat  Angst.  Sie  suchte  sich  schon  eine  Brücke  aus,  von  der  sie 
hinunter  springen  wollte  — falls  die  Flucht  misslang.  Sie  war  sich  darüber  im  Klaren,  dass  sie, 
wenn  ihre  Tat  auffiel,  sofort  verhaftet  und  ins  Lager  geschickt  würde.  Da  zog  sie  es  doch  vor, 
freiwillig  in  den  Tod  zu  gehen.  Die  letzten  drei  Tage  und  Nächte  wurden  für  Elli  zum  reinsten 
Alptraum.  Am  besagten  Morgen  stand  Elli  schon  sehr  zeitig  am  Bahnsteig  und  wartete  auf  den 
Wehrmachtszug  aus  Wien  - und  tatsächlich,  ihre  Mutter  stieg  wohlbehalten  in  Bordeaux  aus. 
Sie  waren  beide  überglücklich  über  die  gelungene  Ausreise  aus  dem  Nazi-Reich  und  fielen  sich 
in  die  Arme.  Berta  Koch  erzählte  von  ihrer  abenteuerlichen  Reise  inmitten  ihrer  Verfolger.  Um 
nicht  viel  reden  zu  müssen,  hatte  Frau  Koch  eine  Backenbinde  angelegt  wie  man  sie  früher  bei 
Zahnweh  trug.  Als  der  Kontrolleur  seine  Runde  machte,  sagte  er  zu  der  jungen  Frau  neben 
Berta  Koch:  „Mit  Ihren  Papieren  stimmt  etwas  nicht,  schauen  Sie  nur  diese  Frau  an,  bei  der  ist 
alles  in  Ordnung“.  Die  mitreisenden  Soldaten  boten  Berta  Koch  Zigaretten  an,  waren  freund- 
lich und  zuvorkommend. 

Schon  nach  kurzer  Zeit  bereitete  Elli  die  Reise  ihrer  Mutter  ins  südliche,  unbesetzte 
Frankreich  vor.  Dort  sollte  sie  bei  ihrer  Schwester,  die  zuvor  in  Metz  wohnte  und  die  sie  seit 
vierundzwanzig  Jahren  nicht  mehr  gesehen  hatte,  in  Agde  (bei  Montpellier),  bleiben.  Elli 
tauschte  das  Bild  auf  ihrer  Kennkarte  gegen  das  ihrer  Mutter  aus  und  die  Reise  konnte 
beginnen.  Elli  wollte  jetzt  nur  noch  ihr  letztes  Monatsgehalt  kassieren  und  dann  nach 
Südfrankreich  nachkommen.  Sie  war  überglücklich,  dass  ihre  Mutter  endlich  die  Freiheit 
erlangt  hatte. 

Nur  wenige  Tage,  nachdem  die  Mutter  aus  Bordeaux  abgereist  war,  rief  der  Chef  Elli  zu  sich 
und  teilt  ihr  mit,  (er  muss  in  der  Zwischenzeit  einen  zweiten  Brief  an  das  Wiener  Gericht 
geschickt  haben)  dass  er  aus  Wien  eine  Antwort  auf  sein  Schreiben  bekommen  habe  mit  dem 
Hinweis,  dass  Elli  Jüdin  sei.  Herr  Kleemann  griff  zum  Telefonhörer  und  wollte  Meldung  bei  der 
Gestapo  machen.  Elli  ging  zum  Fenster,  was  im  dritten  Stock  lag  und  sagt  ihm,  wie  wohl  sie 
sich  bei  der  „Kriegsmarine-Dienststelle“  gefühlt  habe,  wie  ein  Mensch  sei  sie  sich  inmitten 
ihrer  Kollegen  vorgekommen.  Sie  sagt  ihm,  dass  sie  für  ihre  Herkunft  nicht  könne  und  lieber 
solle  er  sie  erschießen  als  sie  der  Gestapo  zu  übergeben.  Herr  Kleemann  ließ  sich  von  der 
verzweifelt  kämpfenden  und  ihm  ausgelieferten  zarten  Person  erweichen.  Er  legte  den 
Telefonhörer  auf  und  machte  ihr  den  Vorschlag,  sie  solle  zunächst  zwei  Tage  lang  in  ihrer 
Wohnung  auf  Nachricht  von  ihm  warten,  er  werde  in  der  Zwischenzeit  mit  den  anderen 
Kollegen  beraten,  was  mit  ihr  geschehen  soll.  Ellis  Freundinnen,  Lilo  und  Sepp  Allermann, 
wurden  zum  Chef  gerufen,  man  teilte  ihnen  mit,  dass  Elli  entlassen  sei  und  dass  sie  nicht  mehr 
mit  ihr  reden  dürfen,  da  sie  eine  Jüdin  sei. 

Schmerzerfüllt,  entmutigt  und  hoffnungslos  verließ  Elli  die  „Kriegsmarine-Dienststelle“.  Sie 
schwang  sich  auf  ihr  Fahrrad  und  wollte  gerade  davoneilen,  sah  aber  im  letzten  Augenblick  ihre 
Freundinnen  wild  gestikulierend  hinter  sich  herlaufen.  Die  Angst  packte  Elli,  denn  sie 
erinnerte  sich  nur  zu  gut  an  ihre  antisemitischen  Äußerungen  und  strampelt,  was  die  Pedale 
hielt...  An  einer  Kreuzung  musste  sie  anhalten.  Die  beiden  Mädchen  holten  sie  ein, fielen  über 
Elli  her,  küssten,  herzten,  umarmten  sie,  entschuldigten  sich  für  alles,  was  sie  Elli  mit  ihrem 


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bei,  damit  Sie  noch  rechtzeitig  von  Ihrem  Urlaub  zurückkommen  können“. 

Im  Büro  will  man  von  Elli  wissen,  was  sie  in  Wien  beim  Gericht  erreicht  hat.  Sie  erklärt,  sie 
habe  niemanden  angetroffen,  der  für  ihre  Sache  zuständig  war,  viele  seien  im  Urlaub  gewesen. 

Elli  hatte  ihrer  Mutter  genau  erklärt,  wo  sie  in  Metz  umsteigen  müsse  und  wann  der  Zug  in 
Bordeaux  ankomme.  Bis  zur  Ankunft  ihrer  Mutter  hatte  Elli  keine  ruhige  Minute  mehr;  sie 
schlief  nicht,  war  nervös,  sie  hat  Angst.  Sie  suchte  sich  schon  eine  Brücke  aus,  von  der  sie 
hinunter  springen  wollte  - falls  die  Flucht  misslang.  Sie  war  sich  darüber  im  Klaren,  dass  sie, 
wenn  ihre  Tat  auffiel,  sofort  verhaftet  und  ins  Lager  geschickt  würde.  Da  zog  sie  es  doch  vor, 
freiwillig  in  den  Tod  zu  gehen.  Die  letzten  drei  Tage  und  Nächte  wurden  für  Elli  zum  reinsten 
Alptraum.  Am  besagten  Morgen  stand  Elli  schon  sehr  zeitig  am  Bahnsteig  und  wartete  auf  den 
Wehrmachtszug  aus  Wien  - und  tatsächlich,  ihre  Mutter  stieg  wohlbehalten  in  Bordeaux  aus. 
Sie  waren  beide  überglücklich  über  die  gelungene  Ausreise  aus  dem  Nazi-Reich  und  fielen  sich 
in  die  Arme.  Berta  Koch  erzählte  von  ihrer  abenteuerlichen  Reise  inmitten  ihrer  Verfolger.  Um 
nicht  viel  reden  zu  müssen,  hatte  Frau  Koch  eine  Backenbinde  angelegt  wie  man  sie  früher  bei 
Zahnweh  trug.  Als  der  Kontrolleur  seine  Runde  machte,  sagte  er  zu  der  jungen  Frau  neben 
Berta  Koch:  „Mit  Ihren  Papieren  stimmt  etwas  nicht,  schauen  Sie  nur  diese  Frau  an,  bei  der  ist 
alles  in  Ordnung“.  Die  mitreisenden  Soldaten  boten  Berta  Koch  Zigaretten  an,  waren  freund- 
lich und  zuvorkommend. 

Schon  nach  kurzer  Zeit  bereitete  Elli  die  Reise  ihrer  Mutter  ins  südliche,  unbesetzte 
Frankreich  vor.  Dort  sollte  sie  bei  ihrer  Schwester,  die  zuvor  in  Metz  wohnte  und  die  sie  seit 
vierundzwanzig  Jahren  nicht  mehr  gesehen  hatte,  in  Agde  (bei  Montpellier),  bleiben.  Elli 
tauschte  das  Bild  auf  ihrer  Kennkarte  gegen  das  ihrer  Mutter  aus  und  die  Reise  konnte 
beginnen.  Elli  wollte  jetzt  nur  noch  ihr  letztes  Monatsgehalt  kassieren  und  dann  nach 
Südfrankreich  nachkommen.  Sie  war  überglücklich,  dass  ihre  Mutter  endlich  die  Freiheit 
erlangt  hatte. 

Nur  wenige  Tage,  nachdem  die  Mutter  aus  Bordeaux  abgereist  war,  rief  der  Chef  Elli  zu  sich 
und  teilt  ihr  mit,  (er  muss  in  der  Zwischenzeit  einen  zweiten  Brief  an  das  Wiener  Gericht 
geschickt  haben)  dass  er  aus  Wien  eine  Antwort  auf  sein  Schreiben  bekommen  habe  mit  dem 
Hinweis,  dass  Elli  Jüdin  sei.  Herr  Kleemann  griff  zum  Telefonhörer  und  wollte  Meldung  bei  der 
Gestapo  machen.  Elli  ging  zum  Fenster,  was  im  dritten  Stock  lag  und  sagt  ihm,  wie  wohl  sie 
sich  bei  der  „Kriegsmarine-Dienststelle“  gefühlt  habe,  wie  ein  Mensch  sei  sie  sich  inmitten 
ihrer  Kollegen  vorgekommen.  Sie  sagt  ihm,  dass  sie  für  ihre  Herkunft  nicht  könne  und  lieber 
solle  er  sie  erschießen  als  sie  der  Gestapo  zu  übergeben.  Herr  Kleemann  ließ  sich  von  der 
verzweifelt  kämpfenden  und  ihm  ausgelieferten  zarten  Person  erweichen.  Er  legte  den 
Telefonhörer  auf  und  machte  ihr  den  Vorschlag,  sie  solle  zunächst  zwei  Tage  lang  in  ihrer 
Wohnung  auf  Nachricht  von  ihm  warten,  er  werde  in  der  Zwischenzeit  mit  den  anderen 
Kollegen  beraten,  was  mit  ihr  geschehen  soll.  Ellis  Freundinnen,  Lilo  und  Sepp  Allermann, 
wurden  zum  Chef  gerufen,  man  teilte  ihnen  mit,  dass  Elli  entlassen  sei  und  dass  sie  nicht  mehr 
mit  ihr  reden  dürfen,  da  sie  eine  Jüdin  sei. 

Schmerzerfüllt,  entmutigt  und  hoffnungslos  verließ  Elli  die  „Kriegsmarine-Dienststelle“.  Sie 
schwang  sich  auf  ihr  Fahrrad  und  wollte  gerade  davoneilen,  sah  aber  im  letzten  Augenblick  ihre 
Freundinnen  wild  gestikulierend  hinter  sich  herlaufen.  Die  Angst  packte  Elli,  denn  sie 
erinnerte  sich  nur  zu  gut  an  ihre  antisemitischen  Äußerungen  und  strampelt,  was  die  Pedale 
hielt...  An  einer  Kreuzung  musste  sie  anhalten.  Die  beiden  Mädchen  holten  sie  ein, fielen  über 
Elli  her,  küssten,  herzten,  umarmten  sie,  entschuldigten  sich  für  alles,  was  sie  Elli  mit  ihrem 


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dummen  Gerede  angetan  hatten.  Sie  erzählten  ihr,  wie  sie  in  der  Schule  ständig  gegen  Juden 
aufgehetzt  wurden,  dass  Juden  böse  und  schlecht  seien,  dass  man  sie  hassen  und  umbringen 
müsse.  Juden  wurden  für  alles  Negative,  Schändliche,  Gemeine,  Niedrige  und  Verbrecherische 
verantwortlich  gemacht.  Und  nun  ist  eine  Jüdin  ihre  beste  Freundin,  eine  treue  und  liebe  Seele. 
Es  war  eine  erschütternde,  jedoch  sehr  menschliche  Szene,  die  sich  mitten  auf  der  Strasse 
abspielte. 

Elli  blieb  zwei  Tage  lang  in  ihrem  Zimmer,  die  beiden  Mädchen  besuchten  Elli  und  brachten  ihr 
etwas  zu  essen,  sie  zweigten  von  ihren  spärlichen  Rationen  etwas  für  ihre  Freundin  ab,  denn 
vorher  hatte  sie  mit  ihnen,  das  Wenige,  was  ihr  blieb,  geteilt.  Nach  zwei  Tagen  der  Beratung 
hatten  ihre  ehemaligen  Vorgesetzten  beschlossen,  dass  Elli  frei  sei  und  Bordeaux  so  schnell  wie 
möglich  verlassen  sollte.  Sie  fiel  ihrem  Chef  um  den  Hals  und  sagt:  „Ich  wusste,  dass  Sie  mich 
freilassen,  ein  Mensch  mit  Herz  kann  mich  doch  nicht  der  Gestapo  ausliefern“.  Danach  fuhr 
sie  geradewegs  nach  Nizza,  wohin  Ellis  Mutter  mit  ihrer  Schwester  und  den  beiden  Kindern 
inzwischen  übersiedelt  waren.  Ellis  taubstummer  Mann  war  bei  einem  Schneider  in 
Südfrankreich  untergekommen,  denn  er  hatte  dieses  Handwerk  gelernt.  Eine  französische 
Familie  nahm  sich  seiner  an  und  da  er  nicht  sprechen  konnte,  wurde  er  nie  von  den  Deutschen 
behelligt  oder  verfolgt.  Er  heiratete  später  eine  ebenfalls  taubstumme  Frau  und  das  Ehepaar 
bekam  einen  nicht  behinderten  Sohn. 

Endlich  war  Elli  mit  ihrer  Familie  in  Nizza  zusammen.  Dort  waren  die  Familienmitglieder  in 
einem  billigen  und  etwas  verwahrlosten  Hotel  - mitten  in  der  Stadt  - untergekommen  und 
bewohnten  zwei  Zimmer.  Das  Hotels  war  überfüllt  mit  jüdischen  Flüchtlingen. 

Am  I l.l  1.1942  marschierten  deutsche  Truppen  in  das  bislang  unbesetzte  Frankreich  ein  und 
verbreiteten  auch  hier  Angst  und  Schrecken  unter  der  Bevölkerung  und  speziell  bei  den  Juden. 
Sie  zogen  den  Männern  die  Hose  aus,  um  nachzusehen,  ob  sie  beschnitten  waren.  Menschen 
sprangen  aus  lauter  Verzweiflung  aus  den  Fenstern,  es  herrschten  plötzlich  Chaos  und 
katastrophale  Verhältnisse  in  dem  sonst  so  beschaulichen  Badeort. 

Elli,  ihre  Mutter,  die  Tante  mit  den  beiden  Kindern,  Charles  und  Regine,  teilten  sich  zu  fünft 
die  beiden  Hotelzimmer.  Die  Kinder  schliefen  abwechselnd  mal  bei  der  eigenen  Mutter  und 
mal  bei  der  Tante.  In  jener  verhängnisvollen  und  tödlichen  Nacht,  beharrte  der 
dreizehnjährige  Charles  darauf,  das  Zimmer  mit  seiner  Mutter  alleine  zu  teilen  und  schickt 
seine  Schwester  zu  Elli  und  ihrer  Mutter.  Das  war  die  unglückselige  Nacht,  wo  die  Nazis 
Razzien  auf  Juden  machten  und  dabei  alle  Hotels  stürmten.  Sie  rissen  die  ahnungslosen 
Menschen  aus  ihrem  tiefsten  Schlaf.  Es  blieb  ihnen  kaum  Zeit  sich  anzuziehen,  sie  wurden 
gewaltsam  zu  den  bereits  wartenden  Zügen  gezerrt,  deren  Endstation  Auschwitz  war.  Aus 
einem  nicht  erklärlichen  Grunde  wurde  Ellis  Zimmer,  wo  sie  mit  ihrer  Mutter  und  der 
Cousine  schlief,  übersehen  oder  vergessen,  jedenfalls  blieben  sie  unentdeckt  und  somit  von 
der  Deportation  verschont. 

Die  neuerliche,  dramatische  Situation  im  sonnigen  Nizza,  verstörte  und  beängstigte  Elli  sehr 
und  sie  beschloss  mit  der  Mutter  und  der  kleinen  Cousine  wieder  nach  Bordeaux  zu  fahren. 
Dort  kannte  sie  sich  aus,  hatte  Freunde,  von  denen  sie  wusste,  dass  sie  sie  unterbringen 
würden.  Allerdings  mussten  sie  dazu  mit  dem  Zug  fahren  und  die  von  den  Deutschen  - quer 
durch  Frankreich  - errichtete  Grenze,  passieren.  Aus  diesem  Grunde  war  auf  dieser  Fahrt  mit 
einer  Kontrolle  zu  rechnen.  Da  Ellis  Mutter  eine  falsche  Identitätskarte  besaß,  ja,  ihren 
französischen  Namen  nicht  einmal  richtig  aussprechen  konnte,  bestand  natürlich  für  sie  alle 
die  große  Gefahr,  entdeckt  zu  werden.  Trotz  der  großen  Lebensgefahr  gingen  sie  das  Risiko 


13 


der  Zugfahrt  ein.  Frau  Koch  bekam  von  Elli  den  Rat,  während  der  ganzen  Fahrt  zu  schweigen. 
Das  Abteil  war  voll  besetzt.  Die  Cousine  war  noch  so  jung,  dass  sie  kein  Erkennungspapier 
brauchte.  Ein  deutscher  Offizier  kontrollierte  während  der  Fahrt  die  Ausweise  der 
Mitreisenden.  Als  Berta  Koch  an  die  Reihe  kam,  berührte  Ellis  Hand  leicht  die  des  jungen 
Offiziers  und  sie  fragt  ganz  kokett  mit  süßer  Stimme,  ob  er  vielleicht  eine  Zigarette  für  sie 
habe.  Der  Soldat  war  verwundert  und  gleichzeitig  hocherfreut,  dass  die  unbekannte  Schöne 
seiner  Sprache  mächtig  war.  Der  Offizier  gab  ihr  eine  Zigarette,  reichte  ihr  Feuer  auf  dem 
Gang  und  Elli  verwickelte  ihn  in  ein  interessantes  Gespräch.  Dabei  vergaß  er  die  Kontrolle  bei 
Berta  Koch  und  wieder  einmal  kamen  sie  mit  heiler  Haut  und  unbehelligt  davon. 

In  Bordeaux  konnten  sie  tatsächlich  in  dem  kleinen  Gartenhäuschen  von  Ellis  Bekannten 
wohnen.  Es  war  alles  bescheiden  und  provisorisch  eingerichtet,  aber  es  ließ  sich  darin  leben. 
Ständig  auf  der  Flucht  und  nirgendwo  gemeldet,  standen  ihnen  auch  keine  Lebensmittel  zu,  die 
es  auf  Bezugsscheine  gab.  Nun  musste  sich  Elli  wieder  etwas  einfallen  lassen  damit  die  Familie 
nicht  verhungerte.  Zwar  lebten  sie  vorläufig  noch  von  Schmuck  und  kleinen  Goldstückchen, 
die  sie  gegen  Brot  oder  andere  Lebensmittel  eintauschten,  aber  irgendwann  war  alles 
aufgebraucht. 

Elli  versuchte  sich  als  Sekretärin  durchzuschlagen.  Sie  hatte  aber  nur  wenig  Erfahrung  in 
diesem  Beruf  und  dementsprechend  unbefriedigend  waren  auch  ihre  Leistungen.  Sie 
arbeitete  oftmals  nur  zwei  oder  drei  Tage  in  einer  Firma,  bis  man  sie  entließ.  Aber  jedes  Mal 
wurden  ihr  die  wenigen  Tage  der  Arbeit  ausgezahlt  und  konnten  sich  so  einigermaßen  über 
Wasser  halten.  Eines  Tages  kam  Elli  an  einer  Autowerkstatt  vorbei.  Dort  hing  ein  Schild 
„SEKRETÄRIN  GESUCHT“.  Elli  versuchte  ihr  Glück  und  von  zehn  Mitbewerberinnen  wurde 
ausgerechnet  sie  ausgesucht  und  konnte  gleich  am  nächsten  Morgen  um  acht  Uhr  dort 
beginnen.  Ihr  Chef  verlangte  sie  sofort  zum  Diktat.  Sie  gestand,  dass  sie  keine  Stenographie 
beherrsche  und  der  geduldige  Mann  notiert  auf  einem  Zettel  vor,  was  Elli  zu  schreiben  hatte. 
Nervös  und  in  Schweiß  gebadet,  versuchte  Elli,  das  Papier  mit  den  drei  Kopien  in  die  Maschine 
zu  spannen.  Es  gelang  ihr  jedoch  nur  nach  vielen  Mühen.  Nach  dem  ersten  Satz  gab  sie  auf,  sie 
erklärte,  dass  ihre  Schreibmaschinenkenntnisse  gleich  Null  wären  und  sie  außerdem  seine 
Schrift  nicht  lesen  könne.  Nun  wurde  ihr  Chef  reichlich  ungeduldig  und  rief:  „Was  ist  das  für 
eine  Sekretärin,  Steno  kann  sie  nicht,  Maschinenschreiben  kann  sie  nicht,  und  jetzt  hapert  es 
auch  noch  mit  dem  Lesen“.  Da  brach  Elli  in  Tränen  aus  und  erzählte:  „Ich  bin  Flüchtling,  Jüdin, 
lebe  mit  meiner  Mutter  und  Cousine  versteckt,  wir  müssen  doch  leben,  aber  ich  weiß  nicht 
von  was,  deshalb  habe  ich  mich  hier  bei  Ihnen  um  diese  Stelle  beworben.  Aber  nun  sehe  ich, 
dass  ich  dieser  Aufgabe  nicht  gewachsen  bin.  Besser  gehe  ich  jetzt“.  Der  Besitzer  rief  seinen 
Direktor  und  gab  Anweisung,  er  solle  Elli  irgendeine  gerade  anfallende  Aufgabe  geben,  nur  um 
Gottes  Willen  solle  er  dafür  sorgen,  dass  er  endlich  eine  ordentliche  Sekretärin  bekäme.  Zu 
Elli  gewandt  meinte  er:  „Wenn  das  Leben  Sie  in  solch  eine  Situation  gebracht  hat  und  Sie  sich 
so  tapfer  verteidigen  und  kämpfen  müssen,  wie  Sie  es  jetzt  getan  haben,  dann  kann  ich  nur 
voller  Bewunderung  meinen  Hut  ziehen.  Denn  auch  ich  habe  eine  Tochter  in  ihrem  Alter  und 
möchte  sie  immer  behütet  und  beschützt  wissen“. 

Wie  immer  und  überall  war  Elli  auch  hier  der  Liebling  aller  Kollegen.  Nach  einigen  Monaten 
wurde  die  Garage  von  der  deutschen  Wehrmacht  regelmäßig  besucht,  denn  die  Deutschen 
ließen  hier  ihre  defekten  Autos  reparieren.  Um  sich  nicht  vor  den  Deutschen  zu  zeigen, 
erledigte  sie  nun  ihre  Arbeit  in  den  hinteren  Räumen.  Elli  machte  den  Vorschlag,  die 
Rechnungen  auf  Deutsch  auszustellen,  das  spare  die  Übersetzung  und  die  damit  verbundene 


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lange  Wartezeit  der  Bezahlung.  Sie  besorgte  sich  ein  Wörterbuch  und  lernte  so  die  einzelnen 
Autoteile  im  Nu  kennen.  Ihr  Chef  war  begeistert,  alles  klappte  und  funktionierte  bestens.  Elli 
stellte  sogar  Rechnungen  für  andere  französische  Firmen  aus,  die  ihr  Vorgesetzter  ihr 
vermittelte,  und  die  ebenfalls  mit  den  Deutschen  zusammenarbeiteten.  Elli  hatte  nun  ein  regel- 
mäßiges Einkommen  und  die  drei  Frauen  konnten  passabel  davon  leben. 

So  ging  es  bis  zum  Kriegsende  weiter.  Die  Deutschen  kapitulierten  und  zogen  aus  Bordeaux 
ab,  nicht,  ohne  vorher  noch  wilde  Verwüstungen  anzurichten.  Da  Ellis  Chef  die  Autos  der 
deutschen  Wehrmacht  repariert  hatte,  sperrte  man  ihn  als  Kollaborateur  ins  Gefängnis.  Elli 
besuchte  ihren  Chef  in  der  Strafanstalt  und  erzählte  den  zuständigen  Beamten,  dass  sie  als 
Jüdin  bei  dem  Gefangenen  gearbeitet  und  er  nicht  nur  sie,  sondern  ihre  ganze  Familie 
gerettet  habe.  Auf  ihre  Intervention  hin,  ließ  man  ihren  ehemaligen  Arbeitgeber  frei. 

Nachdem  die  Deutschen  das  Land  verlassen  hatten,  gab  es  für  Elli  keine  Übersetzungsarbeit 
mehr.  Sie  befand  sich  wieder  einmal  auf  Stellensuche,  jedoch  ohne  Erfolg.  In  Bordeaux 
installierte  sich  die  jüdische  Hilfsorganisation  „Federation  juive  de  France“.  Sie  kümmerte  sich 
um  Menschen,  die  sich  in  Bordeaux  und  Umgebung  während  des  Krieges  versteckt  gehalten 
hatten  - oder  um  jüdische  Flüchtlinge,  die  ständig  eintrafen,  um  nach  ihren  Verwandten  zu 
suchen.  Auch  Elli  forschte  hier  nach  Familienmitgliedern,  aber  zunächst  noch  erfolglos.  Da  sie 
nun  keine  Arbeit  und  kein  Einkommen  hatte,  sie  jedoch  alle  von  etwas  leben  mussten, 
beschloss  Elli  mit  einer  Freundin  nach  Marseille  zu  fahren,  um  dort  vom  Schwarzhandel  zu 
profitieren.  Sie  hatte  schon  viel  davon  gehört,  und  seit  die  Amerikaner  dort  angekommen 
waren,  blühte  und  gedieh  der  Schwarzmarkt-Handel.  Sie  legten  ihre  ganze  Barschaft 
zusammen  und  wollten  Kaffee  und  Zigaretten  schmuggeln,  um  die  Ware  später  in  Bordeaux 
weiterzuverkaufen.  Die  beiden  Frauen  mieteten  sich  in  einem  billigen  Hotel  ein  und  ließen  sich 
in  einem  einschlägigen  Cafe  im  Gangster  Viertel  nieder.  Hier  beobachteten  sie  das  Treiben  und 
warteten  auf  einen  „Händler“:  alles  schien  bestens  geplant.  Als  ein  Interessent  zu  ihnen  kam 
und  über  ein  Geschäft  verhandelte,  verschwanden  die  drei  Personen  zur  „Übergabe“  in  einen 
dunklen  Hausflur.  Dort  riss  der  Mann  ihnen  die  Handtasche  weg,  rannte  in  Windeseile  davon 
und  verschwand  im  Gewühl  der  Menschen  spurlos  und  auf  Nimmerwiedersehen.  Nicht  nur 
die  Tasche  mit  dem  Bargeld  war  verschwunden,  sondern  auch  alle  Ausweispapiere.  Nun  stan- 
den die  beiden  Frauen  ratlos  da,  das  vorher  so  gut  geplante  „Geschäft“  war  mit  einem  Schlag, 
wie  eine  Seifenblase  zerplatzt. 

Nachdem  sie  den  ersten  Schock  überwunden  hatten,  gingen  sie  zur  Polizei  und  zeigten  den 
Diebstahl  an.  Aber  hier  konnte  man  ihnen  nicht  weiterhelfen.  Außerdem  waren  sie  in  einer 
illegalen  Mission  unterwegs  gewesen.  Man  gab  ihnen  den  Rat,  bei  der  jüdischen 
Hilfsorganisation  vorzusprechen.  Obwohl  es  bereits  nach  achtzehn  Uhr  war  und  das  Büro 
geschlossen  hatte,  fassten  sich  die  beiden  Frauen  ein  Herz  und  läuteten  an  der  Tür.  Aus  dem 
oberen  Stockwerk  blickte  ein  Herr  aus  dem  Fenster  und  fragte  nach  ihren  Wünschen.  Elli  sah 
ihn  wie  versteinert  an:  Es  war  ihr  Onkel,  FrederikThau,  der  Bruder  des  verstorbenen  Onkels 
aus  Metz,  er  war  hier  Leiter  der  „Federation  Juive  de  France“  in  Marseille.  Es  handelte  sich 
um  eine  jüdische  Hilfsorganisation,  die  dem  „JOINT“  angeschlossen  war.  Diese  Organisation 
wurde  in  den  20er  Jahren  in  Amerika  gegründet,  um  in  Not  geratenen  Juden  zu  helfen  und  sie 
finanziell  zu  unterstützen.  Der  „JOINT“  hatte  bereits  vor  Beginn  des  Zweiten  Weltkrieges 
versucht,  die  in  Deutschland  lebenden  Juden  herauszuholen  und  sie  in  andere  Länder  zu 
bringen.  Die  meisten  Menschen  aber  glaubten  nicht,  dass  es  zu  so  einem  schlimmen  Ausmaß, 
wie  dem  des  Holocaust,  kommen  würde.  Der  Onkel  bat  die  beiden  Frauen  ins  Haus  und  Elli 


15 


musste  zunächst  einmal  Schelte  einstecken,  dass  sie  sich  auf  solch  eine  Art  von  Geschäft 
eingelassen  hatte.  Aber  er  half  ihnen  weiter.  Vorerst  konnten  sie  bei  ihm  wohnen  und  essen, 
dann  erhielt  Elli  provisorische  Ausweisdokumente,  mit  denen  sie  zurück  nach  Bordeaux 
reisen  konnte.  Der  Onkel,  ein  Witwer,  schlug  vor,  dass  die  ganze  Familie  - oder  was  von  ihr 
übrig  geblieben  war  — nach  Marseille  übersiedeln  sollte,  dann  wollte  man  weitersehen... 

In  Marseille  wird  Elli  die  rechte  Hand  ihres  Onkels  bei  der  jüdischen  Organisation  und  ist  sehr 
glücklich,  dass  nun  endlich  die  Familienmitglieder  beisammen  sind.  Die  Mutter  führte  den 
Haushalt  und  war  froh.  Regine  in  ihrer  Nähe  zu  haben,  denn  um  ihr  Französisch  war  es  immer 
noch  nicht  gut  bestellt.  Elli  war  oft  unterwegs  und  hatte  viel  zu  tun,  denn  seit  dem  Kriegsende 
wurde  Frankreich  zu  einem  Zufluchtsort  für  die  Juden  aus  aller  Welt.  Es  musste  nach  Platz  für 
Flüchtlingslager  gesucht  und  mit  den  Behörden  über  Räumlichkeit  und  Unterbringung 
verhandelt  werden.  Das  Flüchtlingslager  „La  Ciotat“  entstand.  Ebenfalls  war  es  Ellis  Aufgabe, 
sich  um  die  ehemaligen  KZ-Häftlinge  zu  kümmern,  die  nach  und  nach  in  Frankreich  eintrafen. 
Körperlich  und  seelisch  mussten  diese  Menschen  aufgerichtet  und  versorgt  werden.  Und  weil 
die  Hoffnung  bestand,  dass  von  Marseille  aus  Schiffe  nach  Palästina  fuhren,  kamen  viele  Juden 
in  die  Hafenstadt,  manche  im  Alleingang  über  die  Schweiz,  andere  - die  Mehrheit  - durch 
jüdische  Organisationen.  Plötzlich  tauchten  Menschen  auf,  die  sich  in  Marokko,  Ägypten, 
Algerien,  u.s.w.  während  der  Kriegsjahre  versteckt  gehalten  hatten,  alle  wollten  nun  nach  „Erez 
Israel“  gelangen. 

In  diesem  Nachkriegs-Chaos  wurden  täglich  Suchmeldungen  im  Radio  gesendet.  Eines  Tages 
forschten  KZ-Überlebende  in  einem  Pariser  Krankenhaus  nach  ihren  Angehörigen.  Elli,  die 
diese  Sendung  immer  verfolgte,  schreckte  auf  als  der  Name,  „Charles  Thau“.  fiel,  der  nach 
seiner  Familie  fahndete.  Elli  machte  sich  eilends  auf,  um  in  die  Hauptstadt  zu  gelangen.  Im 
Pariser  Hospital,  wo  hunderte  von  jämmerlichen  Gestalten  nebeneinander  lagen,  die  eher 
aussahen  wie  Skelette,  als  menschliche  Wesen  konnte  man  sie  kaum  noch  bezeichnen,  suchte 
Elli  die  Reihen  ab.  Alle  sahen  sie  uralt,  eingefallen,  mehr  tot  als  lebendig  aus.  Aus  tiefen  dunklen 
Augenhöhlen  schaute  Elli  unendlich  viel  Leid  und  Trauer  entgegen  und  sie  suchte  verzweifelt 
nach  ihrem  Cousin  Charles,  den  sie  aber  nirgendwo  entdeckte.  Plötzlich  erhob  sich  ein 
Knochengestell  langsam  vom  Lager  und  rief  mit  schwacher  Stimme:  „Elli,  Elli!“  Da  stand  er 
nun,  der  einstmals  blonde  Junge  mit  dem  dicken  lockigen  Haarschopf  und  den  schönen 
blauen  Augen,  kahl  geschoren  und  völlig  eingefallen,  wie  einer,  der  dem  Tod  gerade  noch  von 
der  Schippe  gesprungen  war.  Sie  umarmten  sich  und  Elli  hatte  Angst,  sie  könne  seine  fragilen 
Körper  mit  den  herausstehenden  Knochen  beim  leichtesten  Druck  zerbrechen.  Rasch  besorgt 
sie  ihm  bei  der  Organisation  Kleidung,  bekam  für  ihn  Essen  und  eine  Fahrkarte  und  nahm  ihn 
mit  nach  Marseille.  Ein  Junge  von  16  Jahren,  der  von  einem  alten  Mann  nicht  zu  unterscheiden 
war. 

Zuhause  erzählte  er  von  den  grausamen  Geschehnissen  in  Auschwitz,  wie  er  und  seine  Mutter 
gleich  bei  der  Ankunft  in  Birkenau  getrennt  wurden.  Sie  standen  in  verschiedenen 
Warteschlangen,  um  aussortiert  zu  werden.  „Sag  ihnen,  dass  Du  1 6 Jahre  alt  bist“  raunte  ihm 
die  Stimme  seines  Vordermannes  zu.  Diese  Falschaussage  rettete  Charles  das  Leben.  Als  die 
Mutter  in  der  anderen  Schlange  an  die  Reihe  kam,  schaute  sie  sich  verzweifelt  und  Hilfe 
suchend  nach  ihrem  Sohn  um.  Sie  wurde  auf  die  Seite  der  Todeskandidaten  geschoben.  Sie  rief 
ihrem  Sohn  noch  zu:  „Charles,  wo  bringen  sie  mich  hin?“  Weiter  kam  sie  nicht,  sie  erhielt  einen 
kräftigen  Schlag  auf  den  Kopf  und  wurde  sofort  vergast. 


16 


Bis  zur  Befreiung  verbrachte  Charles  zweieinhalb  Jahre  im  Konzentrationslager  in  Auschwitz- 
Birkenau.  Trotz  schwerer  Arbeit,  Schlägen  und  vieler  Demütigungen  hat  er  überlebt.  Zwei 
Dinge  haben  ihn  sehr  wütend  gemacht,  die  konnte  er  den  Nazis  nie  verzeihen,  erstens,  dass 
man  ihm  seinen  Kopf  kahl  schor  und  seine  üppige  Lockenpracht  entfernte,  zweitens,  den  Tag, 
als  er  auf  sein  Mittagessen,  eine  dünne  Suppe,  wartete.  Er  hatte  sich  ganz  hinten  in  die  Reihe 
gestellt,  in  der  Hoffnung,  er  könnte  seine  Ration  aus  dem  unteren  Teil  des  Suppenkessels,  wo 
sich  vielleicht  einige  dicke  Stücke  Kartoffeln  oder  Gemüse  befanden,  erhaschen.  Aber  als 
Charles  an  die  Reihe  kam,  war  der  Suppentopf  leer  und  er  musste  auf  den  nächsten  warten, 
bei  dem  man  ihm  von  ganz  oben  eine  Wasserbrühe  schöpfte.  Wenn  über  Nacht  ein  Mensch 
starb,  so  versuchten  die  Lagerinsassen  seine  Leiche  ein  paar  Tage  zu  verstecken,  damit  sie  die 
Brotration  des  Toten  noch  erhielten. 

Charles  lebt  heute  noch  in  Frankreich,  er  ist  verheiratet  und  hat  zwei  Söhne.  Seine  Manie  ist, 
dass  bei  keiner  Mahlzeit  das  Brot  fehlen  darf,  auch  wenn  es  nicht  gegessen  wird,  es  muss  nur 
griffbereit  daliegen,  denn  die  Angst  vor  dem  Verhungern  sitzt  einfach  zu  tief.  (Vielleicht  ist  sein 
Sohn,  David,  deshalb  Bäcker  und  Konditor  geworden  und  betreibt  ein  Cafe  in  Miami). 

Die  „Federation  Juive  de  France“  in  Marseille,  bei  der  Ellis  Onkel  Vorsitzender  war  und  sie 
seine  Mitarbeiterin,  war  unermüdlich  im  Einsatz.  Sie  stellten  nicht  nur  Kollektiv-Visa  aus, 
sondern  kümmerten  sich  selbstlos  und  pflichtbewusst  um  die  vielen  Menschen,  die  körperlich 
und  seelisch  am  Ende  waren.  Der  Ansturm  der  Asylanten  in  der  französischen  Hafenstadt  war 
kaum  zu  bewältigen.  Aber  wohin  sollten  sich  die  ehemaligen  KZ-Häftlinge  wenden?  Dort,  wo 
sie  einmal  beheimatet  waren,  gab  es  für  sie  keinen  Aufenthalt,  kein  Zuhause  mehr,  sie  waren 
unerwünscht.  Man  hatte  den  Menschen  alles  genommen  was  ihnen  lieb  und  teuer  war,  selbst 
die  Würde  war  manchen  abhanden  gekommen.  Nach  einer  jahrlangen  schlimmen  Odyssee 
wurde  ihnen  sogar  die  Heimat  verweigert.  In  den  Lagern  waren  sie  nur  Nummern  gewesen, 
nun  gehörten  sie  zu  den  so  genannten  „dp's“  „displaced  persons“.  Diese  einsamen,  innerlich 
zutiefst  zerrissenen  und  zerbrochenen  und  vom  Schicksal  gezeichneten  Menschen  hatten  nur 
noch  einen  Wunsch  und  eine  Hoffnung,  Europa  so  schnell  wie  möglich  hinter  sich  zu  lassen 
und  nach  Palästina  zu  gelangen.Aber  die  Engländer  sperrten  ihnen  mit  ihrer  Flotte  den  Seeweg 
ins  gelobte  Land.  Es  waren  zum  Teil  kleine,  kümmerliche  Schiffe,  die  mit  Flüchtlingen  bis  an  die 
Grenze  der  Tragfähigkeit  voll  gestopft  waren,  die  fast  alle  von  den  Engländern  an  der 
Weiterfahrt  gehindert  wurden.  Die  ganze  Welt  empörte  sich  über  das  Verhalten  der  Briten, 
denn  die  bereits  vom  Schicksal  geschlagenen  Menschen  landeten  - nach  Tagen  der  qualvollen 
Enge  auf  den  Schiffen  — auf  der  Insel  Zypern  und  wurden  dort  wieder  in  einem  Lager  mit 
Stacheldraht  und  Wachposten  untergebracht. 

Eines  Tages  weigerten  sich  die  Menschen,  die  im  Hafen  von  Toulon  auf  den  umgebauten 
Frachtschiffen  auf  ihre  Abfahrt  warteten  — und  von  den  Engländern  daran  gehindert  wurden— 
von  Bord  zu  gehen.  Es  entstand  eine  ähnliche  Situation  wie  auf  der  „EXODUS“  oder  der 
„GELOBTES  LAND“  vor  Zypern.  Die  Menschen  an  Bord  verschanzten  sich  und  gaben  selbst 
nach  einer  Woche  nicht  auf.  Um  diese  Kranken,  Alten,  Kinder,  KZ-Geschädigten  und 
Schwachen  zu  versorgen,  war  wieder  der  Einsatz  der  Organisation  gefordert,  an  der  Elli 
selbstverständlich  in  erster  Linie  mit  beteiligt  war.  Ärzte  und  Hilfspersonal  kümmerten  sich 
um  die  armen  Geschöpfe  und  versorgen  sie  mit  dem  Notwendigsten. Trotzdem  konnte  nicht 
verhindert  werden,  dass  einige  schwer  kranke,  erschöpfte  und  geschwächte  Menschen,  auf 
dem  Schiff  starben. 


17 


In  der  Zwischenzeit  bemühten  sich  die  Juden,  einen  eigenen  autonomen  Staat  zu  gründen.  Sie 
wollten  nicht  länger  unter  der  Herrschaft  und  dem  Joch  der  Engländer  stehen,  die  sie  nicht 
vor  angreifenden  Nachbarn  schützten.  Nur  1 5.000  Personen  im  Jahr  gewährten  sie  Einlass 
nach  Palästina.  Sie  erlaubten  nur  sehr  alten  Menschen  und  Kindern  die  Einreise.  Einwanderer 
im  wehrfähigen  Alter  wurden  ganz  bewusst  nicht  aufgenommen.  Bereits  seit  Ende  des 
19.  Jahrhunderts  versuchten  die  Anhänger  des  Zionismus  die  Wiedererrichtung  eines 
jüdischen  Staates  in  Palästina  zu  erreichen.  Dies  gelang  erst  am  14.  Mai  1 948,  als  der  Staat  Israel 
gegründet  wurde.  Im  Herbst  1 947  wurde  dieses  jüdische  Anliegen  vor  die  Vollversammlung 
der  UNO  gebracht.  Für  die  Annahme  des  Beschlusses  einer  Teilung  Palästinas  war  eine 
Zweidrittelmehrheit  erforderlich.  Am  Freitag,  den  29.  November  1947,  wurde  in  einer 
Vollversammlung  der  UNO  über  die  Teilung  Palästinas  abgestimmt.  Die  Mitglieder  des 
„JISCHUW“,  eine  zionistische  Weltorganisation,  deren  Mitglieder  mit  einer  zwölfköpfigen 
Delegation  vertreten  waren,  gaben  sich  keiner  Illusion  hin,  da  sie  sich  bereits  seit  Jahren  um 
einen  eigenen  Staat  bemüht  hatten.  Zur  Überraschung  aller  Beteiligten,  kam  die 
Zweidrittelmehrheit  zustande.  Die  Engländer  zogen  im  Frühjahr  l948ab.Am  14.  Mai  1948  war 
es  endlich  soweit,  die  Errichtung  eines  jüdischen  Staates  war  erreicht  und  die  Unabhängigkeit 
wurde  ausgerufen.  Die  Menschen  jubelten  und  freuten  sich  - und  das  nicht  nur  im  neuen 
Staate  Israel,  sondern  auf  der  ganzen  Welt.  Überall  wo  Juden  lebten,  wurde  dieser  Triumph 
gefeiert.  Nach  Zweitausend  Jahren  war  die  Wiedergeburt  Israels  zur  Wirklichkeit  geworden. 

Auch  in  Frankreich  wurde  dieser  Tag  feierlich  begangen.  Die  im  Hafen  liegenden  Schiffe 
erhielten  unverzüglich  ihre  neue  Blau-Weiße  Flagge  mit  dem  Davidstern  und  konnten  von  nun 
an  unbehelligt  nach  Israel  gelangen.  Frederik  Thau  wurde  der  erste  israelische  Konsul  in 
Marseille.  Elli  blieb  weiterhin  seine  rechte  Hand  - und  enge  Vertraute.  Für  Elli  fiel  ab  jetzt  noch 
eine  ganz  andere  Art  von  Arbeit  an.  Zwar  kümmerte  sie  sich  nach  wie  vor  um  den  nicht 
abreißen  wollenden  Strom  von  Flüchtlingen,  aber  sie  bewegte  sich  von  nun  an  in 
diplomatischen  Kreisen.  Nun  musste  sie  von  Berufs  wegen  schöne  Kleider  tragen,  und  es  fiel 
ihr  ganz  und  gar  nicht  schwer,  sich  hübsch  und  gefällig  zurecht  zu  machen.  Durch  ihre 
Ausstrahlung,  ihre  Bildung  und  ihre  Schönheit  hatte  sie  viele  Freunde  und  Verehrer.  Sie  vergaß 
auch  nicht,  dass  sie  vor  kurzer  Zeit  noch  alte  abgetragene  Kleidungsstücke  drehen  und 
wenden  musste,  um  ein  neues  Teil  daraus  entstehen  zu  lassen.  Auch  die  erlittene  Hungersnot 
ist  ihr  immer  im  Gedächtnis  geblieben. 

Die  in  Nordamerika  ansässige  Organisation  „JOINT“  sorgte  in  jenen  Jahren  für  Geldspenden, 
damit  mehr  Schiffe  gekauft  werden  konnten.  Bald  kamen  auch  Flugzeuge  dazu.  Die  alten 
Frachter  wurden  so  umgerüstet,  dass  möglichst  viele  Menschen  darin  Platz  finden  konnten. 
Gleichzeitig  sollten  im  Schiffsbauch  Waffen  versteckt  werden,  auf  die  die  Juden  im  neu 
gegründeten  Staat  Israel  dringend  angewiesen  waren,  um  sich  im  Notfall  gegen  ihre  Nachbarn 
verteidigen  zu  können.  Nach  langen,  vertraulichen  Verhandlungen  wurden  Lieferverträge 
abgeschlossen.  Eines  Tages  kam  eine  Abordnung  aus  Israel  nach  Frankreich,  um  mit  Frederik 
Thau  über  einen  geheimen  Waffentransport  zu  verhandeln.  Auch  Elli  wurde  bei  diesem 
Gespräch  ausgeschlossen,  sie  erfuhr  aber  kurze  Zeit  später,  dass  in  eigens  angefertigten 
Schiffs-Verstecken  die  Waffen  mit  den  Passagieren  an  Bord  nach  Israel  gelangen  sollten.  Der 
französische  Zoll,  der  alle  auslaufenden  Schiffe  inspizierte,  sollte  dabei  umgangen  werden.  Sie 
berieten  sich  mit  einer  Vertrauensperson  der  Zollbehörde,  weihten  diese  in  das  Geheimnis 
ein.  Diese  Person  sollte  nun  über  die  Eigenarten  und  Schwächen  des  zuständigen 
Zollpräfekten  ein  wenig  ausplaudern.  Er  riet  ihnen:  „Der  Präfekt  ist  ein  leidenschaftlicher 


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Feinschmecker,  bei  ihm  kann  man  viel  mit  einem  guten  Essen  und  einem  edlen  Tropfen 
erreichen.  Macht  eine  Reservierung  in  dem  erstklassigen  Restaurant  in  der  Corniche,  es  liegt 
direkt  über  dem  Meer,  also  schön,  ruhig  und  romantisch.  Ladet  ihn  zum  Mittagessen  ein,  lasst 
eine  gewisse  Zeit  verstreichen,  und  in  einem  passenden  Moment  nehmt  ihr  die  Schiffspapiere, 
erklärt,  dass  das  Schiff  mit  den  vielen  Menschen  an  Bord  bald  auslaufen  müsse“. 

Der  Präfekt  wurde  mit  seiner  Frau  eingeladen,  und  einige  andere  hohe  Persönlichkeiten  der 
Behörde  ebenfalls.  Der  Konsul  und  seine  enge  Mitarbeiterin  - in  Gestalt  von  Elli  - empfingen 
ihre  erlauchten  Gäste  im  Restaurant  in  der  Corniche.  Beim  Aperitif  plauderten  sie  über  die 
politische  Situation  des  Landes.  Zur  delikaten  Vorspeise  wurde  ein  erlesener  Weißwein 
gereicht,  inzwischen  war  eine  interessante  Unterhaltung  im  Gange.  Zum  vorzüglichen  Fleisch 
wurde  ein  exquisiter  Rotwein  kredenzt  - und  alle  waren  in  bester  Stimmung  und  genossen 
das  Beisammensein.  Beim  Dessert  spielte  der  Onkel  die  Rolle  des  vergesslichen  und 
zerstreuten  Professors,  er  schlug  sich  an  den  Kopf,  unterbrach  für  einige  Momente  die 
Unterhaltung  und  erklärte  dem  Zollinspektor,  er  habe  ganz  vergessen,  dass  eines  der  Schiffe 
zum  Auslaufen  bereit  stehe,  er  aber  noch  dazu  seine  Unterschrift  benötige.  Der  Präfekt,  durch 
das  exzellente  Menü  gönnerhaft  gestimmt,  nahm  das  Papier,  unterschrieb,  und  der 
Gedankenaustausch  konnte  bei  Champagner  fortgesetzt  werden.  Frederik  Thau  nahm  das 
wertvolle  Dokument  an  sich,  steckt  es  ein  und  lehnte  sich  entspannt  und  erleichtert  zurück. 
Nach  diesem  Mittagessen  hatte  er  nichts  Eiligeres  zu  tun  als  das  unterschriebene  Schriftstück 
dem  Kapitän  des  startklaren  Schiffes  auszuhändigen. 

Bis  zum  Kriegsende  hatte  Elli  bereits  einiges  an  Höhen  und  Tiefen  durchlebt.  Ihre  Kindheit  und 
frühe  Jugend  - die  Geborgenheit  - in  Wien,  die  ungewollte  Heirat  mit  einem  ungeliebten 
Mann  in  Metz,  die  Flucht  vor  den  deutschen  Soldaten.  Hunger,  Durst,  Kälte  waren  strecken- 
weise ihre  Begleiter.  Die  lange  Suche  nach  der  Mutter  und  die  ständige  Hoffnung  sich  mit  der 
Familie  vereinen  zu  können.  Nach  so  vielen  Jahren  der  Angst  und  schmerzlichen  Entbehrungen 
war  Elli  nun  sehr  glücklich;  sie  hatte  ihren  Angehörigen  das  Leben  retten  können  - und  sie 
hatte  eine  verantwortungsvolle  Aufgabe  bei  ihrem  Onkel  gefunden.  Hier  in  Frankreich  lernte 
sie  ihren  späteren  Ehemann,  Mosche  Yatzkan,  kennen.  I ‘ 

Jemand  fragte  Elli  eines  Tages,  ob  sie  nicht  eine  „Wiedergutmachung“  verlangen  oder 
beantragen  wolle?  Eine  „Wiedergutmachung“  wäre  zu  schön  gewesen,  denn  dann  hätte  sie 
ihre  Jugend,  ihre  Unbeschwertheit  und  ihre  Fröhlichkeit  zurückerhalten  und  auskosten 
können.  Aber  mit  dem  Krieg  waren  ihr  in  kurzer  Zeit  alle  Illusionen  und  Ideale  abhanden 
gekommen.  Das  Schicksal  hatte  ihr  kein  Anrecht  auf  eine  sorglose,  lebensbejahende  und 
unkomplizierte  Jugend  beschienen  und  sie  hatte  nicht  das  Privileg  ihre  Schönheit  und  ihre 
Begabungen  natürlich  und  frei  zu  entfalten.  Sie  hatte  das  schwere  Los  als  zartes,  weibliches 
Wesen  ihren  Mann  stehen  zu  müssen. 


19 


Nachwort: 


Frau  Elisabeth  Thau-Koch  hat  in  diesem  Bericht  darauf  hingewiesen,  dass  nicht  alle  Nazis 
unbarmherzige,  rohe  gefühllose  Bestien  waren.  Sie  hat  nur  überlebt  weil  sie  an  deutsche 
Soldaten  geriet,  die  keine  Unmenschen  und  nicht  zu  dienstbeflissen  waren. Vielleicht  hat  ihre 
naiv-charmante  Art  und  ihre  jugendliche  Frische  dazu  beigetragen,  die  Soldaten  human,  sozial 
und  mitleidig  zu  stimmen.  Allerdings  darf  man  nicht  vergessen,  dass  gerade  die  führenden 
Nazigrößen  in  den  Konzentrationslagern  eine  ganz  spezielle  und  brutale  Ausbildung  erhielten, 
denn  sie  hießen  nicht  umsonst  „Totenkopfverbände“. 

So  turbulent  wie  zu  Ellis  Geburt,  ging  es  in  ihrer  Jugend  zu,  danach  wurde  es  glücklicherweise 
etwas  ruhiger.  Sie  heiratete  1954  Mosche  Yatzkan  aus  Israel,  den  sie  im  Marseiller  Konsulat 
kennen  lernte.  Die  Eheleute  zogen  nach  Santo  Domingo  — in  die  Dominikanischen  Republik  — 
wo  Ellis  Mutter  bereits  seit  einigen  Jahren  bei  ihren  Söhnen  lebte.  Elli  bekam  einen  Sohn,  den 
sie  über  alles  liebte  und  vergötterte,  er  wurde  1958  in  Santo  Domingo  geboren.  Mittlerweile 
hat  sie  einen  Enkelsohn  namens  Mosche  und  eine  Enkeltochter,  die  sie  beide  sehr  verwöhnt 
hat.  Ihre  geliebte  Mutter,  mit  der  sie  auch  die  letzten  Jahre  in  Santo  Domingo  zusammen  lebte, 
starb  am  8.  August  1962.  Im  Jahre  1971  starb  Mosche  Yatzkan,  beide  liegen  auf  dem  jüdischen 
Friedhof  in  Santo  Domingo  begraben. 

Elisabeth  Koch,  Thau,  Yatzkan  lebt  heute,  im  Jahre  1996,  in  Sosua  in  der  Dominikanischen 
Republik. 

Frau  Thau  starb  im  Juni  2004  in  Miami,  im  Kreise  ihrer  Familie. 


Copyright:  Ingrid  Decker 


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ZUFLUCHTSORT  SOSUA 


IN  DER 

DOMINIKANISCHEN  REPUBLIK 


Welcher,  der  vielen  Inselbesucher  weiß  schon  von  der  Entstehung  des  kleinen,  zum  Städtchen 
gewachsenen  Ortes  Sosua?Wer  von  den  Billigfliegern,  die  in  Puerto  Plata  ankommen  und  dann 
an  Sosuas  herrlichen  Baum  bestandenen  Stränden  liegen,  ahnen,  dass  ausgerechnet  diese 
Gegend  einst  von  europäischen  Juden  zu  dem  gemacht  wurde,  was  es  heute  ist?  Es  ist  ein 
blühender  üppiger  Garten,  der  sich  leider  seit  Anfang  der  90er  Jahre  durch  einen  Massen-  und 
Billig-Tourismus  in  negative  Schlagzeilen  geraten  ist. 

Wer  nimmt  die,  im  früheren  Zentrum  stehende  Synagoge  wahr,  an  der  täglich  unzählige 
Urlauber  vorbeiströmen?  Sie  werden  auch  nicht  wissen,  dass  dieser  Ort  im  Jahre  1940  - 41 
von  den  aus  Europa  stammenden  und  geflohenen  Juden  urbar  gemacht  wurde  und  in  mühsa- 
mer Pionierarbeit  entstanden  ist. 

Der  damalige  Präsident  der  Karibikinsel,  Hispahola,  die  sich  mit  Haiti  das  Eiland  teilt  (sie  ist 
insgesamt  76.900  qkm^  groß),  der  als  Diktator  und  Unmensch  bekannt  war,  rettete  - mehr  aus 
Eigennützigkeit  — vielen  Juden  das  Leben.  Er  stellte  den  Verfolgten  und  Heimatvertriebenen 
einen  Teil  seines  Privatgeländes  zur  Verfügung.  Nicht  viele  Länder  folgten  seinem  Beispiel. 
Einige  wenige  südamerikanische  Staaten  erbarmten  sich  ebenfalls  der  Asylanten.  Im  Jahre 
1938,  als  kaum  ein  Land  jüdische  Flüchtlinge  aufnehmen  wollte,  erklärte  sich  Präsident  Trujillo 
bereit,  100.000  Menschen  eine  neue  Heimat  zu  geben.  Es  wurden  angeblich  5.000  Visa 
ausgestellt. Trotzdem  geschah  im  Juni  1939  nichts,  als  das  aus  Hamburg  ausgelaufene  Schiff,  die 
„St.  Louis“,  mit  900  jüdischen  Exilanten  an  Bord  vergeblich  im  karibischen  Meer  einen  Hafen 
anzusteuern  versuchte. 

Obwohl  viele  Menschen  ein  gültiges  Visum  für  Kuba  hatten,  weigerte  sich  der  kubanische 
Präsident  das  Schiff  mit  den  um  Hilfe  suchenden  Menschen  in  den  Hafen  von  Havanna 
einlaufen  zu  lassen,  geschweige  die  Menschen  an  Land  zu  nehmen.  Der  Kapitän  des  Schiffes 
versuchte  andere  Häfen  anzulaufen,  aber  alle  Staaten  weigerten  sich.  Die  „St.  Louis“  befand 
sich  fünf  Wochen  lang  auf  einer  Irrfahrt  in  der  Karibik.  Es  waren  Wochen  der  Angst  und 
Hoffnungslosigkeit  für  die  Flüchtlinge.Viele  verzweifelte  Menschen,  die  keine  Überlebenskraft 
mehr  besaßen,  des  Betteins  und  Ersuchens  einer  Zufluchtsstätte  müde  waren,  stürzten  sich 
von  der  Reling  ins  Meer.  Sie  bereiteten  ihrem  Leben,  das  anscheinend  von  aller  Welt 
unerwünscht  war,  lieber  ein  Ende,  als  nach  Europa  zurück  zukehren.  Im  Juni  1939  harrten 
fast  eintausend  ausgewiesener  Juden  wochenlang  auf  dem  Schiff,  „St.  Louis“  aus. 
Nahrungsmittel  wurden  für  die  Passagiere  mit  der  Zeit  immer  knapper.  Bevor  der  Dampfer 
sein  Ursprungshafen,  Hamburg,  wieder  ansteuerte,  nahmen  die  Niederlande,  England  und 
Frankreich  die  meisten  Flüchtlinge  auf.  Einige  von  ihnen,  wie  der  aus  Rheydt  stammende  Josef 
Joseph,  landeten  nach  dieser  Odyssee  mit  Frau  und  Tochter  in  Amerika.  Etliche  Passagiere,  die 
vor  den  Deutschen  auf  der  Flucht  waren,  in  Holland,  Frankreich  und  England  untergekommen 
waren,  landeten  schließlich  doch  noch  in  irgendeinem  Konzentrationslager. 

Der  Präsident  der  Dominikanischen  Republik,  Rafael  Trujillo,  schien  zu  diesem  Zeitpunkt 
ebenfalls  nicht  geneigt,  sich  der  in  der  im  Karibischen  Meer  umherirrenden  „Bootsflüchtlinge“ 
anzunehmen. 

Als  die  europäischen  Juden  kurze  Zeit  später  endlich  ein  Visum  für  den  Inselstaat, 
Dominikanische  Republik,  erhielten,  weigerte  sich  Spanien,  die  Grenzen  für  die 
Durchreisenden,  die  nach  Portugal  zu  ihren  Schiffen  wollten,  zu  öffnen.  Monate  verbrachten 
die  Heimatlosen  in  Lagern  nahe  der  spanischen  Grenze,  bis  sie  schließlich  eine  Genehmigung 
zur  Weiterreise  erlangten.  Walter  Benjamin,  der  sich  ebenfalls  in  einem  kleinen  französisch- 
spanischen Grenzort  aufhielt,  war  des  Wartens  und  Ansuchens  müde  und  nahm  sich  dort  in 


22 


seinem  Hotelzimmer  das  Leben. 


Es  war  kein  mildtätiger  Akt  der  Nächstenliebe  als  Trujillo  die  Flüchtlinge  aufseine  Insel  holte. 
Es  galt  wohl  eher  der  Aufbesserung  seines  schlechten  Images.  Denn  zuvor  hatte  Trujillo  durch 
das  Militär  haitianische  Wanderarbeiter  und  ihre  Familien  umbringen  lassen,  die  auf  den 
Dominkanischen  Zuckerrohrfeldern  arbeiteten.  Es  kam  nie  genau  an  die  Öffentlichkeit,  wie 
viele  unschuldige  Menschen  ihr  Leben  lassen  mussten.  Die  Zahl  der  Toten  wird  auf  20  - 30 
tausend  geschätzt.  Trujillo  hatte  eine  regelrechte  Abneigung  gegen  dunkelhäutige  Menschen, 
für  ihn  waren  sie  eine  „einfältige,  dumpfe  und  tief  stehende  Rasse“.  Um  selbst  aristokratischer 
(oder  gar  arischer)  auszusehen,  puderte  sich  Trujillo  sein  Gesicht  weiß. 

Hilde  Domin,  die  von  1940  bis  1953  in  der  Hauptstadt  Santo  Domingo  (damals  hieß  sie 
Ciudad  Trujillo)  lebte,  schrieb  in  ihren  Aufzeichnungen  „Gesammelte  Autobiographische 
Schriften“:  „Man  konnte  dem  Diktator  nicht  dankbar  sein,  man  konnte  ihm  nicht  nicht 
dankbar  sein,  er  war  ein  Furcht  erregender  Lebensretter“.  „Viele  hat  er  umgebracht,  in 
großen  Haitianerschlachten  aber  auch  laufend. Viele  Flüchtlinge  verdanken  ihm  das  Leben.  Er 
nahm  sie  auf,  um  sein  Land  aufzuweißen,  ohne  Ansehen  ihres  politischen  Glaubens  oder  der 
Religion  und  „Rasse“,  (nur  Schwarz  durften  die  Menschen  nicht  sein)  die  spanischen 
Republikaner  und  Kommunisten,  die  so  genannten  „Zentroeuropäer“,  Verfolgte  Hitlers  aus 
Deutschland,  Österreich  und  den  reihum  besetzten  Ländern.  Er  ließ  sie  aussteigen.  Und  das 
war  damals  viel.  Er  verlangte  keine  hohen  Geldsummen  wie  andere  Länder,  er  sortierte  nicht 
nur  die  Fachleute  mit  anwendbarem  Wissen  für  sich  aus,  Elektroingenieure,  Brückenbauer, 
Ärzte  etc.  Er  nahm  Intellektuelle  wie  Handwerker  und  Bauern,  er  beschäftigte  sie,  und  er 
überwachte  sie“,  (aus  dem  Buch:  „Fast  ein  Lebenslauf*  Fischer- Verlag). 

Hilde  und  Erwin  Walter  Palm  sind  nicht  über  die  Organisation  JOINT,  wie  die  landwirtschaft- 
liche Kolonie  in  Sosua,  ins  Land  gekommen.  Erwin  Walter  Palm  lehrte  als  einziger  Deutscher 
an  der  Universität  von  Santo  Domingo  spanisch-amerikanische  Kulturgeschichte.Von  dort  aus 
wurde  er  auf  dem  ganzen  amerikanischen  Kontinent  und  dann  auch  in  Europa  bekannt.  Erwin 
Walter  Palm  verfasste  in  Santo  Domingo  ebenfalls  ein  Buch,  das  sich  mit  den  Aufzeichnungen 
von  „Baudenkmälern  der  Insel  Hispanola“  befasste. 

Trujillo,  der  sein  Land  31  Jahre  lang  in  eine  Diktatur  gestürzt  hatte,  ließ  während  seiner 
Regierungszeit  Universitäten,  Kunstakademien,  Orchester  und  Diplomatenschulen  aufbauen 
und  all  dies  mit  der  Elite  von  Exil-Spaniern,  die  vor  dem  Franco-Regime  auf  der  Flucht  waren 
und  auf  der  Karibik-Insel  keine  Sprachprobleme  hatten. 

Hilde  Palm,  geborene  Löwenstein,  nannte  sich  später,  nachdem  sie  ihre  lieb  gewonnene  neue 
Heimat  - die  Dominikanische  Republik-  verlassen  hatte  nach  ihrem  langjährigen 
Aufenthaltsort,  Domin.  Sie  hatte  auf  der  Insel  teilweise  als  Sprachlehrerin  gearbeitet,  hier 
begann  sie  mit  der  Schriftstellerei,  schrieb  ihr  erstes  Gedicht  und  half  ihrem  Mann  bei  der 
Erstellung  seines  Buches  über  die  Baudenkmäler  des  Eilands.  Die  vielfache 
Literaturpreisträgerin  hielt  fast  bis  zum  Ende  ihrer  Tage  bundesweit  Lesungen,  denn  Schreiben 
und  Lesen  war  ihr  Lebenselixier.  Hilde  Domin  starb  am  22.  Februar  2006  im  hohen  alter  von 
96  Jahren. 

Die  632  jüdischen  Exilanten  (manche  Belege  sprechen  von  645  Personen),  die  durch  den 
JOINT  ins  Land  gekommen  waren,  hatten  nicht  nur  den  Vorzug  weißer  Hautfarbe  zu  sein,  sie 
konnten  außerdem  das  Brachland  des  Präsidenten,  im  Nordwesten  der  Insel,  bebauen  und  es 
zu  einem  ertragreichen  und  blühenden  Garten  Eden  gestalten. 


23 


Fast  alle  Neuankömmlinge,  die  1940  auf  die  Insel  kamen,  waren  Deutsche  oder  Österreicher. 
Obwohl  die  meisten  von  ihnen  Akademiker  waren,  konnten  sie  mit  Hilfe  des  ,Agro-JOINT“ 
mit  der  Zeit  eine  erfolgreiche  Co-operative  gründen,  die  heute  noch  für  ihre  Milch-  und 
Fleischprodukte  im  ganzen  Land  berühmt  ist. 

Für  die  Arbeit  auf  derTropeninsel  hatten  die  Behörden  nur  junge,  rüstige  und  resistente  Leute 
angefordert,  die  kräftig  zupacken  konnten.  Die  aus  ihrem  Land  vertriebenen  Menschen  kamen 
in  kein  Ferien paradies;  sie  mussten  hart  um  ihre  Existenz  in  der  neuen  Heimat  kämpfen.  Das 
unwegsame  Gelände  musste  erst  einmal  gerodet  werden.  Mit  diesem  Holz  bauten  sie 
einfache,  zweckmäßige  Holzhäuser,  die  dem  Klima  angepasst  waren.  Sie  kümmerten  sich  um 
die  Feldarbeit,  denn  von  irgendetwas  mussten  sie  leben.  Da  die  meisten  Emigranten  keine 
Ahnung  von  Ackerbau  und  Viehzucht  hatten,  auch  keine  Architekten  unter  ihnen  waren,  half 
ihnen  die  jüdische  Organisation  „JOINT“,  die  in  New  York  ansässig  war,  mit  Fachkräften  aus 
Israel  aus,  die  beim  Aufbau  des  Dorfes  behilflich  waren.  Im  Laufe  der  Zeit  entstanden  zehn 
Gemeinschaftsbaracken  aus  Holz  und  auch  die  Synagoge.  Die  jüdischen  Exilanten  von  Sosua 
lebten  in  diesen  einfachen  Holzhäusern,  die  mit  je  dreißig  Betten  bestückt  - und  durch  dünne 
Trennwände  oder  Vorhänge  abgeteilt  wurden.  In  Pionierarbeit  wurde  ein  Brunnen  gebaut,  der 
vom  nahe  gelegenen  Flüsschen  Sosua  gespeist  wurde. 

Der  Agrarspezialist,  David  Stern,  nach  dem  in  Sosua  auch  eine  Strasse  benannt  ist,  wurde 
eigens  aus  Palästina  zu  Rate  gezogen.  Er  riet  den  Neuanfängern  zur  Milchwirtschaft,  da  viel 
gutes  Weideland  zur  Verfügung  stand.  Zu  diesem  Zweck  wurden  Milchkühe  aus  Miami 
importiert  und  bereits  nach  kurzer  Zeit  florierte  das  Geschäft  mit  Molkereiprodukten.  Die 
Milchwerke  sind  bis  heute  fest  in  jüdischer  Hand  und  ihre  Produkte  werden  auf  der  gesam- 
ten Insel  gern  gekauft  und  sind  beliebte  Güter. 

Die  neuen  Agronomen  hatten  ebenfalls  Erfolg  mit  der  Hühnerzucht.  Sie  konzentrierten  sich 
zusätzlich  auf  den  Anbau  von  Bananen,Tabak  und  Zuckerrohr.  Gleich  in  den  Anfängen  entstand 
in  Sosua  auch  ein  Krankenhaus,  denn  die  europäischen  Neuankömmlinge,  die  das  feucht-heiße 
Klima  nicht  gewohnt  waren,  waren  anfällig  für  tropische  Krankheiten.  Bei  der  Feldarbeit 
lauerten  ständig  Gefahren  durch  giftige  Tiere,  eine  Malaria  konnte  für  sie  tödlich  sein.  An  guten 
Ärzten  mangelte  es  ihnen  in  ihrem  Dorf  nicht,  es  waren  Berühmtheiten,  gar  Kapazitäten  unter 
ihnen. 

Als  nach  einiger  Zeit  ein  Kindergarten  und  später  noch  eine  Schule  errichtet  wurden, 
machten  sie  das  kleine,  neu  entstandene  und  nun  blühende  Dorf  erst  richtig  komplett.  Die 
finanzielle  Unterstützung  bei  der  Entstehung  der  neuen  jüdischen  Siedlung  übernahm  wiede- 
rum die  Organisation  des  „JOINT“  und  sobald  ihre  Mühe  und  Arbeit  Kapital  abwarf,  zahlten 
die  Siedler  ihre  Schulden  mit  einem  geringen  Zinssatz  zurück.  Mit  diesem  Geld  konnten 
wieder  andere  Juden  aus  Europa  gerettet  werden. 

Nach  und  nach  florierten  die  verschiedensten  Geschäfte,  auch  der  Friseur  hatte  alle  Hände 
voll  zu  tun  und  langsam  konnten  sich  die  Emigranten  auf  Freizeitbeschäftigung  besinnen.  Es 
wurden  Sport-  und  Fußballclubs  gegründet,  die  gegen  einheimische  Vereine  wie  Santiago, 
Puerto  Plata  oder  Bonao  zum  Match  antraten.  Zur  Entspannung  und  Zerstreuung  der 
Inselbewohner  der  näheren  Umgebung  hatte  man  ein  Kino  eingerichtet.  Zum  Schutz  der 
Augen  trug  man  damals  schon  die  modern  anmutenden  3-D-Brillen,  die  allerdings  nur  aus 
Papier  gefertigt  waren.  Zur  kulturellen  Erbauung  gab  eine  junge  jüdische  Pianistin  an  den 
Wochenenden  Konzerte.  Sie  war  es,  die  später  den  Nachwuchs  unterrichtete.  Das  jüdische 
Dorf  war  wie  eine  Insel  auf  der  Insel. 


24 


Nachdem  1945  der  Krieg  in  Europa  beendet  und  Israel  1948  ein  unabhängiger  Staat 
geworden  war,  hielten  es  viele  auf  der  tropischen  Insel  mit  dem  drückend  schwülen  Klima 
nicht  mehr  aus.  Manche  fühlten  sich  eingeengt  und  andere  suchten  nach  neuen 
Herausforderungen.  Speziell  die  Ärzte  suchten  nach  einem  größeren  Betätigungsfeld  oder 
einem  professionelleren  Wirkungskreis.  Viele  von  ihnen  wanderten  nach  Kriegsende  nach 
Israel  oder  in  die  Vereinigten  Staaten  ab.  Einige  zog  es  sogar  nach  Deutschland  zurück. 
Neueingewanderte,  die  mit  dem  Landleben  nichts  anfangen  konnten,  verstreuten  sich  auf  der 
Insel  in  die  größeren  Städte  wie  Santo  Domingo,  Santiago  oder  Puerto  Plata.  Und  so 
verließen  bereits  nach  wenigen  Jahren  viele  Menschen  ihre  neu  gewonnene  Heimat,  in  der  sie 
nicht  heimisch  wurden. 

Heute  (1995)  wohnen  kaum  noch  25  jüdische  Familien  in  dem  kleinen,  zum  Städtchen 
gewachsenen  Ort,  Sosua.  Die  jungen  Juden  sind  fast  ausnahmslos  mit  einheimischen  Partnern 
verheiratet.  Manchmal  ist  es  schwierig  rechtzeitig  mit  der  Zeremonie  in  der  Synagoge  zu 
beginnen,  da  immer  mindestens  zehn  Männer  zur  feierlichen  Handlung  zugegen  sein  müssen. 

Nur  wenige  der  sonnenhungrigen  Touristen  scheinen  sich  dafür  zu  interessieren,  dass  die  Insel 
außer  Palmen,  Meer  und  Strand  noch  vieles  mehr  zu  bieten  hat.  Es  ist  eine  sehr  reiche  Insel, 
die  nicht  nur  Feld-  und  Südfrüchte  sprießen  lässt,  sondern  auch  tropische  Früchte  wie  Mango, 
Papaya,  Ananas  und  Obstsorten,  die  wir  in  unseren  Breiten  gar  nicht  kennen.  In  großen 
Plantagen  wird  Kaffee,  Reis,Tabak,  Bananen  und  Kakao  angebaut.  Die  Dominikanische  Republik 
lebt  in  der  Hauptsache  vom  Export  des  Zuckers.  Die  dominikanischen  Zigarren  stehen  den 
Kubanischen  in  der  Qualität  keinesfalls  nach,  auch  sie  sind  ein  einträglicher  Exportartikel.  Der 
hier  hergestellte  Rum  ist  ein  beliebtes  Touristen-Mitbringsel,  auch  er  ist  weltweit  berühmt  und 
anerkannt.  Auf  der  Insel  wachsen  spezielle  harte  Holzsorten,  (wie  Caoba)  die  besonders  zum 
Möbelbau  geeignet  sind.  Bodenschätze  wie  Bakkalit,  Nickel,  Gold,  Bernstein  oder  Erdöl  wird 
aus  der  Tiefe  der  Erde  geborgen. 

Das  Constanza-Tal  ist  berühmt  für  sein  kühles  europäisches  Klima.  Erdbeeren,  Champignons, 
Trauben,  Äpfel,  Birnen  und  viele  Sorten  an  Kohl  und  Gemüse  wachsen  und  gedeihen  hier 
besonders  gut.  Auch  blüht  hier  eine  ganz  besondere  Art  von  Blumen,  die  sonst  auf  der  ganzen 
Insel  nicht  Vorkommen. 

Das  Zentrale-Bergland  mit  seinen  üppigen  Wäldern,  romantischen  Flusswindungen, 
malerischen  Wasserfällen,  dem  Regenwald  und  Nationalpark  lässt  den  Besucher  ins 
Schwärmen  geraten.  Die  höchste  Erhebung  der  Insel  ist  der  „Pico  Duarte“,  mit  seinen  3.075m 
ist  er  nicht  nur  der  höchste  Gipfel  des  historischen  Eilands,  sondern  der  gesamten  Karibik. 

Leider  haben  die  verschiedenen  Regierungen  immer  nur  mit  den  mächtigsten  Staaten  Handel 
getrieben  und  das  Land  durch  Ausbeutung,  Korruption  und  dunkle  Geschäfte  ausbluten 
lassen.  Die  Mehrzahl  der  Einheimischen  leben  nach  wie  vor  unter  dem  Existenzminimum. 
Ihnen  kommt  einzig  und  allein  das  milde  Klima  zugute  und  die  noch  üppig  und  wild  wachsen- 
den Früchte.  Auch  das  Kapital  des  Touristenbooms  geht  aJ  den  Inselbewohnern  voHsei,  füi** 
einen  Mindestlohn  müssen  sie  sehr  hart  arbeiten.  Hier  machen  ausländischen  Hotelbesitzer 
Kasse.  Die  Dominikanos  sind  als  faul  verschrien,  denn  anstatt  harte  Feldarbeit  zu  leisten, 
ziehen  sie  es  vor,  mit  knatternden  Mopeds,  (die  nicht  nur  lärmen  sondern  auch  die  Luft 
verpesten)  Urlauber  und  Einheimische  für  ein  paar  Pesos  einige  Straßenecken  weiter  zu 
befördern.  Aber  kann  man  es  ihnen  verdenken...? 

Wenn  der  Feriengast  denkt,  dass  die  jungen  Einheimischen,  die  sich  am  Strand  darum  reißen. 


25 


die  Strandliegen  - gegen  ein  kleines  Entgelt  - an  den  Urlauber  zu  bringen,  das  Geld  behalten 
können,  so  hat  er  sich  geirrt.  Abends  wird  von  europäischen  Nichtsnutzen,  (es  gibt  viele 
Steuerflüchtige,  Bankrotteure  und  solche,  die  ihre  Familien  im  Stich  gelassen  haben  auf  der 
Insel)  die  für  sich  eine  Marktlücke  entdeckt  haben,  abkassiert.  (Im  Laufe  von  zehn  Jahren  - 
1 995  bis  2005  - haben  sich  Heerscharen  von  Straftätern,  die  der  deutschen  Justiz  entflohen 
sind,  auf  der  Karibik-Insel  niedergelassen). 

Der  Bevölkerung  wird  nicht  nur  das  Geschäft  weggenommen,  denn  die  über  300  Imbiss- 
Buden,  (oder  mehr)  die  am  Strand  stehen,  sind  fest  in  Händen  von  Deutschen,  Schweizern 
oder  Holländern.  Hier  können  sich  europäische  Touristen  bei  hohen  Celsiusgraden  mit  Bier 
und  Schnaps  "erfrischen".  Die  Inselbewohner  werden  nicht  nur  ihrer  Arbeit  und  ihres 
Lebensraumes  beraubt,  sondern  ihnen  wird  auch  die  Würde  genommen.  Pataya  und 
Ballermann  6 in  der  Karibik  lassen  grüßen.  Ungeniert  sieht  man  blutjunge.  Schokoladenbraune 
Dominikanas  mit  ihren  rotgesichtigen,  sonnenbrandgeplagten  und  über  und  über  tätowierten 
Freiern,  die  den  Super-Macho  mimen,  umherflanieren.  Sie  alle  scheinen  sich  über 
Aidsprobleme  keine  Sorgen  zu  machen.  Das  ausschweifende  Nachtleben  und  die  Prostitution 
haben  durch  den  Billigtourismus  nicht  nur  den  Ruf  des  Örtchens  Sosua  geschädigt,  sondern 
haben  ihn  durch  Lärm  und  Freizügigkeit  unlebbar  gemacht.  Der  einstige  kanadische 
Familientourismus,  der  sich  über  viele  Jahre  in  Sosua  etabliert  hatte,  um  den  heimischen 
Winter  zu  überbrücken  - ist  zusammengebrochen.  Sie  haben  sich  andere  Urlaubsziele  gesucht. 
Die  ausländischen  Hotelketten  machen  die  kleinen  lokalen  Hotels,  Gästehäuser  und 
Pensionen  mit  ihren  Billigstpreisen  kaputt,  sie  können  mit  den  Super-Spar-Preis-Angeboten 
nicht  mithalten. 

Auf  meine  Frage  an  die  Bewohner  Sosuas,  wie  sich  das  kleine  Städtchen  in  den  letzten 
Jahren  entwickelt  hat,  gab  es  immer  nur  eine  Antwort:  „mucha  puta“  ...was  „zuviel 
Prostitution“  bedeutet. 

Ob  die  wenigen  jüdischen  Familien  heute  darüber  glücklich  sind,  dass  sie  ausgerechnet  ihren 
Grund  und  Boden  an  Deutsche  verkauft  haben,  wage  ich  zu  bezweifeln.  Da  beschleicht  mich 
schon  eher  die  Angst,  dass  bald  wieder  NS-Zeichen  und  Hakenkreuze  an  Hauswände 
geschmiert  werden  — ohne  dabei  noch  an  Schlimmeres  zu  denken.... 


Copyright:  Ingrid  Decker 


26 


TOR 


Emigrantenschiffe  - Abfahrt  in  Lissabon 


Ankunft  in  Puerto  Plata  - Dominikanische  Republik 


Fotos:  Ingrid  Decker  aus  dem  jüdischen  Museum  in  Sosua 


Rodung  der  wild  wachsenden  Natur  für  den  Agraranbau 
Links  im  Bild  Ellis  Bruder  Felix 


28 


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Brunnenbau  in  Sosua 


Normaler  Arbeitsalltag 


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III! 


Die  ehemaligen  Unterkünfte  der  jüdischen  Exilanten  dienen  heute  als  Geschäftsräume 


Schriftliche  Rechtsgrundlage 
für  die  Neusiedler  in  Sosua 


Synagoge  in  Sosua 


Agreement 

Dated  January  30,1940 


Article  1 

Rights  of  Settlers 


Dominican  Republic 
And 

Dominican  Republic 
Settlement  Association,  inc. 


T he  Republic,  in  conformity 
with  its  constitution  and 
laws,  hereby  guarantees  to 
the  settlers  and  their 
descendants  full  opportuni- 
ty to  continue  their  lives 
and 

occupations  free  from 
molestation^  discrimination 
or  pcrscculkMV  witti  full 


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^rcäü/etiit'  e/c  /a  ^cj^ittl/ica 


OHttfUC<l-/UC 


Sn  'viyticd  e^e  /as  afr^/uctones  *^a<:  ^ue  cfut^tcre  <■/  u r/t'ctt/o  c/r  /*i 
^«Hs(iftcrtd-n  </c/  Ssfn</o,  /ic  tfesuc(/.c  nofn/ttar  a. 


mmmmm 

Auiiliar  T^cnico  del  Laboratorio  Nacional, 


^y^c/ivc  el c/ca  de  tojoa  de  posesidii* 

SsCe  Tio'm/ra'miento,  /laya  /oS  ^ncs  /e^a/fS.  sevel  'ye^tsCrac/o  cn  /a 
S/ccf^/aruz  c/e  Ss/^u/o  c/e  /a,  0resic/ej%cta.  €7i  /a  de  Sanldad  JT  Asi^aeil— 

cia  Pdblica  - - • **  — " «?*■  /a  ^^o-rerta  y en  /a  SMcc/t^\’ui 

^cii/ita/uvca,  ^cstet^a/^  ^ / / 

^cu/o  e^ft  ^ilaLcc/ac/  ^ea^//o,j  ^^a/u/ai  c/e  /a  ^c/tu//^a,  a /os 

9 — e//as  c/c/  mes  Ye  septieiibrJ  de  /944.  ^ tt 


Of  icial_Mayor-de— la"5ecretsrla  de  de/  S/icM/arü>  </«  ^x/d/L, 

E.de  Sanidad  j^Asistencia  Publica« 


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40 


ELLI  1996  IN  MIAMI 


I 

I NACH  DEM  INTERVIEW 

I DURCH  DIE  „SHOAH-STIFTUNG“ 


I 

I 

I 

I 

I 


ARGENTINA 

706 

MEXICO 

94  1 

AUSTRALIA 

2,396 

MOLDOVA 

236  1 

AUSTRIA 

137 

NETHERLANDS 

1.051  1 

BELARUS 

184 

NEW  ZEALAND 

S3  1 

BELGIUM 

121 

NORWAY 

18  1 

BOSNIA 

33 

POLAND 

1.047  1 

BRAZIL 

567 

ROMANIA 

2 1 

BULGARIA 

227 

RUSSIA 

606 

CANADA 

2,590 

SLOVAK  REPUBLIC 

649 

CHILE 

65 

SLOVENIA 

3 

COLOMBIA 

14 

SOUTH  AFRICA 

248 

COSTA  RICA 

23 

SPAIN 

1 

CROATIA 

314 

SWEDEN 

341 

CZECH  REPUBLIC 

543 

SWITZERLAND 

58 

DENMARK 

69 

UNITED  STATES 

17,350 

DOMINICAN  REPUBLIC  1 

UKRAINE 

2,095 

EQUADOR 

9 

UNITED  KINGDOM 

674 

ESTONIA 

9 

URUGUAY 

120 

FINLAND 

1 

UZBEKISTAN 

25 

FRANCE 

1,676 

VENEZUELA 

227 

GERMANY 

595 

REP.  OF  YUGOSLAVIA 

48 

GREECE 

142 

ZIMBABWE 

6 

IRELAND 

3 

ISRAEL 

6,593 

ITALY 

97 

JAPAN 

1 

aisnsas^H 

KAZAKHSTAN 

3 

70 

LAI  VIA 

LITHUANIA 

133 

-83SSS9HI 

Liste  der  weltweit  aufgeführten  Interviews  durch  die  Shoah-Stiftung  vom  April  1998 


ELLI’S  80.  GEBURTSTAG 


I 
I 
I 
I 

I 
I 
I 
I 

18.1  1.1998  IN  MIAMI  ' 

I 

I 

I 

I 

I 

I 

46  ® 

I 


Ellis  80.  Geburtstag,  am  18.1  1.1998,  richteten  ihre  Freunde  für  sie  in  Miami  aus.  Ihr  jüngerer 
Bruder  Fritz  kam  mit  seiner  Frau  Tamar  eigens  aus  Israel  angereist.  Ihr  älterer  Bruder  aus 
Susua  konnte  aus  Altersgründen  die  Flugreise  nicht  mehr  antreten.  Der  Sohn  ihres  Cousins 
aus  Frankreich,  der  in  Miami  vor  kurzem  ein  Cafe  eröffnet  hatte,  nahm  die  Einladung  mit 
seiner  Lebensgefährtin  dankend  an  und  stiftete  die  Geburtstagstorte.  Ansonsten  fanden  sich 
noch  einige  von  Ellis  alten  Freunden  ein  und  wir  alle  bildeten  eine  stattliche  Gesellschaft. 

Seit  September  1996,  als  Ellis  Lebensgeschichte  in  einem  Spielberg-Video  der  Holocaust 
Überlebenden  gedreht  wurde,  hatte  ich  sie  nicht  mehr  gesehen.  Als  ich  in  der  Hotelhalle  auf 
sie  wartete,  entdeckte  ich  sie,  wie  sie  mühevoll  vor  dem  Hoteleingang  aus  einem  Taxi  stieg.  Sie 
hatte  sich  für  ihren  Ehrentag  neue  Kleider  gekauft.  Mit  80  Jahren  hatte  sich  Ellis  Eitelkeit  nicht 
gelegt.  Langsamen  und  vorsichtigen  Schrittes  näherte  sie  sich  und  begrüßte  mich  mit  einer 
herzlichen  Umarmung.  Auf  dem  Weg  in  ihr  Hotelzimmer  stützte  ich  sie  beim  Gehen.  Ich 
hängte  ihre  neue  Garderobe  in  den  Schrank  und  dachte  an  das  Telefongespräch  vor  kurzer 
Zeit.  Ich  hatte  nach  ihrem  körperlichen  Befinden  gefragt.  Sie  hatte  sich  beklagt,  dass  alles  im 
Alter  nachlasse,  die  Beine  sie  nicht  mehr  trügen,  die  Sehkraft  sich  eintrübe  und  sie  dadurch 
beim  Gehen  immer  unsicherer  würde.  Sie  monierte,  dass  ihr  Herz  nicht  mehr  das  alte  sei  und 
dass  es  mit  dem  Gedächtsnis  auch  hapere.  Als  ich  ihr  dann  am  Telefon  sagte,  dass  ich  sehr 
gerne  zu  ihrem  80.  Geburtstag  kommen  würde,  verflogen  alle  grauen  und  pessimistischen 
Gedanken  von  Krankheit  und  Schmerz,  sie  war  wie  umgewandelt.  Wie  Komplizinnen 
schmiedeten  wir  Pläne  für  gemeinsame  Unternehmungen.  Mit  einem  Mal  waren  in  ihr 
jugendliche  Träume  entbrannt,  sie  hegte  die  Hoffnung  alte  Zeiten  neu  zu  beleben.  Sie  freute 
sich  wie  ein  Teenager  auf  den  ersten  Ball.  Als  ich  sie  so  schlecht  zu  Fuß  sah,  ihre  jugendliche 
Frische  und  ihr  Elan  waren  verflogen,  dachte  ich,  dass  aus  unseren  gemeinsamen 
Unternehmungen  nichts  werden  würde. 

Obwohl  sie  körperlich  sehr  nachgelassen  hatte,  war  ihr  äußeres  Erscheinugsbild 
bewundernswert  gepflegt.  Denn  als  sie  später  vor  mir  saß  mit  ihrer  modischen  Kurzhaarfrisur, 
den  gefärbten  Augenbrauen,  den  rosigen  Wangen,  ihren  geschminkten  Lippen  und  sorgsam  rot 
bemalten  Fingernägeln,  hätte  sie  es  mit  manch  einer  jungen  Frau  aufnehmen  können.  Ihre  Haut 
war  rein  und  faltenfrei  und  wirkte  sehr  jugendlich.  Schmal  war  Elli  geworden,  sie  achtete  sehr 
auf  ihr  Äußeres,  selten  habe  ich  eine  ältere  Dame  so  eitel  erlebt  wie  Elli,  die  zu  ihrem  Fest  nun 
auch  noch  abgenommen  hatte. 

Sie  trug  zu  ihrem  80.  Geburtstag  einen  knallroten  Hosenanzug,  der  sie  hervorragend 
kleidete.  Ihre  blauen  Augen  leuchteten.  Sie  war  wieder  einmal,  wie  schon  so  oft  in  ihrem 
Leben,  Mittelpunkt,  und  das  genoss  sie.  Über  die  vielen  Gratulanten  und  Überraschungsgäste 
war  sie  hocherfreut.  Als  eine  Mariachi-Gruppe  zum  typisch  mexikanische 

Geburtstagsständchen  „Las  Mahanitas”  aufspielte,  hatte  sie  leichten  Tränenglanz  in  ihren 
Augen.  Ihr  Glück  war  aber  erst  vollkommen,  als  ihr  Sohn  Georgy  und  ihr  Enkel  Mosche  zum 
Fest  erschienen. 

Sie  trank  auch  an  diesem  Abend  keinen  Wein,  weil  sie  ja  bekanntlich  nach  Alkoholgenuss  in 
tiefe  Melancholie  verfällt,  sie  wollte  sich  und  ihren  Gästen  den  Abend  nicht  verderben.  Bei 
beschwingter  Musik  raffte  sie  sich  sogar  zu  einem  Tänzchen  auf,  denn  Tanzen  gehörte  ein 
Leben  lang  zu  ihren  großen  Leidenschaften. 

Sie  erzählte  mir  später,  dass  sie  erst  mit  40  Jahren  schwanger  geworden  sei  und  sich  vom 
ersten  Augenblick  an  sicher  war,  dass  ihr  Kind  ein  Mädchen  würde.  Sie  dachte,  dass  sich  ihre 
Tochter  genau  so  um  sie  kümmern  würde,  wie  sie  es  bei  ihrer  Mutter  getan  hatte.  Sie  selbst 


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war  für  ihre  Mutter  ein  tötliches  Risiko  eingegangen,  um  sie  aus  den  Fängen  der  Nazis  in  Wien 
zu  retten.  Als  dann  ihr  Sohn  geboren  wurde,  für  den  sie  zunächst  keinen  Namen  hatte  - und 
auch  keine  blaue  Baby-Ausstattung  - konnte  sie  sich  kaum  mit  ihrem  Schicksal  abfinden. 
Georgy  bekam  rosa  Schleifchen  ins  Haar  gebunden  und  musste  auch  die  bereits  im  Voraus 
gekaufte  rosa  Baby-Wäsche  tragen.  Mit  der  Zeit  hatte  sie  sich  mit  ihrem  Schicksal 
abgefunden,  sie  liebte  und  verwöhnte  ihren  kleinen  Sohn  abgöttisch.  Sie  nahm  ihm  alle 
Schwierigkeiten  ab,  jede  Hürde  wurde  beseitigt.  Sein  Wunsch  war  ihr  Befehl.  Als  er  dann  als 
Medizinstudent  eines  Tages  einen  Hang  zu  schmucken  Uniformen  zeigte,  erfüllte  sie  ihm  auch 
diesen  Wunsch.  Sie  konnte  ein  einflussreiches  Regierungsmitglied,  wenn  nicht  sogar  den 
Präsidenten  der  Dominikanischen  Republik  selbst,  beschwatzen,  so  dass  ihr  Sohn  letzten 
Endes  nach  dem  Studium  als  anerkannter  Militärarzt  - pro  forma  natürlich  - fungieren 
konnte.  Nun  konnte  er  auf  ganz  legale  Weise  seine  dunkelblaue,  mit  goldenen  Knöpfen,  Litzen 
und  Streifen,  besetzte  Uniform  tragen,  worauf  beide  - Mutter  und  Sohn  - sehr  stolz  waren. 

Elli  hätte  ihren  Sohn  zu  gerne  lebenslänglich  an  sich  gekettet,  so  wie  sie  selbst  ihre  Mutter  - 
bis  zu  ihrem  Tod  - beschützt,  behütet  und  gepflegt  hatte.  Dann  kam  jedoch  eines  Tages  eine 
junge,  sehr  dynamische  Frau  dazwischen,  die  die  Lebens-Weichen  des  durchlaufenden 
Georgy-Zuges  anders  stellte.  Elli  konnte  ihr  nie  wirklich  verzeihen,  dass  sie  ihren  Sohn  aus 
Santo  Domingo  wegholte  und  ihn  nach  Miami,  Florida,  „verschleppte”.  Jetzt  lechzt  sie  jede 
Minute  nach  seiner  Gegenwart.  Ein  guter  Ersatzmann,  dem  sie  später  alle  ihre  Liebe  zuteil 
werden  ließ,  ist  inzwischen  ihr  Enkel,  Mosche,  geworden,  der  seinem  Vater  wohl  in  vielen 
Dingen  ähnelt.  Wenn  er  die  Schulferien  bei  seiner  Großmutter  verbringt,  so  sagt  er  ihr 
Nettigkeiten  wie;  „Oma,  es  ist  ganz  egal  wie  Du  ausschaust,  ob  Du  schön  bist  oder  nicht,  ob 
Du  Falten  hast  oder  keine,  ich  liebe  Dich  so  wie  Du  bist,  aber  bitte  tu  mir  einen  Gefallen, 
sterben  darfst  Du  nicht!”  Diese  Geschichte  erzählt  Elli  gern  und  oft  ihren  Freunden  und 
schwelgt  dabei  vor  Glück.  Mit  ihrer  kleinen  Enkelin,  die  erst  zwei  Jahre  alt  ist,  kann  sie  noch 
nicht  sehr  viel  anfangen. 

Ellis  Bruder  Fritz,  hatte  ich  bereits  am  ersten  Tag  im  Hotel  kennen  gelernt,  ein  großer 
schweigsamer  Mann,  der  mit  seiner  Frau  Tamar  aus  Israel  angereist  war.  Wir  kamen  an  diesem 
Geburtstagsabend  angeregt  ins  Gespräch.  Obwohl  Fritz  Koch  damals  noch  sehr  jung  war,  als 
er  Österreich  verließ,  spricht  er  immer  noch  mit  einem  charmanten  Wiener  Akzent  und  hat 
eine  große  Portion  Humor.  Auch  mit  seiner  Frau  Tamar,  ein  Energiebündel  und  auf  allen  Töpfen 
schaffend,  führte  ich  lange  und  tiefgründige  Gespräche.Tamar  ist  die  Tochter  des  David  Stern, 
der  vom  JOINT  in  den  40er  Jahren  von  Israel  aus  in  die  Dominikanische  Republik  beordert 
wurde,  um  den  Neuankömmlingen,  die  vielfach  Akademiker  waren,  beizubringen,  wie  man  aus 
brachliegendem  Terrain,  fruchtbares  Ackerland  gewinnen  konnte.  Er  arbeitete  ein  oder  zwei 
Jahre  in  Sosua  und  gab  Richtlinien  für  den  Anbau  von  Obst  und  Gemüse.  Die  Milchwirtschaft 
ist  bis  heute  noch  in  jüdischer  Hand  und  ihre  Produkte  werden  auf  der  ganzen  Insel  verkauft. 
Als  Tamar  als  junges  Mädchen  ihren  Vater  in  Sosua  besuchte,  verliebte  sie  sich  sogleich  in  den 
gertenschlanken  und  feingliedrigen  jungen  Fritz  Koch.  Später  in  Israel  nannte  er  sich  Rafael 
Kochav,  da  er  nicht  mit  dem  Stigma  eines  deutschen  Namens  leben  wollte.  Bei  Beendigung 
seines  Auftrags  verließen  David  Stern  und  seine  Tochter  die  karibische  Insel  und  Fritz  Koch 
schloss  sich  den  Beiden  an.  In  Israel  heirateten  die  jungen  Leute.  Sie  lebten  außer  in  Israel  noch 
in  Kanada  und  Asien,  wo  auch  ihre  vier  Kinder  geboren  wurden. 

Zurückgezogen  lebt  das  Ehepaar  weiterhin  in  der  großen  Wohnung  in  Haifa,  das  einst  mit 
Kinderlachen  und  voller  Lebendigkeit  erfüllt  war.  Seit  die  jungen  Leute  ihr  eigenes  Leben  leben 


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und  teilweise  verheiratet  sind,  ist  es  still  im  Gemäuer  der  Kochavs  geworden.  Fritz  Koch 
spricht  nicht  gerne  über  vergangene  Zeiten.  Und  wenn  er  in  der  Ecke  sitzt,  grübelnd  seinen 
Blick  in  die  Ferne  schweifen  lässt,  würde  ich  gerne  wissen,  was  ihm  durch  den  Kopf  geht.  Dafür 
ist  seine  Frau  gesprächiger  und  auch  noch  sehr  aktiv.  Eine  bewundernswerte  Frau,  die  kein 
Blatt  vor  den  Mund  nimmt  und  oft  und  gerne  yiddische  Anekdoten  erzählt.  Sie  sagte  mir,  wenn 
sie  sich  etwas  im  Leben  wünschen  könnte,  so  wären  es  vier  zusätzliche  Stunden  am  Tag.  Da 
aber  jeder  ihrer  Tage  mit  diversen  Aktivitäten  vollgepackt  und  ausgefüllt  ist,  bezweifle  ich,  dass 
die  vier  Stunden  ausreichen  würden. 

Ein  anderer  interessanter  Gast  an  diesem  Abend  war  David  Thau,  der  älteste  Sohn  ihres 
Cousins  aus  Frankreich,  der  in  Miami  eine  Bäckerei  und  Konditorei  betreibt.  Er  steuerte  die 
riesige  Geburtstagstorte  bei,  die  allen  Gästen  vorzüglich  mundete.  Leider  kam  er  nur  für 
kurze  Zeit  und  so  ergab  sich  keine  Gelegenheit  zu  einem  Gespräch.  Eigentlich  hatte  ich 
gehofft,  dass  sein  Vater,  Charles  Thau,  aus  Frankreich  kommen  würde,  denn  seine  Lebens-  und 
Leidensgeschichte  hätte  mich  brennend  interessiert.  Gerne  hätte  ich  von  ihm  Details  aus  der 
Zeit  im  Lager  erfahren  und  gefragt,  ob  heutzutage  immer  noch  das  Brot  zu  den  Mahlzeiten  auf 
dem  Tisch  liegen  muss.  Ich  finde  es  großartig,  dass  sein  Sohn  Bäcker  und  Konditor  geworden 
ist.  Leider  liegt  das  Geschäft  seines  Sohnes  für  Charles  Thau  in  all  zu  weiter  Ferne. 

Zwei  Tage  später  besuchte  ich  David  Thau  mit  Tamar  in  seinem  Cafe  in  der  Lincoln  Road, 
wo  wir  eine  kleine  Erfrischung  zu  uns  nahmen.  Die  Baguetts  dufteten,  David  war  gerade 
damit  beschäftigt  eine  neue  Ladung  in  den  Ofen  zu  schieben.  Der  Kuchen  sah  frisch  und 
appetitlich  aus. 

Beim  Abschied  gab  ich  Elli  die  Fotos  von  ihrem  Geburtstag,  die  bereits  entwickelt  waren.  EIN 
war  überglücklich  und  höchst  zufrieden,  besonders,  da  sie  einige  Bilder  entdeckte,  auf  denen 
sie  mit  Georgy  und  dem  Enkel  Mosche  zu  sehen  war.  Sie  bedankte  sich  überschwänglich.  Ich 
mussste  ihr  versprechen,  sie  bald  in  Sosua  zu  besuchen.  Da  ihr  Geburtstagsfest  nun  vorüber 
war,  musste  sie  nach  einem  neuen  „Highlight“  suchen,  an  das  sie  sich  klammern  konnte.  Dann 
verabschiedeten  wir  uns  mit  einer  festen  Umarmung. 

Als  wir  Davids  Cafe  verließen,  nahm  ich  auch  von  Tamar  Abschied,  vorher  hatte  sie  mir  noch 
von  ihrem  Besuch  erzählt,  den  sie  heute  noch  erwartete.  Sie  und  ihr  Mann  waren  im  Hotel 
mit  einem  befreundeten  Ehepaar  verabredet.  Die  Frau  hieß  Erika  und  Fritz  kannte  sie  seit 
ihrer  gemeinsamen  Zeit  in  Luxembourg.  Um  die  alten  Freunde  wiederzusehen,  kamen  Erika 
und  ihr  Ehemann,  eigens  aus  einer  Stadt  in  Florida  angereist. 

Erika  war  1939  ebenfalls  mit  ihrer  Familie  nach  Luxembourg  geflüchtet.  Ihr  Bruder  hatte 
bereits  ein  Visum  für  die  Dominikanische  Republik  in  der  Tasche  und  wartete,  so  wie  die 
anderen  Ausreisewilligen,  auf  den  genauen  Abreisetermin.  Auch  Erika  hätte  sich  der  bereits  fast 
geretteten  Gruppe  ihres  Bruders  anschliessen  können.  Da  aber  ihre  Eltern  - aus  Altergründen 
- keine  Aufenthaltsbewilligung  auf  der  tropischen  Insel  erhielten,  zog  sie  es  vor  bei  ihren  Eltern 
zu  bleiben.  Es  wurden  nur  junge,  kräftige  dynamische  Leute  gesucht  und  Erikas  Eltern  passten 
nicht  in  dieses  Schema.  Erika  blieb  bei  Vater  und  Mutter  und  begleitete  sie  sogar  ins 
Konzentrationslager. 

In  Luxembourg  lernte  das  junge  und  außergewöhnlich  hübsche  Mädchen  Fritz  Koch  kennen 
und  sie  verliebten  sich  ineinander.  Doch  schon  bald  wurden  die  Beiden  voneinander  getrennt. 
Fritz  fuhr  mit  weiteren  50  unfreiwilligen  Emigranten  aus  Luxembourg  mit  dem  Zug  in  Richtung 
Süden.  Anstatt  auf  direktem  Weg  nach  Portugal  zu  gelangen,  von  wo  ihr  Schiff  auslief,  landeten 
sie  zunächst  im  Süden  Frankreichs.  Sie  blieben  noch  etliche  Monate  in  dem  Lager  an  der 


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französisch-spanischen  Grenze.  In  dieser  Zeit  sah  Fritz  seine  Erika  und  ihre  Eltern  wieder,  aber 
auch  dieses  Mal  war  das  Glück  nur  von  kurzer  Dauer,  denn  ihr  Zug  fuhr  bald  darauf  in 
entgegengesetzte  Richtung  - nach  Auschwitz.  Sie  verloren  sich  gänzlich  aus  den  Augen. 

Während  Erikas  Eltern  in  den  Gaskammern  verschwanden,  hatten  sich  die  Nazigrössen 
einige  der  bildhübschen  Mädchen  als  Gespielinnen  auserkoren.  Die  jungen  jüdischen  Frauen 
mussten  ihren  Peinigern  Gehorsam  erweisen  und  ihnen  jederzeit  zu  Diensten  sein.  Da  die 
Jugendlichen  um  ihr  Überleben  kämpften,  die  Unholde  im  Geheimen  abgrundtief  hassten, 
umschnurrten  und  umgurrten  sie  die  Höllenfürsten  und  Todfeinde.  Im  Laufe  der  Zeit  verloren 
die  jungen  Frauen  jede  Würde  und  Selbstachtung.  Sie  wurden  zu  Gefühlsautomaten,  die  man 
beliebig  an-  und  abstellen  konnte. 

Erika  überlebte  Auschwitz  und  kam  nach  dem  Krieg  nach  Marseille  in  ein  Sammel-Lager.  Hier 
wurde  Elli  auf  ihren  Namen  aufmerksam,  denn  sie  kannte  Erika  noch  aus  Luxembourg.  Nun 
hatte  Elli  eine  völlig  veränderte,  kranke  Person  vor  sich.  Die  Jahre  in  Auschwitz  hatten  Erika 
zu  einem  männermordenden  Monster  werden  lassen.  Ihre  Psyche  war  aus  den  Fugen  geraten, 
sie  warf  sich  jedem  x-beliebigen  Mann  an  den  Hals.  Sie  geizte  nicht  mit  Liebeskünsten,  wahre 
Gefühle,  tiefe  menschliche  Regungen  konnte  sie  nicht  mehr  empfinden.  Nach  dem  Krieg  kam 
sie  in  ein  Sanatorium,  wo  sie  nun  versuchte,  alle  Ärzte  für  sich  zu  begeistern.  Es  bedurfte  einer 
langjährigen  Therapie,  sie  wieder  herzustellen.  Erika  hatte  Glück.  Unter  den  Amerikanern,  die 
in  Europa  politisch  Bilanz  zogen,  befand  sich  einer,  der  sich  Erikas  Leid  und  ihrer  Krankheit 
gefühlvoll  und  besorgt  annahm,  sich  um  sie  kümmerte  und  sie  später  in  Amerika  heiratete.  Seit 
der  Zeit  lebt  Erika  in  Florida  und  wann  immer  sie  und  ihr  Mann  die  Gelegenheit  haben,  Fritz 
und  seine  Frau  zu  treffen,  machen  sie  von  dieser  Möglichkeit  Gebrauch  und  es  gibt  jedes  Mal 
ein  herzliches  Wiedersehen.  Und  gerade  heute  war  wieder  so  ein  Tag! 

Seit  ihrem  80.  Geburtstag  habe  ich  Elli  nicht  mehr  gesehen.  Noch  manches  Mal  rief  sie  mich 
völlig  euphorisch  an,  immer  mit  neuen  Ideen  wie  man  ihre  Lebensgeschichte  veröffentlichen 
könnte  und  an  wen  ich  mich  wenden  sollte.  Sie  wollte  endlich  im  Alter  reich  werden.  Aber  auf 
meine  vielen  Anfragen,  einen  Film  aus  ihrer  Überlebensgeschichte  zu  machen,  erhielt  ich  nur 
abschlägige  Antworten.  Als  ich  wieder  nach  Europa  zog,  schrieb  ich  Elli  oftmals  lange  Briefe, 
die  aber  unbeantwortet  blieben.  Ich  hörte  von  Freunden,  dass  sich  ihr  Gesundheitszustand 
ständig  verschlechtere.  Ihr  Gedächtnis  ließ  nach,  sie  wurde  immer  unsicherer  auf  den  Beinen. 
Ihr  kleines  Hotel  in  Sosua  wurde  in  ein  Apartment-Haus  umfunktioniert,  so  konnte  sie 
wenigsten  einigermaßen  von  den  Mieteinnahmen  leben.  Der  größte  Schicksalsschlag  jedoch 
war,  als  ihr  Lebensgefährte,  Don  Mario,  verstarb.  Mit  seinem  Tod  verlor  sie  den  letzten  Halt. 
Don  Mario  war  über  90  Jahre  alt  geworden,  auch  er  hatte  ein  bewegtes  Leben  hinter  sich. 

Mario  Bonci  war  gebürtiger  Italiener  und  in  den  40er  Jahren  in  die  Dominkanische  Republik 
gekommen.  Bei  einer  langen  gemeinsamen  Busreise  von  Santo  Domingo  nach  Sosua  erzählte 
er  mir  viel  über  die  karibische  Insel.  Nur  aus  seinem  früheren  Leben  in  Italien  erzählte  er  mir 
nichts.  Durch  intime  Freunde,  die  ihn  schon  seit  langer  Zeit  kannten,  erfuhr  ich,  dass  Mario 
über  Nacht  aus  Italien  hatte  fliehen  müssen.  Als  Angestellter  des  Vatikan  war  er  durch  Zufall 
auf  irgendwelche  geheime  Information  gestoßen,  die  nicht  für  die  Öffentlichkeit  bestimmt  war. 
Ob  er  aus  politischen  Gründen  unter  der  Herrschaft  Mussolinis  fliehen  musste  oder 
Geheimnisse  des  Vatikan  aufdeckte,  konnte  ich  nicht  in  Erfahrung  bringen.  Jedenfalls  muss  es 
sich  um  eine  schwerwiegende  Sache  gehandelt  haben,  sonst  wäre  der  junge  Mario  nicht  in  den 


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Kaffeeplantagen  im  Landesinnern  der  Insel,  untergetaucht.  Laut  eingeweihter  Freunde,  hatte 
Mario  in  Italien  über  eine  recht  lange  Zeit  ein  Verhältnis  zu  einer  Nonne.  Da  beide  wussten, 
dass  sie  nie  zueinander  finden  würden,  schenkten  sie  sich  gegenseitig  einen  Ring,  der  sie  beide 
bis  zum  Lebensende  verbinden  sollte.  Don  Mario  hat  diesen  Goldreif  nie  abgelegt  und  bis  zu 
seinem  Tode  getragen. 

In  den  50er  Jahren  lernte  er  Elizabeth  und  Mosche  Yatzkan  kennen,  die  in  Santo  Domingo  eine 
Metzgerei  betrieben.  Da  Mario  wieder  einmal  auf  Arbeitssuche  war  und  Mosche  noch  Hilfe 
im  Geschäft  gebrauchen  konnte,  schloss  sich  der  in  allen  Dingen  geschickte  „handy  man“  dem 
Ehepaar  an.  Er  war  ein  fleißiger,  in  sich  gekehrter,  ein  grüblerischer,  aber  äußerst  korrekter 
Mann.  Vermutlich  verehrte  er  im  Stillen  die  Frau  seines  Chefs,  ließ  sich  aber  nie  etwas 
anmerken.  Als  Mosche  Yatzkan  1 97 1 verstarb,  blieb  Mario  bei  Elli  und  beide  führten  noch 
einige  Jahre  das  Geschäft  weiter.  Anfang  der  80er  Jahre  zogen  sie  sich  nach  Sosua  zurück,  wo 
Elli  ein  Grundstück  besaß.  Hier  wollten  sie  ein  kleines  Hotel  eröffnen  und  von  diesen 
Einnahmen  im  Alter  leben.  Das  funktionierte  auch  in  den  80er  Jahren,  denn  viele  Touristen  aus 
Kanada  besuchten  den  damals  kleinen  Künstlerort  mit  den  romantischen  und  einsamen 
Buchten  und  Stränden.  Sosua  war  ein  gemütlicher  und  reizvoller  Ort,  in  dem  hauptsächlich 
Familien  Urlaub  machten.  Die  Dominikanische  Republik  - speziell  Sosua  - verkam  in  den  90er 
Jahren  zu  einem  Ort  des  Billig-  und  Massentourismus.  Es  entstanden  riesige  Hotelkästen,  die 
ihren  Gästen  freien  Alkohol  und  Gratiszigaretten  boten.  Elli  konnte  mit  ihren  Hotelpreisen 
nicht  mehr  mithalten.Außerdem  entstanden  in  der  unmittelbaren  Umgebung  zwielichtige  Bars 
und  Absteigen.  Wummernde  Musik  dröhnte  aus  den  Lautsprechern  und  es  gab  oftmals 
lautstarke  Schlägereien  der  betrunkenen  Touristen.  Die  einst  einsamen  lauschigen  Buchten 
verkamen  zum  Ballermann  der  Karibik  mit  Würstchenbuden  und  Bierständen.  Als  sich  der 
Sextourismus  in  Sosua  einschlich,  stieg  die  Zahl  der  aidskranken  einheimischen  Prostituierten 
rasant  an.  Für  Elli  wurde  das  Geschäft  immer  schwieriger.  Hatte  sie  vorher  Verträge  mit 
großen  Reiseveranstaltern,  kündigten  diese  auf  Grund  der  ständigen  Kunden-Reklamationen. 
Und  so  lebten  sie  manchmal  von  der  Hand  in  den  Mund,  denn  es  kamen  nur  noch 
vereinzelte  Rucksack-Touristen,  die  für  kurze  Zeit,  in  der  sie  sich  in  Sosua  aufhielten,  nicht  viel 
Geld  ausgeben  wollten.  Mitte  der  90er  Jahre  vermietete  sie  die  Räumlichkeiten  ihres 
Gebäudes  längerfristig  als  Apartments,  das  brachte  jeden  Monat  eine  regelmäßige  und  über- 
schaubare Summe  ein.  Gemeinsam  mit  Mario  überbrückte  sie  noch  einige  Jahre  in  ihrer 
kleinen  Wohnung  und  dem  Büro,  das  sich  dem  Hotelkomplex  anschloss.  Als  Mario  im  Jahre 
2001  starb,  nahm  Ellis  Sohn  Georgy  sich  seiner  Mutter  an  und  holte  sie  zu  sich  nach  Miami. 
Endlich  war  sie  dort,  wo  sie  immer  sein  wollte,  in  der  Nähe  ihres  Sohnes.  Ob  sie  die 
„Heimholung“  noch  bei  klarem  Verstand  erleben  konnte,  ist  fraglich.  Vielleicht  hatte  sie  zum 
Schluss  doch  noch  klare  Momente  und  konnte  das  Zusammensein  mit  ihrer  Familie  genießen. 
Ende  Juni  2004  verstarb  Elli  friedlich  im  Kreise  ihrer  Familie,  ohne  dass  sie  je  reich  oder 
berühmt  geworden  wäre. 


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MEXIKO 


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I 

* UND  SEINE  JÜDISCHEN  EXILANTEN 

I 


Exilanten  in  Mexiko 


In  den  fünf  Jahren  meines  Aufenthaltes  in  Mexiko,  habe  ich  viele  jüdische  Menschen 
kennen  gelernt,  die  Ende  der  30er  Jahre  Nazi-Deutschland  und  Österreich  verlassen 
haben.  Bevor  sie  das  Land  Mexiko,  das  sie  freundlich  aufnahm,  erreichten,  hatten 
viele  von  ihnen  eine  abenteuerliche  Flucht  durch  verschiedene  Länder  hinter  sich. 
Etliche  waren  noch  Kinder  als  sie  sich  von  ihren  Eltern  verabschiedeten.  Es  fiel  den 
Eltern  nicht  leicht  ihre  Kinder  -wie  sie  glaubten  - vorübergehend  nach  Holland  oder 
England  in  Heime  zu  schicken,  wo  sie  ihren  Nachwuchs  vor  den  Nazis  in  Sicherheit 
wähnten.  Niemand  glaubte  daran,  dass  sich  Eltern  und  ihre  Kinder  nie  wieder  sehen 
würden. 

Peter  Katz,  Bruno  Schwebel  und  Hanns  Herzberg  schrieben  ihre  eigenen 
Biographien.  Hans  Neumann,  der  in  meiner  Nachbarschaft  wohnte  und  den  ich  öfter 
besuchte,  berichtete  mir  in  vielen  Stunden  über  sein  außergewöhnliches  Leben.  Alle 
anderen  Personen,  deren  Lebensgeschichte  nachfolgend  aufgezeichnet  ist,  habe  ich 
in  mehr  oder  weniger  regelmäßigen  Abständen  zu  Hause  besucht  oder  bei  offiziellen 
Anlässen  getroffen. 

Die  erste  Überlebensgeschichte  ist  die  von  Max  Daniel,  die  im  Februar  1997  von  der 
Shoah-Stiftung  auf  Video  aufgezeichnet  wurde,  und  an  der  ich  teilnehmen  konnte. 

Die  Interviews  entstanden  in  den  Jahren  von  1996  bis  2001. 

Die  meisten  dieser  Exilanten  und  Zeitzeugen  sind  in  der  Zwischenzeit  gestorben. 


Max  Daniel  erzählt 

Der  Erzähler,  Max  D.,  der  seine  Lebensgeschichte  der  Shoah-Stiftung  zur 
Verfügung  stellte,  wurde  am  19.  September  1924  in  Budapest  geboren.  Er  war 
der  jüngste  von  drei  Geschwistern.  Seine  Schwester  war  sechs  Jahre  alt  und 
sein  Bruder  drei  Jahre  älter  als  er.  Die  Familie  lebte  bescheiden  im  jüdischen 
Viertel  von  Budapest.  Sein  Vater  war  Kantor,  die  Mutter  widmete  sich  ganz  der 
Familie  und  dem  Haushalt.  Sie  lebten  in  einem  größeren  Mietshaus, 
zusammen  waren  es  in  etwa  30  Familien. 

Es  herrschte  ein  reges  geschäftiges  Treiben  im  jüdischen  Viertel.  Hier  waren 
nicht  nur  die  Lebensmittelgeschäfte  kosher,  nein,  auch  der  Friseur.  Es  wurde 
kosher  rasiert,  denn  in  der  jüdischen  Religion  darf  keine  Waffe  den  Körper 
berühren,  also  auch  kein  Rasiermessen.  Wer  sich  keinen  Bart  stehen  lassen 
wollte,  musste  einiges  an  Tortur  über  sich  ergehen  lassen.  Zunächst  wurde 
der  Bart  mit  einer  Paste  eingerieben  und  nach  einiger  Zeit  mit  einem  „Messer“, 
das  aus  Knochen  gefertigt  war,  rasiert.  Die  Barthaare  wurden  mehr  oder 
weniger  herausgerissen.  Der  Klient,  der  sich  unter  dem  Knochenmesser 
befand  hatte  Höllenqualen  zu  erleiden  und  das  Schlimme  war,  man  sah  ihm 
auch  danach  das  Martyrium  an.  (Vielleicht  ließen  sich  deshalb  die  meisten 
Männer  einen  Bart  wachsen...?!) 

Die  Familie,  die  einen  guten  Zusammenhalt  hatte,  beging  selbstverständlich 
am  Freitagabend  den  gemeinsamen  „Shabbat“.  Die  Mutter  war  es,  die  vor 
dem  gemeinsamen  Tempelbesuch  im  Haus  die  Kerzen  anzündete,  danach 
wurde  das  Mahl  eingenommen.  Herr  Daniel  erinnerte  sich  noch  genau,  wie  er 
an  einem  Samstag  mit  seinem  Bruder  zu  einer  Kundgebung  der  Kommunisten 
ging,  denn  beide  waren  von  der  Idee  der  Gleichheit  im  Kommunismus 
begeistert.  Da  die  Eltern  wussten  wo  sich  die  Beiden  aufhielten,  machten  sie 
sich  eilends  auf  den  Weg  dorthin  und  zogen  die  Söhne  an  den  Ohren  aus  dem 
Saal,  in  dem  sich  ca.  100  Leute  befanden.  Das  war  den  Brüdern  nicht  nur 
äußerst  peinlich,  sondern  auch  eine  Lehre  für  die  Zukunft,  sie  fehlten  an 
keiner  Shabbat-Tafel  mehr.  Respekt,  Achtung,  Wertschätzung  und 
Ehrerbietung  gehörten  damals  nicht  nur  zum  Vokabular  der  Menschen, 
sondern  sie  handelten  und  lebten  auch  danach. 

Die  ältere  Schwester  des  Herrn  D.  besuchte  als  einzige  das  Gymnasium,  ihr 
fiel  das  Lernen  sichtlich  leicht,  sie  war  auch  sehr  belesen.  Die  Brüder  waren 
dafür  sportlich  sehr  aktiv.  Sie  besuchten  die  normale  Staatsschule  und  hatten 
neben  der  ungarischen  Sprache  auch  Deutsch  zu  lernen,  auch  beherrschten 
alle  Familienmitglieder  Jiddisch. 

Da  die  Zeiten  in  den  30er  Jahren  nicht  rosig  waren,  die  Familie  zum 
Überleben  auch  ein  wenig  mehr  Geld  benötigte,  schickten  die  Eltern  den 
jungen,  14jährigen  Max,  in  eine  Kürschnerlehre.  Sie  konnten  ihn  bei  einem 
jüdischen  Bekannten  in  der  Werkstatt  unterbringen,  wo  er  eine  dreijährige 
Lehre  absolvierte.  Er  bekam  einen  geringen  Lohn,  der  sich  jedes  Jahr  etwas 
erhöhte.  In  jener  Zelt  trat  er  einer  kommunistischen  Gruppe  bei,  von  deren 
Ideen  er  vollkommen  eingenommen  war.  Diese  schienen  sich  auch  gegen  den 
Antisemitismus  zu  stellen,  der  sich  in  dieser  Zeit  auch  in  Ungarn  breitgemacht 
hatte.  Vor  allem  hatte  es  dem  jugendlichen  Max  die  Gleichheit  aller  Menschen 


1 


angetan.  Voller  Enthusiasmus  nahm  er  an  den  Vorträgen  und  auch  an  den 
Ausflügen  der  jungen  Mitglieder  der  Vereinigung  teil. 

Als  die  Deutschen  Polen  einnahmen,  dachte  sich  der  15jährige  noch  nicht  viel 
dabei.  Für  ihn  war  Polen  weit  weg,  denn  während  der  ersten  Kriegsjahre  blieb 
Ungarn  verschont.  Als  nun  die  Nazis  ihr  Unwesen  in  Ungarn  trieben,  war  es 
für  den  jungen  Max  zu  spät.  Er  wurde  trotz  seines  jugendlichen  Alters  zum 
nationalen  Arbeitseinsatz  gezwungen,  mit  ihm  natürlich  viele  andere  jüdischen 
jungen  Männer.  Sie  wurden  zunächst  auf  Härte  getrimmt,  mussten  mit  Hacke 
und  Schaufel  Löcher  ausheben.  Bei  dieser  Gelegenheit  wurden  ihnen  drei 
Spritzen  gesetzt.  Herr  Daniel  glaubt  heute  noch  fest  daran,  dass  es  Impfungen 
gegen  drei  verschiedene  Krankheiten  oder  Seuchen  waren.  Was  es  genau 
war,  wusste  er  nicht.  Aber  er  wusste  genau,  dass  die  Verabreicher  der 
Spritzen  nicht  zimperlich  waren.  Da  wurden  recht  dicke  Hohlnadeln  In  den 
Brustkorb  der  jungen  Arbeiter  gejagt,  worauf  sich  alsbald  ein  taubes  Gefühl 
einstellte.  Aber  was  half  es,  es  musste  weitergearbeitet  werden,  die  drei 
Spitzen  aber  folgten  in  kurzen  Zeitabständen. 

Nach  der  „Einarbeitung“  unter  großen  körperlichen  Anstrengungen  folgte  die 
Freilegung  der  zerbombten  Häuser.  Da  mussten  diese  unerfahrenen 
Jugendlichen  die  abgerissenen  Köpfe,  die  noch  warmen  Beine,  Arme  oder 
sonstige  Leichenteile  aus  den  zerbombten  Häusern  bergen.  Später  sollten  sie 
aus  einem  brennenden  Silo  retten,  was  noch  an  Korn  zu  retten  war.  Mit  den 
Nazis  im  Nacken,  die  sie  ständig  anfeuerten  und  mit  Erschießung  drohten, 
blieb  ihnen  keine  andere  Wahl.  Einmal  hatten  sie  eine  Schweizer-Fabrik,  die 
auch  von  Bomben  getroffen  war,  von  Schutt  und  Asche  zu  befreien.  Ein 
anderes  Mal  wurden  sie  gezwungen  Bomben  freizulegen,  die  während  des 
Aufpralls  nicht  detoniert  waren.  Wie  aber  konnten  sich  diese  jungen  und 
unerfahrenen  Männer  gegen  eine  Explosion  schützen?  Überhaupt  nicht.  Es 
war  reine  Glückssache  und  deshalb  trugen  sie  die  Erde  oft  nur  mit  den  bloßen 
Händen  ab.  Allerdings  war  die  zweimalige  Verpflegung  am  Tag  auf 
Staatskosten  nicht  zu  verachten.  Hier  konnten  sie  sich  wenigstens  satt  essen, 
selbst  wer  ein  zweites  Mal  in  der  Reihe  stand  wurde  anstandslos  verköstigt, 
denn  zu  Hause  waren  Lebensmittel  rar.  So  konnte  Max  seine  Familie  als 
Kostgänger  entlasten. 

Leider  kam  es  jetzt  auch  in  Ungarn  immer  öfter  zu  Deportationen,  der  Juni 
1 943  wurde  zum  „traurigen  Monat“  = dem  „juni  triste“.  Als  die  Situation  Immer 
brisanter  wurde,  versteckte  sich  der  junge  Max  D.  in  einem  Kohlenwaggon 
unter  dem  Koks  und  wollte  seinen  Feinden  entfliehen.  Er  dachte  in  der 
ländlicheren  Gegend  sei  es  sicherer,  aber  kaum  war  er  aus  Budapest  heraus 
gekommen,  hatten  die  Nazis  ihn  schon  am  Wickel.  Auch  er  kam,  wie  die  vielen 
tausend  Menschen  vor  ihm  in  den  unmenschlichen  Viehwaggon  mit  90 
anderen  Leidenden  und  es  begann  eine  zehn  Tage  und  Nächte  lange 
Odyssee.  Zufälliger-  oder  glücklicherweise  hatte  er  ein  Kilogramm  Mohn,  fein 
säuberlich  verpackt,  gefunden  und  konnte  sich  davon  ernähren.  Aber  das 
Schlimmste  war  der  Durst.  Durch  das  kleine  vergitterte  und  einzige  Fenster 
des  Zuges  sammelten  die  Insassen  auf  einem  Löffel  Regenwasser  auf  und 
verteilten  es  unter  den  Leidensgenossen.  Auch  Herr  D.  teilte  den  Mohn  mit 
seinen  Schicksalsgefährten.  Vor  allem  aber  mit  seinem  Freund  Imre,  den  er 
hocherfreut  auf  diesem  Transport  wieder  sah. 


2 


Nach  zehn  qualvollen  Tagen  und  Nächten,  wo  nur  gehalten  wurde,  um  sich 
der  Leichen  zu  entledigen,  kamen  sie  in  Bergen  Belsen  an.  Der  junge  Max 
wusste  nicht,  wie  er  aus  dem  Zug  heraus  kam,  denn  seine  Beine  waren  taub. 
Er  konnte  kaum  einen  Schritt  gehen,  er  ließ  sich  einfach  wie  ein  Mehlsack  aus 
dem  Zug  fallen  und  kroch  halb  wahnsinnig  vor  Durst  auf  ein  Wasserloch  zu 
und  sog  eine  ganze  Weile  lang  Flüssigkeit  auf,  ungeachtet  dessen,  ob  es 
sauber  war  oder  nicht.  Dass  er  danach  nicht  an  Durchfall  oder  an  sonstigen 
Krankheiten  litt,  führt  er  auf  die  drei  Spritzen  zurück,  die  man  ihm  in  Budapest 
verabreicht  hatte. 

Mit  3.000  anderen  Ungarn  teilte  er  sein  Schicksal,  sie  alle  lebten  in  einer 
Baracke  zusammen.  Er  erinnerte  sich  noch  gut,  gegenüber,  durch  einen  Zaun 
getrennt,  waren  die  Holländer  untergebracht.  Sie  schienen  noch  alle  wohl 
genährt  zu  sein,  zumindest  waren  bei  ihnen  noch  Muskeln  zu  erkennen, 
während  bei  den  meisten  Ungarn  nur  die  Rippen  zum  Vorschein  kamen. 
Später,  nach  dem  Krieg  wurde  Max  gewahr,  dass  auch  Anne  Frank  in  der 
holländischen  Baracke,  Jenseits  des  Zauns,  lebte.  Es  sollte  ihr  letztes  Zuhause 
werden,  sie  starb  kurz  vor  der  Befreiung. 

Mit  Imre,  seinem  langjährigen  Freund,  teilte  er  nicht  nur  die  Holzpritsche, 
sondern  sie  ermunterten  sich  auch  gegenseitig  und  rüsteten  sich  fürs 
Überleben.  Während  einige  orthodoxe  Juden  sich  in  Gebete,  Gesänge  und 
Meditation  begaben,  sorgten  sie  für  körperliche  Fitness,  sie  wollten  es  ihren 
Feinden  nicht  zu  einfach  machen. 

Die  Verpflegung  in  Bergen  Belsen  war  unmenschlich,  das  Mittagessen 
bestand  aus  „Dörrgemüse“,  was  immer  das  heißen  sollte.  Es  bestand  aus 
irgendwelchen  Baumrinden  oder  Wurzeln,  denen  etwas  Salz  und  Pfeffer 
beigefügt  war,  also  eine  kaum  genießbare  Brühe.  Niemand  riss  sich  um  den 
Sud,  aber  man  löffelte  ihn  um  zu  überleben.  Morgens  wurde  ein  ca.  sieben  cm 
großes  Stück  Brot  verteilt,  dazu  gab  es  ein  braunes  Gebräu,  das  sich  Kaffee 
nannte,  aber  nichts  damit  gemein  hatte.  Herr  D.  wundert  sich  heute  noch,  wie 
manche  von  ihren  sieben  cm  großen  Brotstücken  noch  drei  oder  vier 
Zentimeter  verkaufen  konnten.  Zwar  gab  es  kein  Geld  und  keine 
Tauschwaren,  aber  man  versprach  nach  dem  Krieg  alles  In  Dollar  zurück  zu 
zahlen.  Oder  man  gab  Adressen  von  Verwandten  an,  die  die  Schuld 
begleichen  würden.  Aber  gerade  diese  Menschen  starben  frühzeitig. 

Wie  in  allen  Lagern  war  auch  hier  die  Plage  der  Wanzen  sehr  groß,  sie  saßen 
in  den  Kleidern,  im  Holz  der  Pritschen  und  auf  der  Haut,  wo  sie  den  mageren 
Menschen  das  ohnehin  spärliche  Blut  abzapften  und  Infektionen  verursachten. 
Auf  Hygiene  konnte  bei  den  vielen  tausend  Menschen  nicht  geachtet  werden, 
und  obwohl  Bergen  Belsen  kein  Vernichtungslager  durch  Gasöfen  war, 
starben  trotzdem  viele  Menschen  an  Krankheiten  und  Seuchen.  So  wurde 
auch  bei  den  sanitären  Anlagen  gespart,  eine  Grube  mit  einem  Balken  musste 
ihnen  reichen.  Auch  Privatsphäre  war  hier  nicht  angesagt,  im  Gegenteil.  Wenn 
ein  Häftling  nachts  seine  Notdurft  verrichtete,  beschienen  ihn  die  Scheinwerfer 
der  Wachtürme  und  so  wurde  er  noch  verspottet  und  verlacht. 


3 


Im  Frühjahr  1945  wurde  es  plötzlich  sehr  geschäftig  im  Lager,  es  kam 
irgendwie  Unruhe  auf,  aber  niemand  wusste  sie  zu  deuten.  Alle  Insassen 
mussten  in  den  Duschraum,  wurden  vorher  am  ganzen  Körper  geschoren. 
Nachdem  ihre  Körper  von  Haaren  befreit  waren,  sahen  sie  erst,  wie  sehr  sie 
von  Läusen  und  Flöhen  heimgesucht  und  geschunden  waren.  Kurze  Zeit 
später  fuhren  wieder  Transporte,  weg  von  Bergen  Belsen,  nach 
Theresienstadt.  Diese  Zugfahrt  dauerte  nur  drei  Tage,  aber  auch  hier  gab  es 
weder  Flüssigkeit  noch  feste  Nahrung.  Jedoch  Theresienstadt  bereitete  ihnen 
eine  Überraschung,  sie  fanden  keine  einfachen  Holzbaracken  vor,  sondern 
festes  MauenA/erk  und  große  Räume.  Das  Lager  war  wie  eine  Stadt,  in  der 
sich  jeder  frei  bewegen  konnte,  und  auch  das  Essen  war  nicht  gar  so 
„saumäßig“  wie  zuvor. 

Es  sollten  jedoch  noch  einige  Wochen  vergehen,  bis  die  Befreier,  die  Russen, 
kamen.  Durch  das  kleine  vergitterte  Fenster  seines  Zimmers  hatte  Max  D.  eine 
freie  Sicht  auf  eine  Strasse  und  im  Hintergrund  die  Berge.  Er  sah  eines  Tages 
wie  die  Deutschen  fluchtartig  Theresienstadt  verließen,  und  beim  Wegrennen 
noch  ein  paar  Salven  auf  die  Gefangenen  abschossen.  Das  dichte  Mauerwerk 
ließ  es  zu  keinem  Todesfall  kommen,  höchstens  hier  und  da  gab  es  einen 
Streifschuss.  Bald  danach  nahten  mit  großem  Getöse  und  einem  Höllenlärm 
die  russischen  Panzer.  Max,  sichtlich  geschwächt  (er  wog  nur  noch  33  kg) 
wollte  seinen  Befreiern  entgegen  eilen,  weit  kam  er  nicht.  Als  ein  Russe  ihm 
einen  freundschaftlichen  Klaps  versetzte,  fiel  er  um.  Da  die  Russen  auch 
Proviant  mitbrachten,  Max  von  den  fremden  Lebensmitteln  kostete,  machte 
sein  Magen  schlapp,  denn  er  war  ja  nur  an  dünne  Wassersuppe  gewöhnt.  Er 
bekam  einen  fürchterlichen  Durchfall  mit  hohem  Fieber  und  wurde  in  das 
provisorische  russische  Lazarett  gebracht,  was  für  ihn  genauso  schlimm  wie 
das  Lager  selbst  war.  Man  behandelte  Max  mit  dem  Wenigen  was  ihnen  zur 
Verfügung  stand,  außerdem  verstand  er  seine  Helfer  nicht  und  sein  Zustand 
besserte  sich  nicht  im  Geringsten.  Er  versuchte  zu  fliehen,  wurde  jedoch 
wieder  ohnmächtig,  landete  aber  dieses  Mal  bei  einem  tschechischen  Arzt, 
den  er  zwar  ebenso  wenig  verstand,  der  ihm  aber  letzten  Endes  auf  die  Beine 
half. 

Vom  Tag  des  Kriegsendes  -am  8.  Mal  bis  Ende  Juli-  musste  Max  D.  in 
Quarantäne  bleiben.  Danach  hatte  er  so  viel  an  Gewicht  zugelegt,  dass  er 
seine  „Heimreise“  nach  Budapest  antreten  konnte.  Vorher  jedoch,  als  er  sich 
nach  der  Haftzeit  und  vor  allem  nach  seiner  Krankheit  zum  ersten  Mal  im 
Spiegel  sah,  war  er  von  seinem  eignen  Spiegelbild  so  geschockt,  dass  er  in 
tiefe  Depression  verfiel.  Er  konnte  sich  selbst  nicht  mehr  akzeptieren.  In  dieser 
Phase  ohne  Lebensmut  und  tiefer  Traurigkeit  traf  er  auf  seinen  alten  Freund 
Imre,  der  ihm  neue  Hoffnung,  Daseinsfreude  und  Zuversicht  vermittelte. 
Während  Max  noch  im  Lager  verharren  musste,  konnte  sein  Freund  in  die 
Heimat  reisen. 

Im  Juli  1945  war  es  dann  endlich  soweit.  Die  Züge  waren  überfüllt  mit 
Menschen,  so  reiste  er,  wie  viele  andere  auch,  auf  dem  Dach  des  Zuges,  mit 
dem  Rücken  In  Fahrtrichtung,  damit  er  dem  Dampf  entging,  in  Richtung 
Heimat.  Obwohl  es  eigentlich  nur  eine  Fahrt  von  wenigen  Stunden  gewesen 
wäre,  brauchte  der  Zug  drei  Tage.  Oft  mussten  die  Gleise  frei  geräumt 
werden,  denn  überall  am  Wegrand  lagen  Waffen  und  Kriegsmaterial  herum. 


4 


Brücken  konnten  nicht  so  einfach  überfahren  werden,  denn  sie  waren 
teilweise  zerstört,  und  so  zögerte  sich  die  Fahrt  hinaus. 

Angekommen  in  Budapest,  erkannte  er  seine  Heimatstadt  kaum  wieder,  denn 
70%  der  Stadt  war  durch  Bomben  zerstört  worden.  Natürlich  fand  er  den  Weg 
zu  seinem  Elternhaus,  nur  überkam  ihn  die  bange  Frage,  lebt  die  Familie 
überhaupt  noch?  Es  wurde  ihm  immer  elender  zumute,  das  letzte  Stück  des 
Weges  lief  er  seinem  Haus  entgegen.  Gott  sei  Dank,  es  stand  noch 
wohlerhalten  da.  Er  stürzte  in  den  Hausflur,  es  erkannten  ihn  auch  sofort 
Nachbarn  die  laut  schrieen  und  schon  eilte  ihm  seine  Mutter  im  Laufschritt 
entgegen,  obwohl  sie  eigentlich  gehbehindert  war  und  kaum  laufen  konnte. 
Welch  ein  überschwängliches  Wiedersehen  war  dies  für  die  beiden 
Menschen. 

Der  junge  Max  war  noch  nicht  einmal  21  Jahre  alt  und  hatte  bereits  das 
Schicksal  eines  alten  Menschen  - oder  das  mehrerer  Menschen  erlebt.  Er  war 
immer  noch  so  geschwächt,  dass  an  Arbeit  vorerst  gar  nicht  zu  denken  war. 
Zunächst  musste  er  mit  Vitaminen  hochgepäppelt  werden,  die  seine  Mutter 
ihm  gerne  besorgte.  Damit  beide  überleben  konnten,  suchte  die  Mutter  eine 
Arbeit.  Nun  erfuhr  Max  auch  vom  Schicksal  seiner  Geschwister  und  seines 
Vaters.  Der  Vater  wurde  deportiert  und  starb  im  Lager.  Seine  Schwester 
überlebte  die  Zugfahrt  mit  90  anderen  Menschen  nicht,  sie  starb  unten^^egs, 
und  ihre  Leiche  wurde  aus  dem  Zug  geworfen.  Niemand  weiß  wo  sie  liegt, 
anonym,  ohne  Grab,  ohne  Gedenkstein  wurde  sie  verscharrt. 

Sein  Bruder,  der  sich  den  russischen  Kommunisten  angeschlossen  hatte, 
wurde  von  seinen  Genossen  im  vereisten  Graben  liegen  gelassen  als  er  nicht 
mehr  weiter  konnte.  Ihm  waren  die  Beine  bis  zu  den  Knien  abgefroren, 
niemand  half  ihm  zu  überleben.  Nicht  nur  diese  Begebenheit,  sondern  das 
gesamt  schreckliche  Verhalten  der  Russen,  die  schlimm  in  Ungarn  gewütet 
hatten,  die  Frauen  und  Mädchen  vergewaltigten,  Raubzüge  veranstalteten  und 
wie  die  Wandalen  einfielen,  blieb  bei  Max  D.  mit  Bitterkeit  haften.  Das  war 
nicht  mehr  das  alte  Idealbild  das  er  von  den  Kommunisten  hatte,  nun  graute 
ihm  vor  ihnen. 

Da  er  schon  bald  von  den  Russen  den  Einberufungsbefehl  bekam,  wollte  er  so 
schnell  wie  möglich  Ungarn  verlassen,  was  aber  nicht  ganz  einfach  war.  Er 
wandte  sich  an  die  International  vertretene  jüdische  Organisation  JOINT,  die 
auch  in  Budapest  tätig  war,  sie  wollten  ihm  zu  den  nötigen  Papieren  verhelfen. 
In  der  Zwischenzeit  bekam  er  sogar  einen  kleinen  Posten  beim  JOINT,  so 
dass  er  ständig  auf  dem  Laufenden  war.  Am  Nachmittag  konnte  er  erneut  bei 
seinem  alten  Chef,  dem  Kürschner,  ein  paar  Groschen  dazu  verdienen.  Er 
erhielt  das  ersehnte  Ausreisepapier  für  sich  und  seine  Mutter  und  die  Reise 
ging  zunächst  nach  Italien.  Zwei  Tage  später  wurde  niemandem  mehr  eine 
Ausreiseerlaubnis  erteilt. 

Zuerst  lebten  sie  in  Venedig,  später  In  Genua.  Nun  konnte  Max  zum  ersten 
Mal  nach  langer  Zelt  tief  durchatmen,  sich  frei  fühlen  und  eine  Ruhepause 
einlegen.  Allerdings  musste  ihre  Aufenthaltserlaubnis  alle  drei  Monate 
verlängert  werden.  Bis  er  einen  alten  Juden  in  der  Nähe  von  Rom  fand,  der 
ihm  durch  einen  manipulierten  Stempel  „gültige  Ausweispapiere“  verschaffte. 


5 


Nun  konnte  Max  mit  seiner  Mutter  ausreisen  wohin  er  wollte,  und  die 
Befürchtung  ins  kommunistische  Ungarn  zurück  zu  müssen,  war  gebannt. 

Da  sie  Verwandte  in  Mexiko  hatten,  die  ständig  drängten,  sie  möchten  doch  zu 
ihnen  kommen,  nahmen  sie  eines  Tages  diese  Gelegenheit  wahr  und  fuhren 
von  Genua  aus  in  Richtung  Südamerika.  Sie  waren  einige  Wochen  mit  dem 
Schiff  unterwegs  und  in  Mexiko  wurden  sie  ganz  herzlich  von  ihren 
Angehörigen  empfangen.  Max  konnte  auch  gleich  in  das  Geschäft  seines 
Onkels  einsteigen  und  sein  eigenes  Geld  verdienen.  Bald  danach  traf  er  auf 
einer  Hochzeit  die  Frau  seines  Lebens,  die  er  kurze  Zeit  später  heiratete. 
Sarah  hieß  seine  Angebetete  und  war  die  Tochter  von  litauischen  Juden.  Die 
Familie  war  bereits  in  den  20er  Jahren  nach  Mexiko  gekommen  und  führten  in 
der  Nähe  von  Veracruz  ein  Möbelgeschäft.  Schon  bald  kam  ihre  Tochter  auf 
die  Welt  und  sechs  Jahre  später  ein  Sohn.  Heute  haben  Max  und  Sarah  drei 
Enkelkinder.  Die  Familie  ist  sehr  eng  miteinander  verbunden.  Trotz  der 
grausamen,  ja  unmenschlichen  Jugend,  der  Verlust  der  Familienmitglieder 
unter  tragischen  Umständen,  ist  Max  trotzdem  ein  Optimist  geblieben.  Er  hat 
immer  eine  schelmisches  Blitzen  in  den  Augen  und  einen  Scherz  auf  den 
Lippen.  Am  meisten  freute  mich  zu  sehen,  welch  netten  und  liebevollen 
Umgang  und  Zusammenhalt  Sarah  und  Max  heute  noch  pflegen,  die  nach  all 
den  Jahren  enger  verbunden  sind  denn  je.  Ein  gutes  Beispiel  für  uns  alle. 
Bewundernswert! 


6 


DIE  VIELEN  KAFFEESTUNDEN 

BEI 

HANS  NEUMANN 


Herr  Neumann  in  seiner  Wohnung  in  Polanco 


Hans  Neumann  und  die  vielen  Kaffee-Stunden 


Da  Hans  Neumann  in  Mexiko  in  meiner  Nachbarschaft  wohnte,  besuchte  ich  ihn 
öfter  in  seiner  Wohnung  in  Polanco,  wo  wir  uns  angeregt  unterhielten  und  er  mir 
aus  seinem  langen  Leben  erzählte.  Mich  interessierte  besonders  die  Zeit,  die  er  in 
der  Dominikanischen  Republik  verbracht  hatte  und  nach  vielen  Begegnungen 
kamen  zahlreiche  ergiebige  Details  zutage.  Bevor  ich  nach  Deutschland  zurück 
kehrte  überließ  er  mir  sogar  einige  Fotokopien  aus  seinen  persönlichen 
Dokumenten. 

Hier  ein  kurzer  Abriss  von  einem  Gespräch,  das  am  10.5.2000  in  Mexiko  City,  bei 
Hans  Neumann,  stattfand. 

Hans  Neumann  wurde  am  10.10.1910  in  Graz  geboren.  Seine  Eltern  besaßen  in 
Graz  eine  Ziegelei  und  stellten  feuerfestes  Material  für  Brennöfen  her.  (Schamott) 
Auch  Hans  Neumann  erhielt  eine  entsprechende  Ausbildung,  um  die  Fabrik  seiner 
Eltern  einmal  zu  übernehmen,  er  studierte  Chemie. 

Einen  Teil  seines  Studiums  absolvierte  er  in  Prag,  wo  er  Egon  Erwin  Kisch  zufällig 
in  einem  Gasthaus  kennen  lernte.  Die  jungen  Studenten,  Freunde  Hans 
Neumanns,  wollten  sich  im  Sommer  in  einem  Lokal  mit  einer  Limonade  erfrischen, 
als  sie  einer  Ecke  den  leicht  angetrunkenen  Schriftsteller  Egon  Envin  Kisch 
entdeckten,  der  sie  um  ein  Freibier  bat.  Sie  unterhielten  sich  eine  ganze  Weile  und 
zahlten  Kisch  von  ihrem  kargen  Taschengeld  ein  alkoholisches  Getränk  und  zogen 
weiter.  Später,  in  Mexiko,  traf  Hans  Neumann  erneut  auf  Egon  Erwin  Kisch,  der 
sich  jedoch  nicht  mehr  an  diese  Begebenheit  in  Prag  erinnern  konnte.  In  den  40er 
Jahren  hielt  sich  auch  Anna  Seghers  in  Mexiko  im  Exil  auf  und  Hans  Neumann  traf 
sie  bei  gewissen  Anlässen.  Auf  meine  Frage,  wie  er  Anna  Seghers  fand, 
antwortete  er  nur:  „Rot,  Rot,  Rof . Die  Exil  Kommunisten  waren  Ihm  wohl  nicht 
geheuer. 

Herr  Neumann  erzählte  mir,  dass  sich  die  polnischen  und  russischen  Juden  an  den 
alten  “Brauch”  hielten  und  1/10  ihres  Einkommens  für  wohltätige  Zwecke  abgaben. 
In  diesem  Fall  bekam  der  “JOINT”  diese  Abgabe  und  konnte  damit  bedürftigen 
Menschen  helfen,  die  aus  ihrer  Heimat  fliehen  mussten  und  nichts  mitnehmen 
durften.  (American  Distribution  Committee).  Jedes  Land  hatte  eine  bestimmte 
Quote  zu  erfüllen  und  hat  jeden  Monat  Gelder  zur  Verfügung  gestellt.  Die  Dollar 
wurden  nach  England  geschickt  und  in  Pfund  eingewechselt. 

Hans  erzählte  mir,  dass  von  den  Exilanten  die  Rechtsanwälte  die  geringste 
Chance  hatten  ihren  Beruf  auszuüben,  da  sie  oftmals  der  fremden  Sprache  nicht 
mächtig  waren.  Sie  wurden  umgeschult  und  wurden  oft  einfache  Handwerker,  wie 
Tischler  oder  Installateure.  Argentinier  haben  von  “Neueinwanderern”  während  des 
Zweiten  Weltkrieges  Vorzeigegelder  verlangt. 


1 


Als  Hitler  im  März  40  nach  Prag  einmarschierte,  hat  es  dort  viele  Kommunisten 
gegeben.  Manche  von  ihnen  ergriffen  die  Flucht  durch  unterirdische  Gänge  und 
Tunnel  eines  Kohlenbergwerks,  das  nahe  an  der  Grenze  zu  Polen  lag.  Politisch 
Verfolgte  wurden  ebenfalls  nach  Polen  geschleust. 

Hans  Neumann  ging  von  Prag  nach  Mailand.  In  Prag  hatte  er  für  die  jüdische 
Organisation  Hitzem  gearbeitet  und  wurde  in  Mailand  wieder  von  einer  jüdischen 
Organisation  mit  offenen  Armen  empfangen.  Die  Österreicher  erhielten  nach  dem 
^Anschluss“  deutsche  Pässe.  Als  man  bei  Hans  Neumann  das  “J”  für  Jude“  im 
seinem  Pass  einzustempeln  vergaß,  konnte  er  sich  in  Europa  relativ  frei  bewegen. 
Er  wurde  von  seiner  Organisation  in  die  Schweiz  geschickt.  Dort  kam  am  er  am 
30.8.39  an,  übernachtet  in  Lugano,  und  weil  er  kein  gültiges  Visum  besaß,  wurde 
er  am  1.9.39  festgenommen  und  kam  ins  Gefängnis.  An  diesem  Tag  war  just  der 
Zweite  Weltkrieg,  ausgebrochen.  (Mobilmachung,  Kriegsausbruch). 

Hans  Neumann  kam  in  ein  Flüchtlings  -und  Arbeitslager  und  wurde  gezwungen  im 
Straßenbau  zu  arbeiten.  Hier,  in  der  Schweiz  traf  er  auf  einen  Herrn  Throne  aus 
Santo  Domingo,  der  auf  der  Suche  nach  Arbeitskräften  für  die  Dominikanische 
Republik  war.  Nach  einer  internationalen  Konferenz  (in  Vichy)  nahmen  nur  noch 
Liechtenstein,  die  Schweiz  und  die  Karibik  Insel  Dominikanische  Republik  jüdische 
Flüchtlinge  auf.  Hans  Neumann  war  selbstverständlich  daran  interessiert  Europa 
zu  verlassen  und  meldete  sich  für  die  Überfahrt  in  die  Karibik.  Er  zahlte  nur  die 
Hälfte  der  Schiffspassage  selbst,  der  Rest  wurde  von  zwei  jüdischen 
Organisationen  - Bna  Brit  und  eine  andere-  übernommen. 

Großzügig,  wie  sich  Trujillo,  der  Präsident  der  Dominikanischen  Republik  immer 
gab,  wollte  er  100.000  verfolgten  Juden  auf  seiner  Insel  ein  Zuhause  geben.  In 
Wirklichkeit  rettete  er  nur  645  Menschen  vor  dem  sicheren  Tod. 

Im  Februar  1941  fuhr  Hans  Neumann  von  Genf  aus  ins  unbesetzte  Frankreich, 
über  Spanien  nach  Portugal,  wo  er  noch  zwei  Monate  auf  seine  Ausreise  warten 
musste.  Laut  Herrn  Neumann  fuhr  er  auf  der  “Serpa  Pinto”,  dem  berüchtigsten 
Emigrantenschiff  und  übernachtete  im  Frachtraum  in  einer  Hängematte. 

Gleich  am  Anfang  hatte  er  auf  dem  Schiff  eine  Breslauer  Fabrikantenfamilie 
kennen  gelernt,  die  ihn  wohl  sehr  gerne  mochte  und  ihn  tagsüber  in  die  1.  Klasse 
einlud.  Dem  Kapitän  erzählten  sie,  Hans  müsse  ihren  Kindern  Unterricht  erteilen. 
In  New  York  kamen  sie,  wie  alle  Emigranten,  nach  Ellis  Island  und  blieben  dort  14 
Tage.  Unter  großer  Bewachung  wurden  die  Auswanderer  zur  “Puerto  Rican  Line” 
geführt,  die  sie  nach  Santo  Domingo  brachte.  Zu  der  Zeit  hieß  die  Hauptstadt  noch 
“Ciudad  Trujillo“  Nachdem  die  ca.20  Neuankömmlinge  das  Schiff  verlassen  hatten, 
wurden  sie  von  einem  Kommittee  in  Empfangen  genommen. 

Hans  Neumann  kam  im  Jahre  1941  nach  Sosua,  wo  bereits  der  Agro-Joint  mit  den 
Gemüseanpflanzungen  und  dem  Hausbau  alle  Hände  voll  zu  tun  hatte.  Hans  aber 
war  kein  geübter  Landarbeiter.  Da  er  von  Beruf  Chemiker  war  und  in  Graz  in  der 
Ziegelei  seines  Vaters  gearbeitet  hatte,  kam  ihm  zugute,  dass  die  Regierung  des 


2 


\ 

\ 


Inselstaates  Siedlungen  aus  Ziegelsteinen  erstellen  wollte.  Er  zeigte  seinen 
dominikanischen  Gehilfen,  wie  zunächst  die  Holzformen  gefertigt  wurden,  in  denen 
die  Handschlagziegel  geformt  - und  später  gebrannt  wurden.  Wie  Hans  Neumann 
erzählte,  stellten  sich  die  Dominkanos  bei  dieser  Arbeit  sehr  geschickt  an  und 
arbeiteten  fleißig  und  umsichtig.  Jedoch  scheiterte  dieses  Projekt  daran,  dass  die 
Ziegelsteinhäuser  für  die  Subtropen  nicht  geeignet  waren  oder  sind,  da  sie 
Feuchtigkeitsdurchlässig  sind,  ater  keine  Ventilation  zulassen.  Nur  für  den 
Unterbau  wurden  später  die  Ziegelsteine  verwendet,  der  Rest  der  Häuser  entstand 
aus  Holz. 

Es  gab  in  dem  Dorf  Sosua  am  Anfang  keine  Elektrizität  und  auch  keine  kaltes 
Wasser.  Getränke  mussten  lauwarm  getrunken  werden,  Eiswürfel  gab  es  nicht. 
Nur  der  Bäcker,  der  auch  Torten  machte,  hatte  ein  Kühlaggregat,  „einen 
elektrischen  Eiskasten“,  wie  Hans  sagte.  Zu  ihm  ging  auch  das  meiste 
Taschengeld,  die  spärlichen  10  $ pro  Woche.  Es  gab  damals  nur  zwei 
Zigarettensorten,  die  “Hollywood”,  aus  gebleichtem  Tabak,  oder  eine 
Naturbelassene,  ohne  Präparation,  die  verkaufte  der  Bäcker  auch.  Nachdem  der 
Versuch  der  Ziegelsteinhäuser  gescheitert  war,  kam  Hans  Neumann  in  Sosua  in 
die  Verwaltung  für  die  Gemüse-  und  Obstverteilung,  diese  Art  von  Arbeit  lag  Ihm  - 
seiner  Aussage  nach-  ebenfalls  nicht. 

Die  jüdischen  Exilanten  in  Sosua  lebten  in  Holz-Baracken  mit  je  30  Betten,  die 
durch  dünne  Trennwände  oder  Vorhänge  abgeteilt  waren.  Ein  gewisser  Herr 
Schweitzer  war  leitender  Direktor  dieser  kleinen  Kommune. 

Eines  Tages  wurde  Hans  Neumann  von  Rafael  Trujillo  in  die  Hauptstadt  zitiert  und 
es  herrschte  große  Aufregung  im  Dorf  Sosua,  denn  man  wollte  auf  jeden  Fall  und 
unter  allen  Umständen  einen  guten  Eindruck  auf  den  Präsidenten  Trujillo  machen. 
Herr  Schweitzer  stellte  Hans  seinen  Chauffeur  zur  Verfügung,  der  ihn  zum 
Regierungspalast  nach  Ciudad  Trujillo  brachte.  Nach  einem  Vorgespräch  mit  dem 
Minister  “Paino  Pichardo”,  wurde  Hans  zum  “Benefactor”  vorgelassen.  Sein 
Spanisch  war  noch  sehr  dürftig  und  sie  brauchten  einen  Übersetzer.  Trujillo  wollte 
eine  keramische  Industrie  aufbauen  und  brauchte  dazu  seine  Hilfe.  Hans 
Neumann  sollte  sich  um  die  Erzeugung  von  Ziegel-  und  Fußbodenplatten 
kümmern  und  war  von  nun  an  Trujillos  Privatangestellter.  Er  bekam  60  $ für  Kost 
und  Logis  und  100  $ Gehalt  zu  seiner  freien  Verfügung.  Er  wohnte  zunächst  im 
Hotel  Jaragua,  dann  suchte  er  sich  eine  bescheidenere  Bleibe  und  eine  Freundin, 
die  ihm  Spanisch  teibrachte,  denn  in  einem  Monat  wollte  “El  Jefe”  Hans  wieder 
sehen  und  sich  mit  ihm  unterhalten  können.  Herr  Neumann  hielt  Ausschau  nach 
der  richtigen  Tonmischung  und  erkundigte  sich  nach  geeigneten  Maschinen,  die  er 
in  den  Vereinigten  Staaten  fand.  Nachdem  er  zwei  Jahre  lang  die  Fabrik  aufgebaut 
hatte,  hoffte  er  Leiter  des  gesamten  Werkes  zu  werden,  ater  es  kam  anders. 
Trujillo  schickte  seine  Neffen  und  eine  Abordnung  in  die  Staaten,  die  dort  eine 
spezielle  Ausbildung  erhielten  und  das  später  das  Werk  leiteten.  Hans  Neumann 
war  enttäuscht  und  fühlte  sich  übergangen,  ater  der  Benefactor  hatte  bereits  eine 
neue  Aufgabe  für  ihn.  Er  leitete  von  nun  an  das  staatliche 


3 


Untersuchungslaboratorium.  So  kam  es,  dass  er  am  Sonntag  die  Dopingkontrolle 
bei  den  Rennpferden  übernahm,  wobei  die  Pferde  von  Trujillo  ausgespart  blieben. 

Wenn  Not  am  Mann  war,  half  Hans  Neumann  auch  beim  Verabreichen  von 
Spritzen  an  Prostituierte,  die  alle  vierzehn  Tag  auf  Geschlechtskrankheiten 
untersucht  wurden.  Diese  Frauen  erhielten  zur  Vorbeugung  prophylaktisch  eine 
ordentliche  Dosis  Antibiotika  injiziert. 

Als  einmal  eine  Leiche  auf  Mord  untersucht  werden  musste,  der  Pathologe  gerade 
nicht  zur  Stelle  war,  übernahm  Hans  die  Analyse  und  stellte  bei  der  ersten  Probe 
fest,  dass  das  Opfer  vergiftet  worden  war.  Er  erzählte  mir,  dass  es  eine  tödliche 
Pflanze  gibt,  deren  Giftstoff  eine  halbe  Stunde  nach  Einnahme,  im  Körper  nicht 
mehr  nachweisbar  ist. 

Als  Trujillos  jüngster  Sohn,  Rafaelito,  nach  einer  schweren  Krankheit  nicht 
genesen  wollte,  musste  unser  Zeitzeuge,  Hans  Neumann,  über  Monate  die  Leber 
von  Haien  extrahieren  und  die  kostbare  und  stärkende  Flüssigkeit,  abgefüllt  in 
Flaschen,  dem  Präsidenten  persönlich  übergeben.  (Wie  mich  Herr  Neumann 
aufklärte,  soll  die  Dorschleber  die  Ergiebigste  sein,  aber  in  diesem  Falle  hatte  die 
Haileber  eine  stärkere  Wirkung,  außerdem  gab  es  reichlich  von  ihnen). 

Hans  Neumann  kam  zu  Ohren,  dass  Trujillo,  der  ihn  wohl  ins  Herz  geschlossen 
hatte,  ihn  mit  einer  Nichte,  die  in  Paris  an  der  Sorbonne  studiert  hatte,  verheiraten 
wollte.  Das  war  eine  beliebte  Masche  des  Präsidenten,  durch  den 
Ven/vandtschaftsgrad  konnte  er  die  Menschen  besser  kontrollieren  und 
manipulieren.  Hilde  Domin,  die  selbst  12  Jahre  in  der  Dominikanischen  Republik 
gelebt  hatte  schrieb  in  ihrem  Buch  “Gesammelte  Autobiographische  Schriften”: 
“Trujillo  sortierte  nicht  nur  die  Fachleute  mit  anwendbarem  Wissen  für  sich  aus, 
Elektroingenieure,  Brückenbauer,  Ärzte  etc.  Er  nahm  Intellektuelle  wie  Handwerker 
und  Bauern,  er  beschäftigte  sie  und  er  überwachte  sie". 

Da  überkam  Hans  die  Panik  (dabei  soll  sie  nach  seiner  Aussage  eine  hübsche 
Mulattin,  Hautfarbe:  Cafe  con  Leche,  gewesen  sein).  Noch  bevor  Trujillo  ihn  selbst 
mit  dieser  Neuigkeit  überraschen  konnte,  gab  er  vor  nach  Mexiko  reisen  zu 
müssen,  um  Erbschaftsangelegenheiten  zu  regeln.  In  der  Tat  hatte  Hans  einen 
Cousin  in  Mexico  City,  dem  er  zuvor  geschrieben  und  um  ein  Visum  gebeten  hatte. 
Dieser  Cousin  reagierte  zum  Glück  auch  prompt  und  Hans  konnte  bei  Trujillo  um 
Urlaub  bitten.  Er  gab  ihm  großzügig  drei  Monate  frei  und  reichlich  Mittel  was  seine 
Reisekosten  anbelangte.  Natürlich  setzte  Trujillo  voraus,  dass  er  ihn  nach  drei 
Monaten  wieder  sehen  würde... 

Als  die  Zeit  abgelaufen  war,  setzte  sich  Hans  Neumann  mit  der  Dominikanischen 
Botschaft  in  Verbindung  und  erklärte,  dass  er  nicht  mehr  zurückkommen  könne. 
Inzwischen  hatte  er  in  Mexiko  Emmi  Pollock  geheiratet,  die  aus  Gelsenkirchen 
stammte  und  in  Glasgow  Malerei  studiert  hatte. 


4 


Hans  Neumann  lebte  von  1941  - bis  1947  in  der  Dominikanischen  Republik. 
Mexiko  ist  in  der  Zwischenzeit  jedoch  sein  Zuhause  geworden.  Er  ist  oft  nach 
Europa  gereist,  hat  auch  Österreich  besucht,  ist  aber  immer  wieder  gerne  nach 
Mexiko  zurückgekehrt.  Mit  seinen  fast  90  Jahren  ist  er  geistig  und  körperlich  noch 
sehr  rege.  Er  gehört  noch  zu  den  Kavalieren  der  alten  Schule,  begrüßt  die  Damen 
immer  noch  mit  Handkuss.  Er  ist  ein  netter,  charmanter  Unterhalter  und  nimmt 
noch  an  allen  Dingen  des  (nicht  nur  jüdischen)  Lebens  teil. 

Am  10.10.2000  wurde  Hans  Neumann  90  Jahre  alt  und  ist  immer  noch  ein  rüstiger 
alter  Herr,  der  täglich  seine  Spaziergänge  macht,  ohne  Brille  liest  und  auch  noch 
fast  alles  essen  kann.  Er  ist  noch  oft  unterwegs,  nimmt  an  Gesprächskreisen, 
Tempelbesuchen,  Ballettaufführungen  und  Reisen  teil.  Im  Januar  2001  hat  er  eine 
Schiffsreise  unternommen,  die  ihn  nochmals  in  seinen  6jährigen  Aufenthaltsort, 
Santo  Domingo,  geführt  hat.  Er  schwelgte  in  alten  Erinnerungen. 

Im  Sommer  2004  geht  es  ihm  gesundheitlich  nicht  mehr  so  gut,  aber  er  ist 
trotzdem  noch  rüstig  und  in  der  Lage  an  kleinen  Ausflügen  teilzunehmen. 

Am  22.  Juni  2005,  nachmittags  um  15  Uhr  30  verstarb  Hans  Neumann  in  seiner 
Wohnung  in  Polanco,  im  Oktober  wäre  er  95  Jahre  alt  geworden.  Im  Mai  war  er 
noch  in  Ixtapa  zu  einem  Badeurlaub  unterwegs.  Dort  stürzte  er  auf  dem  rutschigen 
Boden  des  Badezimmers  so  unglücklich,  dass  er  sich  davon  nicht  mehr  erholte. 
Außer  einem  Neffen,  der  in  London  lebt,  hat  er  keine  Angehörigen.  Er  wurde  auf 
einem  kleinen  jüdischen  Friedhof  im  Süden  der  mexikanischen  Hauptstadt 
beigesetzt. 


Copyright:  Ingrid  Decker 


5 


TCLEPHONK 

irtlanot  7 -as  16 


••DOR8A” 

I DOMINICAN  REPUBLIC  SETTLEMENT 

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■ SUITE  1S27 

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BOARD  OF  DIRECTORS 

(MES  N.  ROSENBERG.  PRESIDENT 
SEPH  A.  ROSEN.  VICE-PRESIDENT 
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V 


DOMINICAN  REPUSUC  OFFIC 
David  J.Schwritzcr.  Direct' 
MALECON  27 


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IRVING  A.  SARTORIUS 
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WILLIAM  B.  THALHIMI 
RAFAEL  L.  TRUJILLO 
ALFRED  WAGG.  3RD 
GEORGE  L.  WARREN 


1 


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I 


REPUBLICA  oominicana 


Secretaria  de  Estado  de  Sanioao  y Asistencia  Publica 


LABORATORIO  NACIONAL 


Certlfioo  qne  desda  el  1 de  Septlemlsre  del  a&o 
1943  el  eenor  Hans  Henmann,  Ingealero  Qulmlco, 
esta  prestando  servioios  en  el  La'boratorio  Haolo^ 
nal,  come  Tec  nice  en  la  Seccidn  de  Qulmica  General 
y Bromatologla, 


illo 


rector  del  Latoratorio  i^acienal. 


Ciudad  Trujillo,  ^4  de  Bnero  de  1947* 


m 


0la^xtel  ^eonulciA 


^rcäCcl€7i(e  de  ^a.  ^e/it!£/tca,  Q^oini, 


ojttuncavifc 


Stv  viyfu<{  cle  /cti  atr-i^ticiottei  f>tc  ctm^ivre  <-l  uj'/icu/o  Jj.9  c/r  /<i 

^«n^O'lucid’H  del  S^fficto.  Ae  i^iiMteUo  -notnAratt  u 


Auiiliar  TScnico  del  Laboratorio  Nacional, 


c/lcävo  el dla  de  tom  de  ^osesidn. 

SUe  no^nlra^nieitto,  ^la'^a,  loS  ^7ieS  le^alei,  ^cT’Ct  Tte^idyaclo  C7i  la 
S/ecreCarla  de  Si£cidc<  de  la  lyT-esideTtcia,  e7t  la  de  Sanidad  y As^len- 
cia  Pliblica  — ’ “ — “ ^ ^^o-TteTila  y.  €7i  la  SJccdi/^’la 

■y  ^OTitT^aluTfla  ^€7ie7^ly  \ / / 

Q/ado  e7t  ^(oLxdad  ^M^llo.j  ^a./icial  de  la  ^e/iull^a.  a loi 


O €71 


9 — dtai  del  TTtei  Ye  septieiibra  de 


3 1944. 

UJi, 


m. 


Of iciaJJiayor— de— iü"^ecret5ria  de  SA>cr«/<ir^  je  <^Adio 

E.de  Sanidad  jr^Asistencia  Publica. 


^ ^ ^ ^ ^ 

GENERAÜSIMO  RAFAEL  L TRUJILLO  MOLINA 

BENEFACTOR  DE  LA  PATRIA.  ' 


OFICINA  PARTICULAR 


On  nn  o ^ n 1 T T ^ 

Distrito  de  Santo  Domingo, 
17  de  mayo 'de  1943. 


Senor 

Hans  Newmann, 
Ciudad. 


Muy  sefior  mio: 

Con  la  presente  tengo  el  gusto  de  remitir- 
le  el  cheque  No.l79,librado  a su  favor  por  la  suma  de 
|l28.00  (Ciento  Veintiocho  pesos  00/100},  para  cubrir 
los  gastos  en  que  incurrid  usted  en  relacidn  con  los 
andlisis  de  tierra  para  el  establecimiento  de  un  te- 
jar. 


Ruegole  avisar  recibo  de  esta  remesa. 


H 

hmv 


EIDGENÖSSISCHES 
JUSTIZ-  UNO  POLIZEIDEPARTEMENT 

POLIZEIABTEILUNG 

ARBEITSLAGER  FÜR  EMIGRANTEN 


. Sp, 


Rcf.  Nr 


Bitic  In  der  Antwort  an0«b«n 


Zürich,  den  30,Ä^ai  1940 
Eidg.  Teclm.  Hochschule,  41a, 
Tel.  2 69  77. 


ZL  630 


M ^ .kA  W W AA  ^ W ^ W ^ A«  • 

Herrn 

^ans  Neumann  , 
Emigrant  enlager , 

Gir enbad/Hinwil • 


Auf  Grund  der  Emen  von  der  Polizeiahtieilung  des  Eidgenössischen  Justiz-  und  Polizei- 
departementes  zügegangenen  Einweisving  in  ein  Arbeitslac^er  für  Emigranten  haben  Sie  t 


Freitag, den  31 «Mal  1940,14*00  Ubr 


/W^f¥  / 


Herrn  Er .W« Amstad ,j  Hlnwil 


zur  sLrztlichen  Uctersuchving  zu  stellen.  Sollten  Sie  aus  iCranidieitsgründen  zu  dieser 
■■  Untersuchung  nicht  erscheinen  können,  bo  haben  Sie  vorner  ein  ärztliches  Zeugnis  an 
die  unter zeicimete  Zentrallei tvtng  einausenden.  ^ 

■ 

Falls  Sie  tauglidi  befunden  werden,  so  reisan  Sie  am 


nach  dem  arbeitslager  für  Emi 


ab.  Die  Verfügimg  über  die  Einweisung  in  ein  Arbeitslager  durch  das  Eidg.  Justiz-  ttnc 
Polizeidepartement,  sowie  dieses  Aufgebot  haben  Sie  bis  z\jm  Eintritt  ins  Lager  avif  s: 
zu  tragen  und  dort  der  Lcgerleitvmg  abzvtgeben. 

Persönliche  Ausrüstung:  Ausgangskleidea>-  vtnd  Schuhe,  Arbeitskleider  (vmter  den  Uebej 

kleidem  zu  tragen:  Hose  & Pullover),  Leibwäsche,  Handtüchei 
V/aschlappen,  für  je  drei  Wochen,  Zahnpasta,  Zahnbürste,  Seij 
Rasierzeug,  Hausschidae,  event,  Wetterschutz. 

Jiahnbille t : Vorweis\mg  des  beiliegenden  Ausweises  erhalten  Sie  das  notwendige 

jT Bahnbille  t. 

ARHElTSLiiGER  EUER  EhLIGRANTI 
^ Der  Chef  der  Zentral  leitvonf 

^ i //^//  z 


(Otto  Zaugg) 


Ruth  Deutsch  - Lechuga 


Ruth  Deutsch  wurde  im  Februar  1920  in  Wien  geboren.  Da  sie  so  kurz  nach  dem 
Ersten  Weltkrieg  das  Licht  der  Welt  erblickte,  war  ihre  frühe  Kindheit  und  Jugend 
von  Knappheit  und  Entbehrungen  geprägt.  Sie  gewöhnte  sich  daran,  nicht  alles 
haben  zu  müssen,  wonach  das  Herz  verlangte  und  was  einem  jungen  Menschen 
damals  vorschwebte.  Sogar  In  späteren  Jahren,  selbst  bis  heute,  hat  Ruth  Deutsch 
den  Mangel  der  frühen  Jahre  nicht  vergessen  und  geht  sorgsam  mit  allen  Dingen 
des  Lebens  um,  bis  hin  zu  den  Lebensmitteln. 

Ihr  Vater,  Arnold  Deutsch,  war  von  der  Gesinnung  ein  Linker,  obwohl  er  kein 
Kommunist  war.  Er  war  Kaufmann  und  schätzte  die  schönen  Künste.  Arnold 
Deutsch  war  bereits  in  Wien  geboren.  Seine  Mutter  kam  aus  Mislitz,  in  der 
Tschechoslowakei,  wo  auch  noch  einige  ihrer  Verwandten  lebten.  Die  Zeit  der 
Sozialdemokraten  unter  Dollfuss  und  Schuschnigg  hat  Ruth  noch  in  guter 
Erinnerung,  besonders  dadurch,  dass  Dollfuss'  Leben  am  25.7.1934  jäh  mit  seiner 
Ermordung  endete: 

Engelbert  Dollfuss  wurde  am  4.10.1892  geboren  und  starb  am  25.7.1934  eines 
gewaltsamen  Todes,  er  wurde  erschossen.  1931  wurde  er  Minister  für  Land-  und 
Fortstwirtschaft,  1932-1934  Bundeskanzler  und  Außenminister.  Im  März  1933 
schaltete  Dollfuss  das  Parlament  aus,  verbot  1933  die  NSDAP,  die 
Kommunistische  Partei  und  den  Republikanischen  Schutzbund.  Nach  den 
Februarkämpfen  1934  verbot  er  auch  die  Sozialdemokratische  Partei  und  ließ  als 
einzigen  politischen  Willensträger  die  Vaterländische  Front  zu.  Er  regierte  mit 
Notverordnungen  und  führte  das  Standrecht  und  die  Todesstrafe  wegen  des 
national-sozialistischen  Terrors  ein.  Mit  der  Maiverfassung  schuf  er  1934  einen 
autoritären  Ständesstaat  und  stützte  sich  vor  allem  auf  die  Katholische  Kirche,  die 
Heimwehr  und  die  Bauern.  Im  Jahre  1934  schloss  er  mit  dem  Heiligen  Stuhl  ein 
Konkordat  und  räumte  durch  die  “Römischen  Protokolle"  mit  Italien  und  Ungarn 
Mussolini  bedingten  Einfluss  auf  die  österreichische  Innen-  und-  Außenpolitik  ein. 
Er  wurde  beim  national  sozialistischen  Juliputsch  ermordet,  nachdem  schon  im 
Oktober  1 933  ein  Attentat  auf  ihn  verübt  worden  war. 


Februarkämpfe  1934 

Am  12.  Februar  1934,  um  punkt  6.30  in  der  Frühe,  begann  das  Feuer  des 
Schutzbundes,  das  gegen  den  Willen  der  Parteiführung  eröffnet  wurde.  Die 
Gegensätze  zwischen  Sozialdemokraten  und  Republikanischer  Schutzbund,  (der 
1933  verboten  wurde)  einerseits  und  den  Christlich-Sozialen  und  Heimwehr  bzw. 
der  Regierung  andererseits,  (Erste  Republik)  führten  in  jenen  Februartagen  1934 
zum  Bürgerkrieg.  (12.  - 15.  Februar)  Innerhalb  von  drei  Tagen  schlugen  Militär, 
Polizei,  Gendarmerie  und  Heimwehrverbände  den  Aufstand  nieder.  Zentren  des 
mit  Artillerieeinsatz  niedergekämpften  Widerstands  in  Wien  waren  Arbeiterhelme 
und  Gemeindebauten  (Karl  Marx  Hof,  Goethe-,  Sandleiten,  Reumannhof  u.a.).  Die 

1 


unorganisierte  Aufstandsbewegung  scheiterte  hauptsächlich  daran,  dass  der  von 
der  Sozialdemokratischen  Partei  ausgerufene  Generalstreik  nicht  durchgeführt 
wurde.  Am  15.  Februar  brach  der  Widerstand  zusammen.  Die  Februarkämpfe 
kosteten  nach  offiziellen  Angaben  über  400  Menschen  das  Leben,  knapp  tausend 
wurden  verwundet. 


Die  Wohnung  der  Familie  Deutsch  lag  in  der  Nähe  des  Gemeindehauses,  von  dort 
hallten  die  Schüsse  des  Aufstandes  zu  der  damals  14  jährigen  Ruth  herüber,  so 
dass  sie  auch  heute  noch  bei  jedem  lauten  Gräusch  aufschreckt,  denn  Ihr  sitzt  die 
Angst  vor  Gewalt  immer  noch  in  den  Gliedern. 


Die  Familie 

Ihr  Vater  klärte  sie  bereits  früh  über  Politik  auf  und  brachte  ihr  bei,  dass  eine 
Sozialdemokratische  Regierungsform  die  einzig  humane  und  elnigermassen 
gerechte  sei.  Arnold  Deutsch  war  nicht  religiös,  er  wollte  eigentlich  überhaupt 
nichts  von  Religion  wissen,  während  Ruth  s Grosseltern  mütterlicherseits,  die 
Familie  Reis,  die  jüdischen  Feiertage  einhielten.  Nicht  nur  die  politische  Gesinnung 
des  Vaters  war  für  Ruth  ein  Leben  lang  Vorbild,  sondern  auch  seine  ausgeglichene 
liebenswürdige  Art  und  sein  Verständnis  für  jeden.  Die  Mutter,  Angela  Deutsch 
geborene  Reis,  war  eine  warmherzige,  hilfsbereite  und  gutmütige  Frau,  die 
niemandem  etwas  abschlagen  konnte.  Die  Großmutter  mütterlicherseits,  eine 
gebürtige  Polin,  starb  bereits  vor  dem  Krieg  in  Wien.  Ruth  erinnert  sich  noch  heute 
an  ihren  polnischen  Akzent  und  wie  sie  sich  in  jungen  Jahren  dessen  geschämt 
hatte.  Heute,  sagt  sie,  spricht  sie  selbst  keine  Sprache  akzentfrei,  rede  sie 
Englisch,  hört  man  Ihre  deutsche  Betonung  heraus  und  wenn  sie  Spanisch  redet, 
merken  die  Leute  auch,  dass  sie  keine  Einheimische  ist. 

Schulzeit 

Ruth  wuchs  mit  Ihrem  vier  Jahre  jüngeren  Bruder,  Hans,  in  Wien  auf,  und  die 
Eltern  taten  alles  erdenkliche,  um  ihren  Kindern  eine  gute  Ausbildung  zu 
ermöglichen.  Ruth  besuchte  in  Wien  das  Realgymnasium:  sie  und  eine 
Klassenkameradin  waren  die  einzigen  jüdischen  Schüler  an  der  ganzen  Schule. 
Mit  ihrer  einzigen  Vertrauten  verband  Ruth  eine  herzliche  Freundschaft.  Die  beiden 
Mädchen  besuchten  sich  gegenseitig  zu  Hause  und  verbrachten  ihre  Freizeit 
miteinander,  während  sie  zu  den  anderen  Mitschülern  In  den  8 Jahren  ihrer 
Schulzeit  privat  überhaupt  keinen  Kontakt  hatten.  Ruth  wusste,  dass  die  Wiener 
sehr  zurückhaltend  und  verschlossen  fremdartigem  gegenüber  sind,  deshalb 
wunderte  sie  sich  nicht,  dass  sie  8 Jahre  lang  mit  jungen  Wienern  die  Schulbank 
geteilt  hatte  und  sie  nicht  einmal  in  einen  Wiener  Haushalt  eingeiaden  wurde. 

Worüber  sie  sich  aber  sehr  wunderte  war,  dass  die  unzugänglichen  und 
zugeknöpften  Wiener  den  deutschen  Truppen  einen  kolossalen  Empfang 
bereiteten  und  plötzlich  in  Verzückung  und  Massenhysterie  ausbrachen,  als  Hitler 
ihnen  sein  “Hell”  bringen  wollte.  Zigtausender  -sonst  so  distanzierter  Wiener- 
jubelten, schrieen,  tanzten  und  winkten  euphorisch  den  neuen  Helden  der  NSDAP 


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zu.  Was  Ruth  weiter  noch  sehr  beeindruckte,  war  der  Einmarsch  der  deutschen 
Truppen  auf  dem  Wiener  Heldenplatz.  Wie  sie  im  Gleich-  und  Stechschritt  -mit 
versteinerten  Mienen  wie  Roboter,  gefühlskalte  Maschinen  oder  aufgezogene 
Marionetten-  überexakt  marschierten  und  sich  so  dem  Regime  untenvarfen.  Sie 
empfand  es  irgendwie  unmenschlich,  entwürdigend,  dass  diese  Menschen  sich  der 
Drillübung,  die  eher  an  eine  Dressur  bei  Tieren  erinnerte,  mit  so  viel  Virtuosität  und 
Bravour  hingaben. 

ABSCHIED 

Gegen  all  das,  was  sie  als  junges  Mädchen  erlebte,  war  sie  erzogen  worden  und 
mit  ihren  18  Jahren  war  ihr  bereits  klar,  dass  sie  in  so  einem  Land  nicht  leben 
könne.  Sie  wusste  auch,  wenn  sie  einmal  weggeht,  wird  es  kein  Zurück  mehr  für 
sie  geben.  Nach  der  “Kristallnacht”  ist  der  Familie  klar,  dass  sie  Wien  so  schnell 
wie  möglich  verlassen  müssen  und  sie  bemühen  sich  ins  Ausland  zu  kommen. 
Zunächst  versuchten  sie  nach  Holland  auszuwandern,  da  angeblich  dort  eine 
gewisse  Toleranz  gegenüber  Juden  herrschte.  Aber  sie  wurden  nicht 
aufgenommen,  nur  der  damals  15jährige  Hans  konnte,  da  er  Minderjährig  war, 
ungefähr  6 Wochen  in  Holland  bleiben.  Dann  holte  ihn  die  Familie  wieder  ab,  da  ihr 
Schiff  Anfang  1939  den  Hafen  von  Vlissingen  verliess,  das  sie  über  Amerika  nach 
Mexiko  bringen  sollte.  Es  war  ein  recht  altes  und  klappriges  Schiff,  das  wohl  seine 
letzte  Reise  mit  den  Exilanten  angetreten  hatte.  Der  Weg  führte  zunächst  über 
New  York,  wo  sie  in  Ellis  Island  eine  Nacht  blieben.  Ruth  wunderte  sich  über  die 
neue  Freiheit,  denn  sie  fühlte  sich  hier  in  Ellis  Island  eingezwängt  und 
eingekerkert.  Ein  Cousin  des  Vaters,  der  ihn  New  York  lebte,  holte  sie  aber  sehr 
bald  dort  heraus.  Und  hier  in  Ellis  Island  -praktisch  ein  Gefängnis,  mit  Blick  auf  die 
Freiheitsstatue-  feierte  Ruth  ihren  19.  Geburtstag. 

ZWISCHENSTATION  IN  ELLIS  ISLAND 

Es  war  nie  die  Absicht  der  Familie  Deutsch  in  Nordamerika  zu  bleiben,  da  sie 
sowieso  ihr  Visum  für  Mexiko  hatten,  denn  in  Mexiko  lebten  bereits 
Familienangehörige,  die  sich  für  ihre  Verwandtschaft  verbürgt  hatte.  Die 
tschechische  Großmutter,  die  Mutter  von  Arnold  Deutsch,  kam  später  nach 
Mexico.  Alle  Geschwister,  väterlicher-  wie  mütterlicherseits  konnten  sich  nach 
Mexiko  retten.  Die  entfernte  VenArandtschaft,  die  in  Europa  geblieben  war,  blieb  für 
immer  verschollen. 

ANKUNFT  IN  MEXIKO 

Ende  Februar  1939  kamen  die  Eltern  Deutsch  mit  ihren  beiden  Kindern  in  Mexiko 
City  an.  Natürlich  dauerte  es  einige  Zeit  bis  sie  sich  eingelebt  und  die  Sprache 
einigermassen  erlernt  hatten.  Ihre  erste  Wohnung  bezog  die  Familie  in  der  Calle 
Amsterdam,  Ecke  Yucatan.  Bevor  sie  endgültig  1956  in  die  Calle  Pachuca  zogen, 
lebten  sie  noch  eine  Weile  in  der  Artikula  123. 

Sie  alle  genossen  das  ganz  andere  Leben,  das  herrliche  Klima,  das  Anderssein 
der  Menschen.  Die  sonntäglichen  Spaziergänge  im  Alameda-Park,  wo  an  Sonn- 
und-Feiertagen  die  Musikkappelle  gratis  spielte.  Sie  wurden  vertraut  mit  dem 
bislang  ungewohnten  Geruch  und  Geschmack  der  frischgebackenen  Maistortillas, 


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die  sie  an  allen  Ecken  der  Stadt  kaufen  konnten.  Damals  gab  es  noch  keinen 
chaotischen  Strassenverkehr  und  die  Luft  war  noch  sauber  und  kristallklar.  Mexiko 
City  hatte  durch  seine  Höhe  (2.240  m ü.  M.)  ein  sehr  gutes  und  gesundes  Klima. 
Es  war  ein  regelrechter  Luftkurort.  In  der  näheren  Umgebung  gab  (und  gibt  es 
noch)  bedeutende  Heilquellen.  Die  Badeorte  -in  der  Nähe  der  Hauptstadt-  wurden 
damals  schon  von  Heilsuchenden  stark  frequentiert  und  sind  heute  noch  beliebte 
und  bekannte  Besucherziele. 

ERKUNDUNG  DES  LANDES 

Vater,  Arnold  Deutsch,  konnte  hier  in  Mexiko  mit  Begeisterung  seinem  Hobby 
nachgehen,  der  Archäologie.  Am  Wochenende  nahm  er  seine  Familie  mit  zu  den 
entlegendsten  Plätzen.  Manchmal  machte  er  die  Wochenendentdeckungsfahrten 
mit  Ruth  alleine.  Laut  Ruth  gibt  es  keinen  alten  Stein,  keine  prähispanische  Mauer 
oder  Ausgrabung,  die  sie  nicht  besucht  hat.  Vater  Deutsch  hatte  sich  schon  in 
frühen  Jahren  in  Wien  mit  ägyptischer  und  griechischer  Kunst  und  Kultur  befasst 
und  nun  hatte  er  herrliche  Vergleichmöglichkeiten.  Ruth's  Vater  starb  1991  mit  96 
Jahren  in  Mexiko  City,  er  war  in  jeder  Beziehung  ihr  grosses  Vorbild  gewesen. 


DAS  MEDIZINSTUDIUM 

Ruth  Deutsch  war  gerade  19  Jahre  alt,  als  sie  mexikanischen  Boden  betrat.  Sie 
hatte  noch  rechtzeitig  in  Wien  ihr  Abitur  gemacht,  aber  durch  die  neuen  Gesetze 
der  Nazis  in  den  30er  Jahren,  wäre  sie  sowieso  für  ein  Studium  nicht  zugelassen 
worden,  da  sie  jüdischen  Glaubens  - und  auch  noch  eine  Frau  war.  Sie  sagte: 
“Auch  wenn  kein  Hitler  gekommen  wäre,  hatte  es  einen  “Numerus  Clausus” 
gegeben,  wobei  ich  weder  als  Frau  und  schon  gar  nicht  als  Jüdin  eine  Chance 
gehabt  hätte  zu  studieren”.  An  Mexiko  schätzte  Ruth  sehr,  dass  jeder  Einwanderer, 
der  das  Dokument  FM3  (Aufenthaltsgenehmigung)  erhält,  die  Freiheit  hat,  zu  tun 
was  ihm  gefällt.  Und  so  hatte  sie  die  Möglichkeit  Medizin  zu  studieren.  Ausserdem 
hat  Ruth  in  Mexiko  eine  Demokratie  gespürt,  die  sie  in  ihrem  Heimatland 
schmerzlich  vermisste.  Bereits  während  ihres  Studiums  arbeitete  Ruth  im  Labor 
des  alten  “Hospital  Americano”  in  der  Strasse  Gabino  Barreda,  wo  sie  auch  nach 
dem  Studium  blieb.  Als  dieses  geschlossen  wurde,  arbeitete  sie  weiter  für  ihren 
Chef,  einem  Herrn  Pilz,  der  zusammen  mit  seiner  Frau  ein  eigenes  medizinisches 
Laboratorium  eröffnete.  Als  Herr  Pilz  starb,  übernahm  Ruth  die  Leitung  des 
medizinischen  Instituts  und  überwies  der  Witwe  jeden  Monat  eine  Rente  aus  dem 
Erlös  des  Unternehmens.  Später  eröffnete  Ruth  ihr  eigenes  Labor  -In  der  Calle 
Reforma-  und  arbeitete  in  der  Hauptsache  für  die  Amerikanische  Botschaft.  Sie 
untersuchte  das  Blut  der  Emigranten,  die  nach  Amerika  auswandern  wollten,  auf 
Irgendwelche  Viren  oder  Krankheiten,  damit  sie  keine  ansteckenden  Seuchen  Ins 
Land  schleppten.  Als  dieser  Zweig  der  amerikanischen  Botschaft  nach  Ciudad 
Juarez  verlegt  wurde,  gab  sie  Ihrem  Leben  eine  Wende  und  widmete  sich  von  nun 
an  einer  ganz  anderen  Tätigkeit. 

Im  Jahre  1951  hatte  Ruth  Deutsch  den  Röntgenarzt,  Carlos  Lechuga,  geheiratet, 
den  sie  bereits  während  Ihres  Studiums  kennengelernt  hatte.  Gemeinsam  mit 


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ihrem  Mann  und  ihrem  Vater  hat  sie  viele  Entdeckungsreisen  durch  Mexiko 
gemacht.  Ruth  übertrug  auf  Carlos  Lechuga  -schon  bei  den  ersten  gemeinsamen 
Streifzügen-  ihrer  Begeisterung  für  die  Natur,  die  alten  Kulturen  und  die  Liebe  zu 
den  Indios,  und  er  liess  sich  mit  Leichtigkeit  von  ihrem  Enthusiasmus  anstecken. 

HOBBY  WIRD  ZUM  BERUF 

Schon  während  ihrer  ersten  Erkundungsreisen  durch  Mexico  hatte  Ruth  kleine 
handgearbeitete  Objekte  erworben,  die  damals  nur  wenige  Groschen  kosteten.  Mit 
der  Zeit  entstand  eine  stattliche  Sammlung  an  kunsthandwerklichen 
Gegenständen.  Und  so  machte  Ruth  Deutsch  Lechuga  Anfang  der  70er  Jahre  ihr 
Hobby  zu  ihrem  Beruf  und  arbeitete  zunächst  als  Berater-  und  Einkäuferin  für  “Arts 
and  Crafts”  bei  FONART,  dem  “Fondo  Nacional  para  el  fomento  de  las 
Artesanias”,  d.  h.  dem  staatlichen  Institut  für  Volkskunst. 

Die  Arbeit  unter  dem  Mikroskop  hat  ihr  aber  mindestens  genauso  viel  Spannung, 
Begeisterung  und  Faszination  beschert,  wie  die  Beschäftigung  mit  der 
mexikanischen  Kunst,  denn  in  beiden  Berufen  gab  es  immer  etwas  Neues  zu 
entdecken.  Danach  arbeitete  Ruth  Lechuga  Deutsch  17  Jahre  lang  im  “Museo  de 
Artes  e Industrias  Populäres”  (Museum  für  Volkskunst),  zusammen  mit  Teresa 
Pomar.  Für  Ruth  war  dies  eine  neue  Herausforderung,  da  sie  es  vor  allem  auch 
hier  wieder  mit  Menschen  zu  tun  hatte.  Es  waren  Indios,  mit  denen  sie  auf  den 
Dörfern  und  entlegenen  Plätzen  verhandelte,  um  Museumsstücke  zu  erwerben.  Da 
Ruth  sich  sowieso  mehr  für  Menschen  als  für  Steine  interessierte,  kam  ihr  dieser 
Wechsel  sehr  gelegen.  Mit  Teresa  Pomar  organisierte  sie  Wettbewerbe  und 
Ausstellungen,  die  sie  auch  dreimal  nach  Europa  führten,  wo  Mexiko  an  einem 
internationalen  Kulturaustausch  teilnahm. 

EUROPAREISEN 

Die  erste  Ausstellung  fand  in  einem  kleinen  Dorf  in  der  Toscana  statt,  wobei  sie 
später  noch  einige  Tage  in  Venedig  blieb.  Anfang  der  90er  Jahre  verbrachte  Ruth 
kurze  Zeit  in  Andalusien,  wo  sie  mit  einem  Katalog  von  Rafael  Coronel  unterwegs 
war.  Sie  besuchte  Eiche,  Barcelona  und  Madrid. 

Ebenfalls  in  den  80er  Jahren  flog  Ruth  Deutsch  Lechuga  als  Abgesandte  des 
“World  Craft  Council”  zu  einem  2 wöchigen  Kongress  nach  Wien.  Dies  war  nach 
vielen,  vielen  Jahren  die  erste  und  letzte  Begegnung  mit  ihrer  Heimatstadt.  Sie  ist 
immer  noch  fasziniert  von  dieser  schönen  Stadt,  und  sie  meinte,  wenn  man  ein 
Dach  über  Wien  ausbreitet,  hat  man  ein  gigantisches  Museum.  Jedoch  mit  der 
Mentalität  der  Menschen  kam  sie  auch  dieses  Mal  nicht  zurecht.  Den  Charakter 
eines  MenschenschlagesA/olkes  verändert  man  nicht,  auch  nicht  nach  vielen 
Jahren,  meint  sie.  Ruth  war  mit  ihrem  Vater  und  der  Stiefmutter  nach  Wien  gereist, 
dort  hatte  sie  sich  -wie  auch  in  Mexiko-  etwas  folkloristisch  gekleidete.  Als  Ruth 
eines  Tages  in  der  Stadt  unterwegs  war  und  mit  ihrer  Stiefmutter  Spanisch  redete, 
kommentierten  Passanten  lauthals  und  ohne  Hemmungen  ihre  wohl  für  Wiener 
Verhältnisse  unangebrachte  Kleidung:  “Was  bildet  die  Alte  sich  denn  ein,  so 
herumzulaufen  - und  was  sie  überhaupt  für  eine  komische  Sprache  spricht...”  Da 


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wusste  Ruth,  dass  sich  nichts  am  Kleinbürgertum  der  Wiener  geändert  hatte.  Dies 
war  ein  Grund  mehr,  ihrer  Heimatstadt  für  immer  den  Rücken  zu  kehren. 

AUFKEIMENDES  HEIMWEH? 

Trotz  allem  überkommen  Ruth  manchmal  Erinnerungen,  Sehnsüchte  und  Gelüste. 
Dann  steigen  ihr  im  Geiste  die  herrlichen  Düfte  von  Germknödel  oder 
Griebenschmalz  in  die  Nase  und  sie  denkt  dann  an  die  vielen  verschiedenen 
Kuchensorten  oder  an  die  früheren  Heurigen-Besuche.  Diese  Versuchungen  löscht 
sie  aber  sogleich  aus  ihrem  Gedächtnis,  indem  sie  sich  sagt,  wie  kalorienreich  und 
ungesund  diese  Lebensmittel  für  sie  doch  sind. 

MUSEUM  LECHUGA 

Seit  1956  bewohnt  die  Familie  Deutsch  bereits  die  Wohnung  im  Künstlerviertei,  in 
der  Calle  Pachuca,  in  der  Colonia  Condesa.  Zunächst  bewohnte  eine  Tante,  die 
Schwester  ihres  Vaters  eine  Wohnung  im  2.  Stock  des  Gebäudes,  zu  ihr  gesellte 
sich  später  die  mit  ausgewanderte  Grossmutter.  Dann  zogen  die  Deutsch 's  zu  viert 
in  die  Nebenwohnung  der  selben  Etage. 

Die  Altbauwohnungen  In  der  Calle  Pachuca  sind  grosszügig  angelegt  und 
lichtdurchflutet.  Jedoch  blieb  Ruth  am  Anfang  nur  ein  Zimmer,  indem  sie  ihre 
erworbenen  Schätze,  ihre  mit  Leidenschaft  gesammelten  Kunstwerke  aufbewahren 
konnte.  Kisten  und  Kartons  stapelten  sich  unter  ihrem  Bett,  diese  verhinderten, 
dass  sich  Türen  weit  öffnen  Hessen,  sie  verstopften  Ecken  und  freie  Plätze.  Erst  als 
ihr  Bruder  Hans  eine  eigene  Wohnung  bezog,  (später  zog  er  mit  seiner 
amerikanischen  Frau  in  die  USA,  wo  er  eine  gute  Arbeitsstelle  gefunden  hatte) 
konnte  sie  sich  in  seinen  Räumen  ausbreiten,  aber  auch  das  reichte  für  Ihre  vielen 
Kostbarkeiten  nicht  aus.  In  dieser  Wohnung  lebte  Ruth 's  Mutter,  bis  sie  1961 
starb. 

Als  Grossmutter  und  Tante  in  der  angrenzenden  Nebenwohnung  gestorben  waren, 
erwarb  Ruth  dieses  Apartment  und  mit  einem  Durchbruch  vergrösserte  sie  ihre 
Ausstellungsräume,  die  heute  wiederum  nicht  für  ihre  reichhaltigen  Sammlungen 
ausreichen.  Jetzt,  im  Jahre  2000  ist  sie  dabei  eine  dritte  Wohnung  zu  kaufen, 
damit  alle  ihre  Ausstellungsstücke  besser  zur  Geltung  kommen. 

Sie  Ist  nicht  nur  eine  Spezialistin  für  Masken  aus  allen  mexikanischen  Regionen, 
die  an  Lebendigkeit  und  Formenreichtum  kaum  zu  übertreffen  sind.  Ruth  kauft  und 
sammelt  auch  Textilien  aller  Art,  die  aus  Naturfasern  hergestellt  -und  mit  der 
mannigfaltigsten  Farbpalette-  mit  Stickmotiven  versehen  sind.  Auf  den  Märkten 
kleiner  Dörfer  erwirbt  sie  Tonkrüge  und  Töpfe  in  grosser  Vielförmigkeit,  und 
manche  von  ihnen  haben  bereits  als  Haushaltsgegenstände  der  Dorfbewohner 
gedient.  Körbe  grob  oder  fein  geflochten,  in  allen  Variationen  zieren  ihre  Wände 
und  Regale.  Sie  sammelt  naive,  handgemachte  Krippenfiguren,  die  aus  den 
verschiedensten  Materialien,  wie  Holz,  Ton  oder  Marzipan  hergestellt  wurden,  die 
in  den  verwegendsten  Farben  und  mit  künstlerischsten  Mustern  und  Motiven 
verziert  sind.  Das  Land  bietet  eine  Fülle  von  traditionellen  Dingen,  die  nur  bei 
Festlichkeiten  verwendet  werden  und  die  seit  Jahrhunderten  eine  wichtige  Rolle 


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bei  den  Ritualen  spielen.  Es  kommt  Ruth  nicht  darauf  an,  irgendein  -für  den  Laden 
gefertigtes-  Stück  zu  erstehen,  es  muss  mit  den  Menschen  und  ihrer  Tradition  in 
Verbindung  gestanden  haben.  Die  Masken  oder  Textilien  müssen  die  Haut  berührt, 
den  Schweiss,  Tränen,  Freude  oder  Leid  des  Trägers  gekostet  haben.  Ruth 
Deutsch  Lechuga  beherbergt  in  ihrem  privaten  Museum 

ca.  1 .200  Masken 

über  2.000Textilien 

Mit  den  Zinnfiguren,  den  Körben,  Töpfen,  Krügen,  Spielzeug,  filigrane 
Schnitzereien  aus  Knochen,  der  Schar  von  kunstvollen  Kämmen  mit  Tiermotiven, 
Lackarbeiten  und  religiösen  Gegenständen  , besitzt  Ruth  Lechuga  mehr  als  10.000 
Ausstellungsstücke. 

An  Fotos  und  Negativen  besitzt  sie  mehr  als  20.000. 

Ruth  Lechuga  hat  für  die  Vergrösserung  ihres  Museums  -mit  dem  3.  Apartment- 
einen einmaligen  Zuschuss  vom  FONCA,  “Fondo  Nacional  para  la  Cultura  y las 
Artes”  (staatliche  Förderung  für  Kunst  und  Kultur)  erhalten.  Ebenfalls  bekam  sie 
eine  kleine  Beihilfe  von  Banken  und  Archäologen.  Aus  Österreich  bezieht  Ruth 
eine  geringfügige  Rente.  Ansonsten  ist  sie  auf  Eintrittsgelder  der  Besucher  durch 
ihre  “Schatzkammern”  angewiesen.  Durch  ihre  Sammlung  häuft  Ruth  keine 
grossen  Reichtümer  an,  sondern  hütet  den  Nachlass  zahlreicher  Ethnien  Mexikos, 
die  heute  immerhin  noch  56  Sprachen  sprechen. 

Ruth  Deutsch  Lechuga  ist  trotz  ihrer  80  Jahre  noch  eine  sehr  aktive,  rege  und 
bewundernswerte  Frau.  Auch  wenn  sich  mit  den  Jahren  einige  Altersgebrechen  in 
ihr  Leben  schleichen,  so  führt  sie  trotzdem  ihre  Arbeit  weiter  und  hat  noch  viele 
Pläne. 

Sie  schreibt  weiterhin  Bücher,  über  Mexiko  s Wurzeln,  über  Masken  und  ihre 
Herkunft  und  erklärt  ihre  Bedeutung  und  kennt  ihre  Hintergründe.  Im  Moment 
arbeitet  sie  an  einem  Buch  in  englischer  Sprache  für  die  Universität  in  Oklahoma. 

RUTH  DIE  POLITIKERIN 

Mexiko  ist  für  Ruth  Deutsch  Lechuga  zur  Heimat  geworden.  Sie  ist  mit  ihren  80 
Jahren  immer  noch  dabei  für  dieses  Land  zu  kämpfen  und  Sorge  zu  tragen,  dass 
es  sich  eines  Tages  doch  zum  Besseren  und  Gerechteren  verändert.  Und  deshalb 
ist  sie  -trotz  ihres  Alters  und  ihrer  zarten  körperlichen  Konstitution-  noch  politisch 
für  die  Partei  “ PRD”,  und  Cuauhtömoc  Cardenas'  tätig.  Dann  bricht  der 
sozialdemokratische  Geist  ihres  Vaters  durch,  der  sie  seit  ihrer  Kindheit  geprägt 
hat  - und  den  sie  bis  heute  beibehalten  hat. 

Ruth  Lechuga  legt  grossen  Wert  darauf  zu  betonen,  dass  sie  selbst,  ihre  Familie, 
so  wie  viele  andere  Exilanten,  ihr  neues  und  hoffnungsvolles  Leben  dem 
damaligen  Präsidenten  von  Mexiko,  Läzaro  Cardenas,  zu  verdanken  haben. 


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Deshalb  unterstützt  sie  auch  heute  noch  als  aktives  Mitglied  die  politische  Partei 
PRD,  dessen  Parieivorsitz  heute  sein  Sohn,  Cuauhtemoc  Cardenas,  führt. 
(Nachdem  ich  an  einem  Frühjahrstag  im  Jahre  2000  den  Nachmittag  mit  Ruth 
Lechuga  verbracht  hatte,  war  der  Abend  einer  Versammlung  mit  der  Partei  und  mit 
dem  Parteivorsitzenden,  Cuauhtemoc  Cardenas,  gewidmet.  Auf  meine  Frage,  ob 
sie  mit  dem  Taxi  zur  PRD- Veranstaltung  fahre,  anwortete  sie  mir,  dass  sie  auf 
kurzen  Strecken  immer  noch  selbst  mit  ihrem  alten  VW-Käfer  fährt,  was  mir  wegen 
ihrer  schlechten  körperlichen  Verfassung  allerdings  ein  wenig  riskant  vorkam). 

So  wie  der  damalige  Präsident  von  Mexiko,  Lazaro  Cardenas,  in  den  40er  Jahren 
jüdischen  Verfolgten  die  Einreise  und  Aufenthaltsbewilligung  nach  Mexiko  erteilte, 
hat  auch  Gilberto  Bosques  , der  zu  jener  Zeit  als  mexikanischer  Botschafter  in 
Marseiile  tätig  war,  viele  Menschenleben  gerettet.  Auch  er  handelte  aus  fester 
innerer  Überzugung  und  erteilte  den  hilfesuchenden,  heimatlos  gewordenen 
Menschen,  die  überlebenswichtigen  Einreisepapiere.  Im  Januar  1939  trat  Gilberto 
Bosques  in  den  diplomatischen  Dienst,  zunächst  als  Generalkonsul  in  Paris.  Durch 
seine  Initiative  rettete  er  tausende  von  Spaniern  und  etlichen  Hundert  Deutschen 
und  Österreichern  das  Leben.  Später  stellte  er  den  Hilfesuchenden  in  der 
mexikanischen  Vertretung  in  Marseille  ihre  Visa  aus.  In  der  Zeit  von  1930  bis  1942 
hat  er  seiner  Schätzung  nach  um  die  sechstausend  Menschenleben  gerettet. 
Spezialisten  aber  gehen  davon  aus,  dass  es  rund  Zehntausend  waren. 

Abschliessend  bemerkte  Ruth  Lechuga  noch;  “Wären  seinerzeit  noch  andere 
Länder,  wie  z.  B.  die  grossen,  reichen  USA  dem  Beispiel  Mexikos  gefolgt,  hätten 
wesentlich  mehr  Menschenleben  gerettet  werden  können.  Aber  die  USA  haben  gar 
nicht  daran  gedacht,  die  Einwanderer-Quote  hinaufzusetzen,  obwohl  sie  Anfang 
der  40er  Jahre  schon  wissen  mussten,  dass  die  Juden  in  Europa  keine  Zukunft 
mehr  hatten.” 


Zitate  aus  “ARTES  DE  MEXICO”,  einer  Zeitschrift,  die  sich  auf  mexikanische 
Kunst  und  Besonderheiten  spezialisiert  hat.  Mit  der  Ausgabe  Nr.  42,  “ARTE 
POPULAR”,  hat  man  Ruth  Lechuga  ein  ganzes  Heft  gewidmet: 


Und  so  schreiben  sie  über  Ruth  Lechugas  Museum: 

“Nicht  nur  die  dekorativen  handgearbeiteten  Elemente  überfluten  die 
Räumlichkeiten,  auch  die  einfachen  Dinge  des  täglichen  Gebrauchs  werden  hier 
ausgestellt  und  dem  Besucher  präsentiert.” 

“Die  Kunst  Mexikos  in  seinem  Reichtum  zeigt  uns,  dass  das  Land  viel  grösser  ist 
als  seine  Probleme”. 


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“Mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert  hat  Ruth  auf  ihren  Reisen  in  den  hintersten 
Winkeln  Mexikos  nach  Objekten  geforscht,  gesucht  und  gefunden,  denen  sie  dann 
nicht  widerstehen  konnte,  die  sie  heute  in  ihrer  Wohnung  ausstellt”. 


“Wer  könnte,  nachdem  er  diese  magische  Stätte  durchdrungen  hat,  die  tiefe 
Ergriffenheit,  Bezauberung,  die  Passion,  Erregt-  und  Entrücktheit  ignorieren,  die 
hunderte  von  Masken  an  den  Wänden  der  hohen  Räume  verursachen? 

Wer  kann  sich  der  Verzückung  entziehen,  die  vielen  Textilien  zu  bewundern,  die 
Ruth  Lechuga  in  ihren  grossen  Schränken  aufbewahrt,  die  Miniaturen  und  die 
Keramik,  die  man  in  den  diversen  Vitrinen  -die  förmlich  überquellen-  bestaunen 
kann?  Wer  könnte  Je  die  Mannigfaltigkeit  der  Totenmasken  vergessen,  die  aus 
Draht,  Papier,  Zucker  oder  Ton  gefertigt  im  Schlafzimmer  dominieren,  dessen 
Wände  in  einem  lebendigen,  kräftigen,  mexikanischen  Rosarot  gehalten  sind”? 


Ruth  selbst  schrieb: 

„Ich  habe  die  Dörfer  und  Gemeinden  nicht  deshalb  besucht  um  irgendetwas  zu 
kaufen,  sondern  um  zu  wissen,  wie  und  weswegen  diese  Dinge  hergestellt  wurden. 
Es  war  mir  immer  wichtig,  die  Sprache  der  Künstler  und  Hersteller  zu  verstehen. 
An  die  Frauen  heranzutreten,  Kontakt  mit  ihnen  zu  haben.  Dies  ermöglichte  mir, 
über  ihre  Kultur  und  ihre  Art  zu  leben  zu  erfahren  und  alles  was  sich  rundherum 
abspielt.  Auf  einmal  öffnet  sich  ein  großer  Horizont  auf  die  Objekte,  die  man 
plötzlich  zu  sammeln  wünscht.  Es  gibt  immer  eine  geschichtliche  Vergangenheit 
um  meine  Objekte  und  das  ist  das  Geheimnis  meiner  Sammlung“. 

“Meine  Kollektion,  die  ich  zeige,  ist  dazu  da,  die  verschiedendsten  Wurzeln  des 
Landes  Mexiko  s zu  präsentieren  und  so  können  die  Menschen  das  Abenteuer 
erleben,  ihr  eigenes  Land  kennenzulernen,  das  ist  doch  schon  viel  wert,  also  habe 
ich  nicht  umsonst  gelebt”! 


DER  TOD  RUTH  LECHUGAS 

Geschwächt  von  Altersgebrechen  starb  Ruth  Deutsch  Lechuga  am  20.  September 
2004  im  Alter  von  84  Jahren  in  ihrer  Wohnung.  Noch  im  Juli  04  hatte  ich  mit  ihr 
telefoniert,  ihre  Stimme  klang  schwach.  Als  ich  anrief,  wurde  sie  von  zwei 
Betreuerinnen  versorgt.  Gerne  hätte  ich  ihre  Sammlung,  die  nun  in  drei 
Wohnungen  verteilt  war  und  die  ich  noch  nicht  kannte,  gesehen.  Ruth  wird  mich 
am  Telefon  auch  nicht  mehr  erkannt  haben,  obwohl  ich  Deutsch  mit  ihr  sprach.  Es 
blieb  bei  diesem  kurzen  letzten  Gespräch.  Heute  tut  es  mir  leid,  dass  ich  sie  nicht 
einfach  mit  einem  kleinen  Blumenstrauß  unangemeldet  besucht  habe. 


9 


Ich  erinner©  mich  noch  an  ihr©  Wort©,  di©  si©  b©im  B©g©h©n  ihr©s  rosa 
Schlafzimm©rs  sprach,  das  üb©r  und  üb©r  mit  Tot©nmask©n  und  Sk©l©tt©n 
bestückt  war,  was  mir  reichlich  makaber  vorkam:  „Eines  Tages,  wenn  ich  tot  in 
meinem  Bett  liege,  werde  ich  selbst  Teil  dieser  Totensammlung  sein“. 

Ein  Teil  ihrer  Kollektion  der  mexikanischen  Volkskunst  wird  nun  dem  Franz  Meier- 
Museum  überlassen.  Ihre  einzigartige  Privatsammlung  der  Volkskunst  - „Arte 
Popular“-  wurde  in  eine  Stiftung  umgewandelt.  Die  mehr  als  20.000  Negative 
gehen  an  die  Spezial-Zeitschrift  ,Artes  de  Mexico“.  Die  Anfänge  dieser  Fotos  von 
Ruth  Deutsch  Lechuga  stammen  aus  dem  Jahre  1948. 

Wenige  Tage  vor  ihrem  Tod  besuchte  der  Politiker  Cuauhtemoc  Cardenas  Ruth  an 
ihrem  Krankenbett.  Trotz  ihrer  schweren  Krankheit  vergaß  sie  für  wenige  Momente 
ihre  Schmerzen.  Sie  freute  sich  über  den  Besuch  des  vertrauten  Menschen, 
dessen  Vater  ihr  und  ihrer  Familie  das  Leben  gerettet  hatte.  Sie  lag  zwischen  den 
gesammelten  Totenmaskem  und  lächelte  ihrem  alten  Freund  entgegen. 


Copyright:  Ingrid  Decker 
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Das  Schlafzimmer  mit  ihrem  Bett  inmitten  von  l’otenmasken 


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Martha  Winkler 


Mexikanische  Landschaft, 
Gemälde  von  Martha  Winkler 


MARTHA  WINKLER  UND  DIE  ÜBERSETZUNG 


Martha  Winkler,  geborene  Schwarz,  lernte  ich  in  Mexiko  kennen.  Man  hatte  sie  mir 
als  Übersetzerin  empfohlen.  So  suchte  ich  sie  eines  Nachmittags  in  ihrer 
Wohnung  auf 

Sie  empfing  mich  einem  blauen  Auge  und  einer  verbundenen  Hand,  ansonsten 
jedoch  recht  lebhaft  und  munter,  gar  nicht  beeinträchtigt  von  ihrem  Sturz  am 
Vortag  in  ihrer  eigenen  Wohnung.  Wir  verbrachten  einen  interessanten  und 
kurzweiligen  Nachmittag  und  plauderten  aus  unserem  Leben. 

Martha  Winkler  war  von  Haus  aus  Ärtzin,  und  ebenso  Laborärztin  wie  Ruth 
Lechuga,  die  sich  beiden  kannten  und  schätzten.  Bei  der  Gelegenheit  erfuhr  ich, 
dass  sie  Natalia  Trotzky  kannte,  die  ja  noch  viele  Jahre  nach  dem  Tod  ihres 
Mannes  in  Coyoacan  lebte,  bevor  sie  nach  Paris  ging  und  dort  verstarb.  Wenn  sich 
Natalia  krank  und  elend  fühlte,  nahm  Martha  Winkler  ihr  das  Blut  bei  ihr  zu  Hause 
ab,  um  es  im  Labor  zu  untersuchen. 

Frau  Winkler  Ist  eine  vielseitige  und  belesene  Frau  und  eine  begeisterte  und 
begabte  Hobbymalerin  genau  wie  ihr  Ehemann,  Janusch  = Hans,  der  vor  wenigen 
Jahren  an  Lungenkrebs  starb.  Sie  Ist  zwar  immer  noch  an  vielen  Dingen 
interessiert,  geht  jetzt  aber  mehr  In  der  Familie  auf,  erfreut  sich  an  ihren  Kindern 
und  Enkeln  und  ist  vor  allem  mit  ihrer  Gesundheit  beschäftigt,  denn  eine 
Verletzung  am  Oberarm  macht  ihr  zusätzlich  noch  zu  schaffen. 

Martha  Winkler  stammt  aus  einer  liberalen  jüdischen  Familie.  Sie  wurde  1918  in 
Ungarn  geboren,  kam  aber  bereits  1923  mit  Ihren  Eltern  nach  Mexiko.  Der  Vater, 
Imre  Winkler  bekam  1923  eine  Anstellung  als  Architekt  In  Mexiko  und  wanderte  mit 
seiner  Frau  Veruschka  = Barbara,  der  5jährigen  Tochter  Martha  und  dem  3jährigen 
Sohn  JyrI  = Georg  aus.  Die  Kinder  besuchten  die  Deutsche  Schule  In  Mexiko- 
Stadt,  die  sich  damals  noch  in  der  Colonia  Roma  befand.  Beide  Kinder  hatten  das 
Handycap,  dass  sie  kein  Deutsch  sprachen,  denn  zu  Hause  wurde  nur  Ungarisch 
geredet.  Aber  der  Vater  bestand  darauf,  dass  sie  die  Deutsche  Schule  besuchten. 
Man  gab  den  Kindern  eine  Frist  von  drei  Monaten,  in  dieser  Zeit  sollten  sie  sich 
einigermaßen  verständigen  können.  Da  beide  Kinder  sehr  sprachbegabt  waren, 
lernten  sie  zügig  und  durften  weiterhin  an  der  Schule  bleiben.  Beide  Kinder 
bestanden  an  der  Deutschen  Schule  das  Abitur. 

Als  die  Familie  1937  gemeinsam  einen  Urlaub  In  Ungarn  verbrachte,  wollte  Martha 
In  ihrem  Geburtsland  bleiben  und  dort  Textll-Design  studieren.  Sie  fühlte  sich  bei 
den  Großeltern  und  den  übrigen  VenA/andten  sehr  wohl  und  Martha  verliebte  sich 
sogar  in  einen  netten  jungen  Mann.  Jedoch  die  Zeiten  wurden  immer  unruhiger 
und  Freunde  aus  Mexiko  schickten  immer  eindringlichere  Briefe,  die  Familie  möge 
doch  zurückkommen,  da  der  Krieg  vor  der  Tür  stehe.  Im  September  1937  trat  die 
Familie  die  Rückreise  an.  Vorher  kaufte  der  Vater  noch  ein  Auto,  das  er  mit  nach 
Mexiko  nehmen  wollte.  Da  man  zu  jener  Zelt  noch  mit  dem  Schiff  unterwegs  war, 
war  der  Transport  kein  Problem.  Aber  auf  dem  Weg  zu  ihrem  Abfahrtshafen 

1 


gerieten  sie  auf  Glatteis  und  der  Wagen  prallte  gegen  einen  Baum.  Das  Auto  war 
ziemlich  beschädigt,  aber  außer  ein  paar  Platzwunden  kamen  die  Insassen  mit 
einem  Schrecken  davon.  Von  den  Verwandten,  die  den  Krieg  über  in  Ungarn 
geblieben  waren,  blieb  niemand  am  Leben. 


Martha,  die  vielseitig  interessiert  und  begabt  war,  folgte  dem  Rat  ihres  Vaters, 
Medizin  zu  studieren.  Später  hatte  sie  ein  eigenes  Blut-Analyse-Labor. 

Martha  erinnert  sich  an  ihre  Kindheit  und,  dass  ihr  Vater  ein  großer  Tierfreund  war. 
Sie  lebten  in  einem  Haus  mit  Garten  in  der  Colonia  Roma  und  hatten  das  Haus  voll 
mit  den  verschiedensten  Tierarten.  Der  Vater  hatte  im  Garten  sogar  einen 
Fischteich  angelegt,  und  da  der  Garten  recht  groß  war,  wurden  von  Freunden  und 
Bekannten  immer  mehr  Tiere  bei  ihnen  abgeliefert.  Eines  Tages  kam  ein 
Waschbär  zu  ihnen  ins  Haus,  und  der  Vater  baute  eigens  einen  Käfig  für  dieses 
wollige  Geschöpf.  Es  war  ein  sehr  nettes  und  geselliges  Tier,  nur  fischte  es  ihnen 
ständig  den  Fischteich  leer,  denn  er  war  so  geschickt  und  in  der  Lage,  das  Schloss 
seines  Käfigs  zu  öffnen.  Leider  nahm  es  ein  tragisches  Ende  mit  dem  putzigen 
Waschbär,  denn  als  er  eines  Tages  aggressiv  wurde,  stellte  der  Veterinär  fest, 
dass  das  Tier  einen  Gehirntumor  hatte  und  getötet  werden  musste.  Es  gesellten 
sich  aber  noch  mehr  Lebewesen  in  diesen  tierfreundlichen  Haushalt.  Da  gab  es 
zum  Beispiel  Gürteltiere,  die  mit  ihrem  spitzen  Maul  und  dem  gepanzerten  Körper 
ein  wenig  unförmig  aussehen.  Martha  fand,  dass  diese  Tiere  eher  langweilige 
Zeitgenossen  sind,  die  sich  nur  von  Würmern  ernähren  und  ansonsten  nicht  viel 
machen.  Dann  gab  es  in  diesem  Haus  noch  eine  Anzahl  von  Leguanen,  von  denen 
einer  die  stattliche  Länge  von  1 .40m  erreichte. 

Nachdem  Ich  so  nett  mit  Martha  geplaudert  hatte,  rief  ich  in  der  folgenden  Woche 
an,  um  mich  nach  ihrem  Befinden  zu  erkundigen.  Als  ich  hörte,  dass  sie  beim  Sturz 
das  rechte  Handgelenk  gebrochen  hatte,  wollte  Ich  meine  Übersetzungsunterlagen 
wieder  abholen.  Aber  dann  erzählte  sie  mir,  dass  sie  am  Wochenende 
handschriftlich  die  ganze  Übersetzung  geschafft  habe,  und  sie  nur  noch  von  ihrer 
Tochter  auf  dem  Computer  ins  Reine  übertragen  werden  müsse.  Genau  nach  einer 
Woche  hatte  ich  den  ganzen  Text  vor  mir  liegen. 

Kurze  Zeit  später,  als  die  Hand  verheilt  war,  wurde  Martha  Winkler  an  ihrem 
Oberarm  operiert.  Sie  blieb  eine  Weile  im  Krankenhaus,  ist  nun  aber  wieder 
vergnügt  und  lebensfroh  auf  den  Beinen. 

In  einer  relativ  kurzen  Zeit  habe  ich  etliche,  über  80jährige,  interessante,  gut 
aussehende  und  aktive  Frauen  erlebt,  an  denen  man  sich  als  junger  Mensch  ein 
Beispiel  nehmen  sollte.  Ich  bewundere  und  verehre  sie  alle. 


2 


GERTRUDS  bILLEk 

GEBORENE 

BORAK 


DAS  SCHICKSAL  DER  GERTRUDE  BILLER  GEB.  BORAK 


Gertrude  Borak  wurde  im  September  1918  in  einem  kleinen  Dorf  -an  der  Grenze 
zwischen  Ungarn  und  Österreich-  in  Monson,  als  einziges  Kind  des  Ehepaares 
Bernhard  und  Emma  Borak  geboren.  Als  sie  5 Jahre  alt  war,  zogen  die  Eltern  nach 
Wien,  wo  sie  aufwuchs  und  die  Schule  besuchte.  Ihr  Vater  starb  bereits  im  Alter 
von  50  Jahren  in  Wien.  Die  Mutter  Emma  führte  nun  alleine  in  Wien  die  Konditorei 
weiter,  die  in  der  Schröttergasse  14,  im  10.  Bezirk-  lag  und  die  sie  mit  ihrem  Mann 
aufgebaut  hatte. 

Gertrude  besuchte  die  Oberschule,  im  Jahre  1937  machte  sie  ihr  Abitur.  Da  bereits 
die  Nazis  in  Österreich  die  Oberhand  gewonnen  hatten  und  neue  Gesetze 
erlassen  wurden,  war  es  für  sie  als  Jüdin  unmöglich  zu  studieren.  Die  neuen 
Machthaber  erschwerten  den  Juden  das  Leben  in  jeder  Beziehung,  so  dass  auch 
die  Geschäftsfrau,  Emma  Borak  nach  der  “Kristallnacht”  enteignet  wurde. 

Da  stand  nun  die  kleine  Familie  und  wusste  nicht  wohin...  Mutter  Emma  fühlte  sich 
mit  60  Jahren  zu  alt,  um  wieder  in  einem  fremden  Land,  deren  Sprache  und 
Mentalität  sie  nicht  kannte,  einen  Neuanfang  zu  machen.  Sie  wollte  lieber  zurück 
nach  Ungarn  in  ihre  Heimat,  wo  einige  ihrer  Geschwister  lebten.  Nur  ihre  Tochter 
sollte  auf  jeden  Fall  aus  den  Fängen  der  Nazis  gerettet  werden,  sie  war  noch  jung 
und  flexible. 

Der  Gedanke,  Wien  so  plötzlich  verlassen  zu  müssen,  war  für  die  20  jährige 
erschreckend.  Denn  nicht  nur  die  Trennung  von  ihrer  Mutter  war  für  Gertrude  sehr 
schmerzhaft,  sondern  sie  wollte  auch  ihre  Jugendliebe  nicht  im  Stich  lassen.  Wie 
sie  später  in  Erfahrung  bringen  konnte,  wurde  der  junge  Mann  kurz  nach  ihrer 
Abreise  nach  Sibirien  in  ein  Arbeitslager  verschleppt  und  blieb  verschollen. 
Zweimal  hatte  er  noch  versucht  brieflich  Kontakt  mit  ihr  aufzunehmen. 
Wahrscheinlich  hat  er  den  erbarmungslosen  russischen  im  Winter,  die  harte 
Zwangsarbeit  und  die  extremen  Klimabedingungen  im  Sommer  nicht  überlebt. 

Da  Emma  Borak  Verwandte  in  New  York  hatte,  wäre  sie  mit  ihrer  Tochter  dorthin 
ausgewandert.  Da  aber  der  vor  geraumer  Zeit  gestellte  Ausreiseantrag  nicht 
genehmigt  worden  war,  drängte  die  Zeit  zur  Selbsthilfe,  besonders,  da  der  Krieg 
bereits  in  vollem  Gange  war.  Während  Gertrude  Borak  die  Vorbereitungen  für  den 
Umzug  nach  Belgien  traf,  löste  die  Mutter  den  Hausstand  in  Wien  auf  und  machte 
sich  mit  wenigen  persönlichen  Habseligkeiten  auf  den  Weg  in  ihre  Heimat,  nach 
Ungarn.  Mutter  und  Tochter  trennten  sich  schweren  Herzens  voneinander,  ahnten 
jedoch  nicht,  dass  sie  sich  nicht  wieder  sehen  würden. 

Mit  zwei  Tanten  und  zwei  männlichen  Ven«/andten  versuchte  Gertrude  im  Herbst 
1939  ins  rettende  Ausland,  nach  Belgien,  zu  entkommen.  Die  kleine  Gruppe 
machte  sich  auf  den  Weg  zur  belgischen  Grenze,  aber  bereits  in  Aachen  wurden 
sie  abgewiesen,  man  ließ  sie  nicht  passieren.  Nun  versuchten  sie,  über  die  “Grüne 
Grenze”  in  die  Schweiz  zu  gelangen  und  dafür  warteten  sie  den  kurz 
bevorstehenden  Heiligenabend  ab.  Sie  dachten,  dass  die  Zöllner  dann  feiern  und 


1 


trinken  würden  und  so  die  illegalen  Grenzgänger  nicht  bemerkten.  Tatsächlich 
gelangten  sie  bei  Basel  über  die  Grenze  und  konnten  endlich,  nach  langem 
Herumirren  bei  eisiger  Kälte,  in  einem  kleinen  Hotel  Unterschlupf  finden.  Bereits 
am  nächsten  Morgen  durchsuchte  die  Schweizer  Polizei  das  Hotel  und  verlangten 
von  den  Gästen  die  Ausweispapiere.  Irgendjemand  der  Dorfbewohner  muss  die 
kleine  Hilfesuchende  Gruppe  angezeigt  haben.  Da  Gertrude  Borak  erst  zwanzig 
Jahre  alt  war,  noch  minderjährig,  konnte  sie  nicht  zurückgeschickt  werden. 

Gertrude  hatte  sich  nun  regelmäßig  bei  der  Schweizer-Kultusgemeinde  zu  melden 
und  konnte  bei  einer  Familie  als  „Kinderfräulein“  Unterkommen.  Sie  hatte  Glück, 
sie  fand  eine  sehr  nette  und  verständnisvolle  Familie,  die  sich  auch  um  ihr 
persönliches  Wohlergehen  kümmerte.  Da  die  Familie,  bei  der  sie  arbeitete,  gute 
Beziehungen  zu  den  Behörden  hatte,  wurden  Gertrudes  Papiere  so  manipuliert, 
dass  sie  auch  zukünftig  in  der  Schweiz  hätte  bleiben  können.  Aber  Gertrude  hielt 
es  nur  ein  Jahr  lang  in  diesem  kleinen  Land  aus.  Sie  fuhr  nach  Bern,  um  sich  dort 
bei  der  französischen  Botschaft  eine  Einreisegenehmigung  für  Frankreich  zu 
beschaffen.  Um  dies  zu  forcieren,  gab  sie  an,  sie  sei  von  Beruf  Krankenschwester 
und  da  Krieg  war,  würde  sicher  jede  helfende  Hand  gebraucht.  So  kam  Gertrude 
Borak  1941  als  “Refugie”  nach  Paris,  wo  sie  sich  gleich  einer  ungarischen 
Exilantengruppe  anschloss. 

Zu  jener  Zeit  lebten  zahlreiche  Ungarn  in  Paris  und  so  lernte  sie  recht  bald  ihren 
zukünftigen  Mann,  Otto  Biller,  kennen,  der  sich  beschützend  um  die  13  Jahre 
jüngere  Frau  kümmerte.  Otto  Biller  hatte  bereits  Jahre  zuvor  in  Paris  studiert,  ihm 
war  Frankreich  zur  zweiten  Heimat  geworden.  Bald  schon  wurde  er  als  Soldat 
eingezogen  und  kämpfte  gegen  die  Deutschen.  Die  jungen  Leute  heirateten  noch 
während  des  Krieges.  Da  sie  die  furchtbaren  Kriegsjahre,  Not,  Flucht  und 
Verfolgung  miterlebt  hatten,  beschlossen  sie  keine  Kinder  zu  bekommen.  Sie 
wollten  ihren  zukünftigen  Kindern  so  ein  qualvolles  Leben,  wie  ihre  Angehörigen  es 
mitgemacht  hatten,  um  dann  zum  Schluss  doch  noch  in  den  verschiedensten 
Konzentrationslagern  zu  sterben,  ersparen.  Alle  Verwandten  der  Billers  und 
Boraks,  die  in  Ungarn  oder  Österreich  geblieben  waren,  wurden  ermordet. 

Nach  dem  Krieg  lebte  das  Ehepaar  einige  Jahre  in  Perpignon,  wo  sie  erfolgreich 
eine  Gerberei  betrieben,  Leder  bearbeiteten  und  Taschen  herstellten.  Es  gab  zwar 
moderne  Maschinen  in  ihrem  Unternehmen,  aber  zusätzlich  bedurfte  es  der 
geschickten  Handarbeit  bis  jeweils  ein  Stück  fertig  gestellt  war. 

Zehn  Jahre  waren  es  nun  her,  dass  gute  Freunde,  die  schon  lange  In  Mexiko 
lebten,  das  Ehepaar  Biller  zur  Einwanderung  in  dieses  Land  bewegen  wollten.  Sie 
glaubten,  dass  Billers  mit  ihrem  Ledergeschäft  grossen  Erfolg  haben  und  sich  in 
Mexiko  sehr  wohl  fühlen  würden.  Otto  Biller  konnte  sich  zum  Auswandern  nicht 
recht  entschließen,  Frankreich  war  ihm  in  all  den  Jahren  sehr  ans  Herz 
gewachsen.  Dann,  1959,  war  es  doch  soweit,  Herr  Biller  gab  dem  Drängen  der 
Freunde  nach.  Möbel,  Hausrat,  und  die  von  ihnen  benötigten  Maschinen  wurden  in 
Container  verstaut  und  das  Ehepaar  selbst  versuchte  sich  innerlich  auf  ein  neues 
Leben  vorzubereiten.  Ironischerweise  kam  am  Tag  ihrer  Abreise  die 


2 


Ausreisegenehmigung  für  die  Vereinigten  Staaten,  auf  die  sie  während  der 
Kriegsjahre  so  sehnlich  gewartet  hatten.  Frau  Biller  war  später  der  Meinung,  dass 
die  ungarischen  Asylantenbewerber  ganz  hinten  auf  den  amerikanischen  Listen 
standen. 

Die  alten  Freunde  der  Billers  halfen  ihnen  sehr  bei  den  Anfangsschwierigkeiten  in 
Mexiko.  Ein  neues  Ledergeschäft  wurde  aufgebaut.  Aber  die  Einarbeitung 
gestaltete  sich  nicht  so  einfach,  denn  es  gab  zu  Beginn  Sprachschwierigkeiten,  die 
sich  erst  im  Laufe  der  Zeit  legten.  Der  Umzug  ins  neue,  fremde  Land  schien  Billers 
Privatleben  beflügelt  und  entspannt  zu  haben,  denn  schon  bald  wurde  Gertrude 
Biller  schwanger.  Im  Jahre  1960  wurde  ihr  einziger  Sohn,  Daniel,  geboren.  1983 
starb  Otto  Biller  an  Herzversagen  und  Gertrude  führte  seit  dem  mit  ihrem  Sohn  das 
Geschäft  weiter. 

Otto  Biller  ist  in  der  Fremde  nie  heimisch  geworden,  ihn  plagte  oft  großes 
Heimweh,  häufig  sprach  er  mit  seiner  Frau  über  eine  Rückkehr  nach  Frankreich. 
Aber  ein  neuer  Anfang  war  in  ihrem  Alter  zu  beschwerlich.  Mehrmals  sind  die 
Billers  im  Laufe  der  Jahre  auf  Europareise  gegangen  und  haben  bei  dieser 
Gelegenheit  ihre  alte  Heimat  -Ungarn  und  die  Tschechoslowakei-  besucht.  Ihre 
Unterhaltung  führten  sie  meistens  auf  Ungarisch  -Ihrer  beider  Muttersprache-  und 
auf  Französisch. 

Mit  der  Unterstützung  ihrer  Freunde  war  es  den  Billers  gelungen,  die  Lederfabrik 
nicht  nur  aufzubauen,  sondern  sie  zum  Erfolg  zu  führen.  Renommierte  Kaufhäuser 
zählten  zu  ihren  Kunden.  Selbst  heute  noch  (im  Jahr  2000),  mit  fast  82  Jahren,  ist 
Gertrude  eine  immer  noch  tatkräftige  Frau.  Sie  lässt  es  sich  nicht  nehmen,  jeden 
Tag  im  Geschäft  nach  dem  Rechten  zu  sehen,  auch  wenn  ihr  Sohn  Daniel  schon 
lange  die  Geschäftsleitung  übernommen  hat. 

Über  ihre  Zeit  in  Wien,  „den  Anschluss“  die  “Kristallnacht”,  den  Einzug  der 
Wehrmacht,  die  Schikanen  der  Nazis,  die  Enteignung  des  Geschäftes  ihrer  Mutter 
spricht  Frau  Biller  nicht.  Diese  Ereignisse  sind  aus  Ihrem  Kopf  gewichen,  als  hätte 
es  all  diese  Dinge  nie  gegeben.  Sie  sagte,  es  sei  zu  schrecklich  gewesen,  als  dass 
man  sich  daran  zurückerinnert  und  sich  mit  diesen  Gedanken  belastet. 

Mexiko  ist  für  Gertrude  Biller  zur  neuen  Heimat  geworden.  Im  Gegensatz  zu  ihrem 
Mann,  hat  sie  dieses  Land  innerlich  akzeptiert.  Frau  Biller  lebt  heute  -wie  eigentlich 
schon  immer-  sehr  zurückgezogen.  Die  guten  alten  Freunde,  die  sie  und  ihren 
Mann  einst  nach  Mexiko  holten,  sind  längst  verstorben.  Gertrude  war  seit  frühester 
Jugend  selbständig,  aber  manchmal  fühlt  sie  sich  einsam.  Und  so  erfreut  sich  die 
alte  Dame  heute  an  ihren  kleinen  Nucleus,  die  Familie,  die  aus  Sohn,  Enkel  und 
Schwiegertochter  besteht.  Nebenher  beschert  Ihr  das  Geschäft  noch  die  kleinen 
Freuden  und  Sorgen  des  Alltags.  Dann  ist  da  noch  eine  alte  ungarische  Freundin, 
Marta  Jovanowich,  die  sie  hin  und  wieder  im  wärmeren  Cuautia  besucht.  Gertrude 
Biller  lässt  es  sich  nicht  nehmen,  wenigsten  einmal  am  Tag  mit  ihr  zu  telefonieren 
und  das  in  ihrer  Muttersprache  -auf  Ungarisch-  natürlich. 


3 


Am  12.7.2002  verstarb  Gertrude  Biller,  geb.  Borak  in  Mexiko.  Ihr  Sohn  Daniel 
befand  sich  in  dieser  Zeit  gerade  auf  einer  Europa-Reise.  Als  er  sie  am  letzten  Tag 
seines  Aufenthaltes  anrief,  kam  ihm  die  Stimme  seiner  Mutter  sehr  schwach  und 
hinfällig  vor.  Am  Tag  seiner  Rückkehr  ist  sie  gestorben  — ganz  einfach 
eingeschlafen  Sie  wurde  84  Jahre  alt. 


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Mitzi  Kafka 


MARIE  (MITZI)  KAFKA 


Durch  meine  Freundin,  Renate  von  Hanffstengel,  erhielt  ich  eine  Tonbandaufnahme, 
auf  der  ein  Interview  mit  Mitzi  Kafka  aufgezeichnet  war,  das  von  einem 
österreichischen  Radiosender  in  den  80er  Jahren  aufgenommen  worden  war..  Hierin 
berichtet  sie  von  ihrer  Flucht  aus  Wien  und  ihrem  Leben  im  mexikanischen  Exil.  Frau 
Dr.  von  Hanffstengel  und  ich  arbeiteten  das  Gespräch  schriftlich  aus.  Es  befinden 
sich  ebenfalls  in  diesem  Artikel  Daten,  die  wir  Mitzis  Tochter,  Susi  Kafka,  verwitwete 
Rosenbaum,  und  ihrem  Sohn  Michael  zu  verdanken  haben. 

Marie  Steinschneider  war  32  Jahre  alt,  als  die  Nazis  in  Wien  einmarschierten.  Sie 
erinnerte  sich  noch  genau,  dass  sie  auf  dem  Nachhauseweg  von  ihrem  Unterricht  als 
Gymnastiklehrerin  war,  als  deutsche  Truppen  nach  Wien  kamen.  Sie  bemerkte  auf 
dem  Nachhauseweg  einen  ungeheuren  Lärm  und  große  Bewegung  auf  den 
Strassen.  Erst  als  sie  Zuhause  angekommen  war,  erfuhr  sie  aus  dem  Radio,  was 
passiert  war. 

Bis  zu  diesem  Zeitpunkt  führte  sie  eine  Parfümerie  in  der  Börsendorfer  Strasse. 
Als  dann  die  Nazis  auch  an  ihr  Geschäft  Plakate  klebten  mit  der  Aufschrift,  dass  den 
,Ariem“  das  Einkäufen  In  diesem  Geschäft  untersagt  sei,  musste  sie  Ihren  Laden 
schließen.  Im  selben  Jahr,  im  Dezember  1938,  heiratete  Marie  ihren  Verlobten  Hans 
Kafka  und  konnte  mit  ihm  über  Kuba  nach  Mexiko  auswandern.  Hans  war  ein  Cousin 
des  Schriftstellers  Franz  Kafka. 

Ein  Bruder  von  Mitzi,  Hans  Steinschneider,  war  zu  diesem  Zeitpunkt  noch  In  Wien, 
nachdem  er  durch  die  Aussicht  auf  ein  Visum  für  Kuba  aus  dem  KZ  Dachau 
entlassen  worden  war.  Mitzi  und  ihr  Mann  erlangten  tatsächlich  ein  Visum  für  ihn,  das 
jedoch  kurzfristig  von  der  kubanischen  Regierung  rückgängig  gemacht  wurde.  Dieses 
Schicksal  sollte  zur  gleichen  Zeit  noch  zahlreichen  anderen  Menschen  ereilen. 
Daraufhin  floh  Hans  Steinschneider  mit  seinem  Halbbruder  Robert  Deman  über  die 
Berge  in  die  Schweiz,  dort  wurden  sie  jedoch  erneut  zurückgewiesen.  Im  November 
1939  stellte  die  jüdische  Kultusgemeinde  von  Wien  unter  dem  Befehl  der  Gestapo 
einen  Transport  nach  Russland  zusammen,  der  Hunderte  von  Wienern,  unter  ihnen 
die  beiden  Brüder  von  Mitzi  Kafka,  unter  falschen  Vorspielungen  nach  Osteuropa 
brachte.  Es  begann  eine  Odyssee,  von  der  sie  unter  schwierigsten  Bedingungen 
noch  einige  Briefe  schreiben  konnten,  die  in  Mexiko  anlangten.  Mitzi  hat  sie 
aufbewahrt.  Nach  Erhalt  des  letzten  Briefes  hörte  sie  nie  wieder  von  ihren  Brüdern. 
Gewiss  fanden  sie  den  Tod  im  Niemandsland  irgendwo  Im  Osten  Europas,  nach  dem 
sie  angefeindet,  ihrer  letzten  Habseligkeiten  beraubt  und  beschossen  wurden. 

Die  Mutter  Mitzi  Kafkas,  Emma  Schönmann,  blieb  zunächst  In  ihrer  Wohnung  In 
Wien,  doch  schon  bald  musste  sie  diese  verlassen.  Als  Mitzi  sich  nach  dem  Krieg  bei 
den  Behörden  nach  dem  Verbleib  ihrer  Mutter  erkundigte,  erhielt  sie  nur  die  lapidare 
Mitteilung,  dass  sie  nach  Minsk  transportiert  und  dort  umgekommen  sei. 

Mitzi  Kafka  konnte  nur  mit  ihrem  Mann  nach  Mexiko  gelangen,  weil  die  begüterten 
Verwandten  ihres  Mannes  ihnen  die  Einreise  verschafften.  Dort  versuchte  das 
Ehepaar,  sich  mit  verschiedenen  Beschäftigungen  über  Wasser  zu  halten,  was  in  der 
ersten  Zelt  nicht  gelang.  Da  ihnen  bei  ihrer  Einreise  die  Bedingung  gestellt  wurde  in 
Mexiko  zu  investieren,  versuchten  sie  es  am  Anfang  mit  einer  Eisfabrik  in  Manzanillo, 
aber  der  Versuch  scheiterte.  Dann  eröffneten  sie  In  der  Hauptstadt  ein 


1 


Taschengeschäft  und  waren  nebenbei  auch  noch  Partner  eines  Deutschen,  der  ein 
Haushaltswaren-Geschäft  besaß. 


Im  Jahre  1940  kam  die  Tochter  Susanne  zur  Welt,  und  1943  Sohn  Michael.  Beide 
besuchten  die  amerikanisch  ausgerichtete  Schule  „Pan-American  Workshop“  in 
Mexiko-Stadt.  Ganz  langsam  ging  es  finanziell  bergauf,  und  Familie  Kafka  konnte  ein 
„normales  Leben“  führen,  in  Urlaub  fahren  und  sich  einige  Sonderausgaben 
erlauben.  1972  trat  Hans  Kafka  In  den  Ruhestand,  den  er  noch  zwei  Jahre  bis  zu 
seinem  Tod  genießen  konnte.  Seine  Ersparnisse  für  den  Ruhestand  wurden  durch 
eine  rasante  Inflation  stark  geschmälert. 

Nach  dem  Tode  ihres  Mannes  bekam  Mitzi  von  der  Pensionsversicherung  in 
Österreich  eine  gute  Rente,  die  ihr  ein  Leben  ohne  Sorgen  erlaubte. 

Auf  die  Frage,  ob  sie  je  wieder  in  Wien  oder  Österreich  leben  wolle,  kam  eine  klare 
Absage. 

Sie  meinte,  es  sei  eine  Charaktersache.  Ein  Land,  das  ihr  die  Freiheit  genommen, 
die  Mutter  und  die  Brüder  umgebracht  hat,  sei  für  sie  zum  Leben  nicht  mehr 
akzeptabel.  Sie  habe  zwar  ihre  jüdischen  Freunde  dort  nach  dem  Krieg  noch  zwei 
oder  dreimal  besucht,  aber  sie  hat  sich  nie  mehr  Wohl  in  ihrer  Haut  gefühlt.  Gerade 
bei  ihrem  letzten  Besuch  konnte  sie  das  Gefühl  von  Antisemitismus  nicht  loswerden 
und  war  froh,  zu  ihrer  Familie  nach  Mexiko  zurückzukehren.  Ihre  Familie  bestand  zu 
der  Zelt  aus  ihren  Kindern  Miguel  und  Susi,  sechs  Enkeln  und  vier  Urenkeln. 

Mitzi  wurde  fast  92  Jahre  alt  und  bewohnte  bis  zu  ihrem  Tod  eine  eigene  Wohnung 
mit  Blick  auf  den  Chapultepec-Park  und  nahm  manches  Mal  an  den  Veranstaltungen 
des  „Centro  Austriaco“  teil,  aber  mit  großer  Regelmäßigkeit  fand  sie  sich  zu 
Gymnastikstunden  im  „Club  Deportivo  Israelite“  ein. 


Copyright:  Ingrid  Decker 


NACHRUF  AUF 


MARIANNE  FRENK-WESTHEIM 


Marianne  Frenk-Westheim  in  Mexiko,  Im  Mai  2002 
Foto:  Renata  von  Hanffstengel 


Nachruf  auf  Marianne  Frenk-Westheim 

Marianne  Frenk-Westheim,  geborene  Freund,  eine  alte  gescheite  Dame,  die  am 
24.6.04,  mit  einhundert  sechs  Jahren  im  mexikanischen  Exil  starb. 


Sie  wurde  als  Marianne  Freund  1898  in  Hamburg  geboren.  Sie  heiratete  den  Arzt  Dr. 
Ernst  Frenk  und  1930  kamen  sie  gemeinsam  mit  ihren  beiden  Kindern  nach  Mexiko, 
wo  sich  Dr.  Frenk  ein  neues  Betätigungsfeld  suchte.  Marianne  arbeitete  als  Dozentin 
an  der  Mexikanischen  Universität,  UNAM,  und  lehrte  Philosophie  und  Literatur.  Sie 
veröffentlichte  verschiedene  Arbeiten  in  Mexiko,  sowie  auch  in  Deutschland.  Später 
wurde  sie  Assistentin  und  Rechte  Hand  des  legendären  Francisco  Gamboa,  der 
Direktor  des  Museums  für  Moderne  Kunst  war.  Über  viele  Jahre  übersetzte  sie 
Bücher  vom  Deutschen  ins  Spanische  und  umgekehrt.  Noch  mit  94  Jahren  schrieb 
sie  ein  kleines  Büchlein  mit  dem  Titel  „y  mil  aventuras“,  übersetzt  „Und  tausend 
Abenteuer“.  Unter  der  Naziherrschaft,  als  viele  Verfolgte  Deutschland  verließen  und 
in  Mexiko  aufgenommen  wurden,  lernte  Marianne  etliche  Künstler  aus  der  Heimat 
kennen,  unter  Ihnen  waren  Anna  Seghers  und  Egon  Erwin  Kisch.  Auch  der 
bedeutende  Kunsthistoriker  und  Kunstkritiker,  Paul  Westhelm,  stieß  zur  deutschen 
Gruppe.  Bei  einem  Vortrag  im  Heinrich  Heine  Club  lernte  er  1942  Marianne  Frenk 
kennen.  Sie  interessierte  sich  für  seine  Arbeiten  und  wurde  seine  Übersetzerin. 
Diese,  über  viele  Jahre  fruchtbare  und  kontinuierliche  Zusammenarbeit  band  die 
beiden  Menschen  so  eng  aneinander,  dass  sie  1959  heirateten.  Ernst  Frenk  war  im 
Jahre  1957  an  einem  Herzinfarkt  gestorben. 

Paul  Westheim  wurde  am  7.  August  1886  in  Eschwege  geboren.  Er  ging  als 
15jähriger  nach  Darmstadt,  wo  er  nach  dem  Willen  seines  Vaters  eine 
kaufmännische  Lehre  absolvieren  sollte.  Jedoch  schon  nach  zwei  Jahren  arbeitete  er 
als  Journalist  für  eine  Presseagentur.  Seine  Lehre  beschrieb  er  später  als  etwas 
„was  er  nie  begriffen  hat:  nämlich  Geschäfte  - und  mit  Geschäften  Geld  zu  machen“. 
Die  Kunst  wurde  für  Paul  Westhelm  immer  wichtiger.  Im  Jahre  1906  ging  er  mit 
vierzig  geliehenen  Mark  nach  Berlin,  wo  er  sich  als  Gasthörer  In  der  Universität 
weiterbildete.  1912  übernahm  er  das  Berliner  Kunstreferat  der  Frankfurter  Zeitung, 
eine  der  größten  Zeitungen  in  dieser  Zeit.  Westhelm  setzte  sich  für  Künstler  wie 
Oskar  Kokoschka,  Max  Pechstein,  Otto  Dix,  Georg  Grosz  ein,  die  bei  den 
konsen/ativen  Kunstkritikern  auf  Ablehnung  stießen.  1919  erschienen  seine 
Monographien  über  den  Bildhauer  Wilhelm  Lehmbruck  und  den  Maler  Oskar 
Kokoschka.  Mit  den  Nationalsozialisten  im  Jahre  1933  wird  die  Arbeit  des 
anerkannten  Kunstkritikers  öffentlich  angeprangert.  Im  August  1933  geht  Westheim 
nach  Paris,  flieht  regelrecht  aus  seinem  Heimatland.  Im  Juni  1935  wird  er  von  den 
Nazis  -gemeinsam  mit  Bertold  Brecht  und  34  weiteren  „staatsfeindlichen 
Emigranten“-  ausgebürgert  mit  der  Begründung:  „Paul  Westheim,  jüdischer 
Journalist,  befasst  sich  besonders  damit,  in  der  Emigrantenszene  an  der  deutschen 
Kulturpolitik  In  herabwürdigender-  und  zersetzender  Weise  Kritik  zu  üben“.  Im  Exil  in 
Frankreich  schrieb  er  den  satirischen  Roman  „Heil  Kaddlatz“  und  die  Novelle 
„Rassenschande“. 

1941  stellte  ihm  das  mexikanische  Konsulat  in  Marseiile  (genau  genommen  der 
Generalkonsul  Gilberto  Bosques)  ein  Einreisevisum  aus  und  im  Dezember  desselben 
Jahres  kam  er  als  fünfundfünfzigjähriger  über  Spanien  und  Portugal  nach  Mexiko.  In 
den  ersten  Jahren  nahm  er  regen  Anteil  an  den  kulturellen  Aktivitäten  der  Exll- 


1 


Deutschen.  Er  hielt  Vorträge  im  Heinrich  Heine  Club  und  fehlte  nicht  bei  den 
Clubabenden  der  Bewegung  „Freies  Deutschland“.  In  den  Präkolumbischen- 
Kulturen,  ebenso  wie  in  den  Wandmalereien  sah  Westheim  eine,  wie  er  sagte 
„andere  Art  von  Expressionismus“.  Westheim  meinte,  die  alten  Kulturen  schufen 
keine  Abbilder  sondern  Sinnbilder.  Eine  Kunst  also,  die  auf  Wirklichkeit,  auf 
Erfahrung  bezogen  und  damit  Weltdeutung  und  Welterklärung  zugleich  war.  „Der 
mythische  Realismus  dieser  Kunst  soll  und  will  mystisch  religiösen  Vorstellungen 
Ausdruck  geben,  Vorstellungen  von  einer  Welt,  die  schrecklich  und  erhaben  zugleich 
ist“.  1950  schreibt  Paul  Westheim  ein  Buch  über  die  mexikanische  Kunst  unter  dem 
Titel:  ,Arte  antiguo  de  Mexico“  und  es  folgten  Im  Laufe  der  Jahre  noch  mehrere 
Publikationen  und  Marianne  Frenk  war  von  Anfang  an  seine  Übersetzerin. 

Während  es  viele  Exilanten  nach  dem  Krieg  wieder  nach  Deutschland  zog,  blieb  Paul 
Westhelm  in  Mexiko,  um  seine  begonnene  Arbeit  fortzusetzen.  Er  wurde  nach  dem 
Krieg  weder  von  der  DDR  noch  von  der  BRD  wieder  eingebürgert.  Der  bis  dahin 
staatenlose  Westheim  erhielt  1954  die  mexikanische  Staatsbürgerschaft.  Niemals 
mehr  wurde  ihm  im  deutschen  Kunst  und  Kulturbetrieb  eine  Stelle  angeboten, 
obwohl  er  das  Kulturgeschehen  vor  dem  Dritten  Reich  nachhaltig  mitbestimmt  hatte. 
Er  schrieb  in  einem  Brief.  „Leider  lebe  ich  ja  verbannt  auf  einer  Insel,  fern  von  jener 
Welt  da  drüben,  zu  der  ich  einmal  gehörte...  Andererseits  hat  mir  das  Schicksal  doch 
die  Welt  des  alten  Mexiko  geboten,  die  für  mich  ein  großes  Erlebnis  geworden  ist“. 
Im  Herbst  1963  kam  der  77jährlge  auf  Einladung  des  Berliner  Senats  und  der  „Ford 
Foundation“  nach  Berlin  zurück.  Westheim  hatte  lange  Zeit  behauptet,  dass  Berlin 
die  einzige  Stadt  sei,  in  der  man  leben  könne.  Auf  die  Frag  eines  Journalisten,  wie 
lange  er  nicht  in  Berlin  gewesen  sei,  antwortete  Westheim  lakonisch  und  mit  seinem 
ganz  eigenen  Humor:  „Nicht  lange  - dreißig  Jahre“.  Die  Anstrengungen  der  Reise, 
den  aufkommenden  Emotionen,  die  mit  diesem  Berlinbesuch  verbunden  waren, 
ließen  sein  Herz  am  21.  Dezember  1963  still  stehen. 

Über  vierzig  Jahre  überlebte  Marianne  Frenk  Westheim  ihren  Mann.  Als  ich  am 
25.6.04  zufällig  zu  Besuch  bei  meiner  Freundin,  Renate  von  Hanffstengel,  in  Mexiko 
weilte,  die  Frau  Westheim  gut  und  lange  Jahre  kannte,  läutete  das  Telefon  und  eine 
Verwandte  teilte  ihr  mit,  dass  Marianne  Frenk  Westheim  am  Tag  zuvor,  am  24.6.04  , 
wenige  Tage  nach  ihrem  106.  Geburtstag  verstorben  sei. 

24.  November  1997  wurde  Marianne  Frenk-Westheim  eine  große  Hommage 
zuteil.  Im  Museum  Rufino  Tamayo  fand  ein  Konzert  zu  ihren  Ehren  statt  und  ein 
großes  Dinner.  Dazu  wurde  ein  reich  bebildertes  Heftchen  über  sie  und  Ihre  lange 
Laufbahn  gedruckt,  in  dem  ihre  schriftstellerische,  aber  insbesondere  ihre 
Übersetzertätigkeit  gewürdigt  wurde,  die  einen  kulturellen  Brückenschlag  zwischen 
der  mexikanischen  und  der  deutschen  Kultur  bedeutet“. 

(Text  aus  dem  Jahrbuch  III,  Volumen  V,  von  Dr.  Renate  von  Hanffstengel) 

Marianne  Frenk  Westhelm  erklärte  einmal,  dass  sie  kein  Identifizierungsprobleme 
habe.  Sie  fühle  sich  weder  als  Mexikanerin,  noch  als  Deutsche  und  nicht  als  Jüdin, 
sondern  als  eine  Frau  unter  dem  Himmel  dieser  Erde.  Und  so  hatte  sie  wohl  schon 
zu  Lebzelten  bestimmt,  dass  sie  weder  auf  dem  deutschen  noch  auf  dem 
mexikanischen  oder  jüdischen  Friedhof  beerdigt  werden  wolle.  Ihre  sterblichen 
Überreste  fanden  auf  dem  spanischen  Friedhof  eine  Heimat. 


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Kurzgeschichte  von  Marianne  Frenk  Westheim 
Ein  Mangel  an  Takt 

„Jedes  Mal,  wenn  ich  mit  dem  Kakerlaken  kämpfe,  kommt  das  Pferd.  Ein  absoluter 
Mangel  an  Takt,  was  immer  man  sagen  mag.  Außerdem,  können  Sie  mir  vielleicht 
erklären,  was  es  bei  mir  will?  Mein  Zimmer  ist  für  so  ein  Pferd  keineswegs  attraktiv, 
an  den  Wänden  hängen  kaum  Bilder,  und  meine  Bücher  - also  ich  will  mich  wirklich 
nicht  wichtig  machen,  aber  es  ist  nun  mal  Tatsache,  dass  meine  Bücher  ein  ganz 
anderes  geistiges  Niveau  voraussetzen.  Wir  beide  wissen  nicht,  wovon  wir  sprechen 
sollen.  Das  Unangenehmste  ist,  dass  der  Kakerlak  die  Gelegenheit  benutzt,  um  zu 
entwischen.  Manchmal  ist  er  schon  tot,  wenn  das  Pferd  kommt,  aber  das  macht  ihm 
gar  nichts  aus.  Am  nächsten  Tag  ist  er  wieder  da“. 

Ein  Gedicht  von  Paul  Mayer  in  der  Zeitschrift  „Freies  Deutschland“ 

Dank  an  Mexiko 

Fremdes  Land,  wo  nichts  mir  angehört. 

Weder  Haus  noch  Baum  mit  Vogelnest. 

Land,  dem  ich  wie  Strandgut  angeschwemmt. 

Fremdes  Land,  das  mich  gewähren  lässt. 

Wo  kein  Büttel  meine  Träume  stört 

Und  kein  Wahn  den  Strom  des  Denkens  dämmt. 

Fremdes  Land,  Du  hast  mich  schon  betört. 

Weil  die  Sonne  Deine  Seele  ist 
Und  Dein  Himmel  keine  Wolke  kennt. 

Weil  Du  noch  ein  kühner  Anfang  bist. 

Jugendlich  in  stürmendem  Beginn. 

Fremdes  Volk,  so  fass  ich  Deinen  Sinn 

Keine  Schranke  hat  uns  je  getrennt. 

Deine  Besten  - und  dem  Fremden,  mich. 

Mexiko,  Du  warst  mir  brüderlich. 

Weil  in  uns  die  gleiche  Sehnsucht  brennt. 

Für  das  Land,  das  wahllos  mich  verstieß. 

Tauschte  ich  Dich  ein.  Du  Paradies. 

Fremdes  Land,  das  mir  schon  ganz  gehört. 

Denn  „Gehören“  heißt  doch,  dass  man  liebt- 
Jeder  Mensch  erhält  nur,  was  er  gibt. 

Fremde  Stadt,  wo  Oleander  rankt. 

Wo  ein  Blütenmeer  im  Wind  zerstiebt, 

Stadt  und  Land  und  Volk,  seid  mir  bedankt! 


3 


(Ein  Großteil  der  Informationen  dieses  Berichtes  stammen  aus  dem  Buch  „Mexiko, 
das  wohltemperierte  Exil“  von  Renata  von  Hanffstengel,  Cecilia  Tercero  und  Silke 
Werner  Franco) 


luuuuuuuuuuuuuuuuuuuMuuuuuuuuuimuuauuuuuuummiiiyiuiiuiuiuiHiuuuiiuuiiuuHMuuMuut 


Die  Malerin  Tanya  und  das  Kochbuch  aus  Theresienstadt 


Die  Malerin  Tanya  lernte  ich  gleich  am  Anfang  meines  fünfjährigen  Aufenthaltes  1996 
in  Mexiko  bei  einer  Vernissage  kennen.  Sie  ist  eine  vielseitige  und  interessante  Frau, 
jedoch  der  Kunst  des  Malens  am  meisten  zugetan  und  damit  ist  sie  sehr  erfolgreich. 
Dadurch,  dass  wir  räumlich  zu  weit  voneinander  entfernt  lebten,  sahen  wir  uns  nicht 
allzu  häufig,  jedoch  oft  genug,  um  etwas  aus  Ihrem  Leben  zu  erfahren.  Ihre  Eltern 
sind  1939  von  Prag  ins  südamerikanische  Exil  gegangen. 


Während  ich  Tanya  in  ihrem  Atelier  beim  Malen  zusah,  ihren  Geschichten  lauschte, 
hörte  ich  eines  Tages  von  einem  Buch,  einem  ganz  speziellen  Buch,  es  handelte 
sich  um  ein  „Kochbuch“,  das  in  Theresienstadt  entstanden  war,  deren  Rezepte,  in 
Ermangelung  an  Schreibpapier,  auf  Papierschnipsel  und  Fotorändern  geschrieben 
waren.. 

Theresienstadt,  „der  Vorraum  für  Auschwitz“,  hatte  einen  ganz  besonderen  Status. 
Für  manche  war  es  eine  Durchgangsstation,  die  nach  Auschwitz  führte,  für  andere 
ein  Todescamp  und  für  viele  für  lange  Zeit  ein  Ghetto.  Dieses  Ghetto  Theresienstadt 
hatte  eine  Modell-  und  Vorzelgefunktion.  Hier  wurde  der  Welt  vorgeschwindelt,  dass 
die  Juden  geradezu  In  gutbürgerlicher  Beschaulichkeit  in  Theresienstadt  lebten. 
Später  entstand  hier  der  Film:  „Der  Führer  schenkt  den  Juden  eine  Stadt“.  Es  war  ein 
Ort  an  dem  die  Nazis  demonstrieren  wollten,  wie  menschlich  und  ordentlich  es  in  den 
Konzentrationslagern  zuging,  aber  leider  handelte  es  sich  nur  um  ein  Potemkinsches 
Dorf.  In  Wirklichkeit  war  dieser  Ort  von  Angst,  Krankheit  und  Tod  geprägt.  Die 
Dualität  zwischen  dem  -auf  der  einen  Seite-  kulturellen  Leben,  das  von  den 
Häftlingen  organisiert  wurde  und  auf  der  anderen  Seite  die  Vernichtung  der 
Menschen,  gab  dem  Ghetto  etwas  Surrealistisches.  Theresienstadt  war  eine  Stadt, 
die  von  festen  Mauern  umgeben  war  und  deren  Häuser  aus  Stein  gebaut  waren,  im 
Gegensatz  zu  anderen  Lagern,  deren  Unterkünfte  aus  Holzbaracken  bestanden. 

Theresienstadt  war  als  Garnisonsstadt  unter  der  Regierung  von  Kaiser  Franz  Josef 
II.,  im  späten  18.  Jahrhundert  gegründet  und  nach  seiner  Mutter,  der  Kaiserin  Maria 
Theresia,  benannt  worden.  Am  24.  November  1941  errichtete  Reinhard  Heydrich, 
SS-Reichsprotektor  für  Böhmen  und  Mähren,  in  Theresienstadt  ein  Lager  ein,  in  das 
die  Juden  aus  Prag  gebracht  wurden.  Da  dieser  Platz  nur  40  Km  nördlich  von  Prag 
entfernt  lag,  bot  es  sich  den  Nazis  geradezu  für  ihre  Zwecke  an.  Ab  November  1941 
wurde  Theresienstadt  zur  Heimat  für  Prager  Juden.  1942  waren  fast  alle  Juden  aus 
Prag  nach  Theresienstadt  deportiert  worden.  Als  die  Verfolgten  aus  Deutschland 
eintrafen,  erhöhte  sich  im  Juli  1942  die  Population  auf  7.000  Menschen.  Es  folgten 
dann  die  Juden  aus  Österreich.  Im  Ghetto  bezeichneten  sich  die  Wiener  Juden  selbst 
als  Wiener,  und  die  Juden  aus  Berlin  als  Berliner.  Während  im  Jahre  1942  für  7.000 
Menschen  genügend  Platz  vorhanden  war,  lebten  ein  Jahr  später  53.004  von  den 
Nazis  verfolgte  und  vertriebene  Menschen  zusammengepfercht  in  Theresienstadt.  Im 
Jahre  1942  starben  hier  15.891  Menschen.  Die  Konditionen  in  dem  Lager  waren  für 
die  Insassen  unerträglich  hart.  Insgesamt  wurden  während  der  Kriegsjahre  144.000 
Menschen  nach  Theresienstadt  deportiert,  33.000  starben  dort  und  88.000  wurden 
nach  Auschwitz  verschleppt.  Bei  Kriegsende  hatten  nur  19.000  Menschen  das  Lager 
überlebt.  15.000  Kinder  waren  mit  ihren  Familien  nach  Theresienstadt  gekommen, 
bei  Kriegsende,  im  Mai  1945,  hatten  nur  noch  einhundert  von  ihnen  überlebt. 


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Theresienstadt  war  zwar  kein  Vernichtungslager,  wo  die  Menschen  -wie  z.  B.  in 
Auschwitz-  mit  Gas  umgebracht  wurden,  aber  das  war  auch  nicht  nötig,  denn  die 
Menschen  starben  reihenweise  an  Unterernährung  und  ansteckenden  Krankheiten. 
Die  Todesrate  war  so  hoch,  dass  die  Lagerleiter  nicht  wussten,  was  sie  mit  den 
vielen  Leichenbergen  machen  sollte.  Aus  diesem  Grunde  wurde  eigens  ein 
Krematorium  errichtet,  in  dem  täglich  190  leblose  Körper  verbrannt  wurden  - das 
machte  im  Jahr  69.000  Tote. 

Viele  berühmte  Persönlichkeiten  kamen  nach  Theresienstadt,  wie  der 
Rabbiner  Leo  Baeck,  der  Kurse  in  Philosophie  und  Theologie  gab.  Hier  trafen 
sich  berühmte  Wissenschaftler,  Diplomaten,  Musiker,  Professoren  und  Künstler. 

An  diesem  mörderischen  Platz  wurden  Konzerte  aufgeführt, 

Symphonien  geschrieben  und  sogar  eine  Kinder-Oper  komponiert,  die 
„Brundlbär“  hieß.  Auch  Theateraufführungen  und  literarische  Vorlesungen 
hielten  den  Geist  der  Kommune  am  leben.  Die  Pianistin,  Alice  Sommer, 
geborene  Herz,  wurde  im  Sommer  1943  mit  ihrem  Mann  Leopold  und  ihrem 
Sohn  Rafael  nach  Theresienstadt  verschleppt.  Sie  war  gerade  vierzig  Jahre  alt, 
als  sie  dorthin  kam,  wo  andere  Prager  Juden  sich  längst  aufhielten.  Alice, 
die  im  Lager  von  ihrem  Mann  getrennt  wurde,  wohnte  zusammen  mit  ihrem 
kleinen  Sohn  auf  dem  Dachboden  eines  Wohnblocks,  in  dem  sie  eine  Mutter- 
Kind-Matratze  erhielt.  Sie  versuchte,  auch  wenn  es  unmöglich  schien,  ihrem  Sohn 
ein  „normales“  Leben  zu  ermöglichen.  Der  aufgeweckte  sechsjährige 
Raphael  übernahm  die  Rolle  des  Spatzes  in  der  Kinderoper  „Brundibär“  und  er 
sang  im  Kinderchor.  Später  wird  Raphael  sagen;  „Inmitten  der 
„Hölle“  hat  meine  Mutter  für  mich  einen  Garten  Eden  geschaffen“. 

Leopold  Sommer,  der  im  Männerhaus  in  Theresienstadt  untergebracht  war, 
wurde  am  9.  Oktober  1944  mit  ca.  tausend  anderen  Männern  abtransportiert. 

Er  starb  ich  Dachau  an  Flecktyphus.  Während  Alice  Sommer  heute  noch  lebt, 
sie  ist  am  26.  November  2003  einhundert  Jahre  alt  geworden,  starb 
ihr  Sohn,  ein  begnadeter  Cellist,  im  Jahre  2001.  In  Ihrer  Londoner  Wohnung 
erinnert  sich  die  alte  Dame,  dass  sie  Theresienstadt  nur  durch  die  Musik 
überlebt  hat.  Sie  gab  dort  viele  Konzerte,  die  meistens  abends  um  18  Uhr 
im  „Rathaussaar  stattfanden.  Im  Winter  spielte  sie  In  dem  ungeheizten  Raum 
und  hüllte  sich  in  einen  dicken  Mantel.  Bei  den  eisigen  Temperaturen  trug  sie 
beim  Klavierspiel  Schal,  Mütze  und  Handschuhe,  deren  Finderkuppen  frei  lagen. 

Die  teilweise  schwer  arbeitenden  Häftlinge  malten  des  Nachts  das,  was  sie  am  Tage 
erlebten  und  was  sie  bewegte,  sie  versteckten  ihre  Kunst  hinter  den  Ghetto-Mauern. 
Man  versuchte  hier  ganz  besonders  die  Kinder  zu  schützen,  in  dem  man  sie  ablenkte 
und  ihnen  ein  „normales“  Leben  ermöglichen  wollte.  Sie  wurden  unterrichtet,  sie 
malten  Bilder,  schrieben  Gedichte  und  nahmen  an  Sportübungen  teil.  Trotz  aller 
Bemühungen  konnten  die  Kinder  nicht  vor  der  Deportation  nach  Auschwitz  geschützt 
werden.  Zum  Beispiel  wurden  im  August  1943  1.200  Kinder,  die  von  Bialistok 
gekommen  waren  nach  Auschwitz  geschickt.  Sie  verbrachten  nur  einen  Monat  im 
Lager  Theresienstadt. 

Hunger  war  der  permanente  Begleiter  der  Lagerinsassen.  Primo  Levy  sagte  einmal, 
wenn  das  Camp  länger  existiert  hätte,  hätte  man  ein  neues  Wort  für  die 
unaussprechliche  Realität  erfinden  müssen.  Es  war  der  ständig  nagende  Hunger,  die 
unendliche  Müdigkeit,  die  ständige  Angst,  die  schrecklichen  Schmerzen,  es  waren 
die  langen  harten  -nicht  enden  wollenden  Winter  und  viele  Dinge  mehr,  mit  denen 


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die  Menschen  zu  kämpfen  hatten.  Um  mit  dem  andauernden  Hunger  umzugehen, 
war  es  für  einige  Menschen  wichtig  nur  im  Augenblick  zu  leben,  nicht  an  gestern  zu 
denken,  als  die  Töpfe  noch  gefüllt  waren  und  nicht  an  morgen,  wo  man  die 
Möglichkeit  hätte  Lebensmittel  zu  erstehen.  Um  nicht  verrückt  zu  werden  dachten  sie 
nur  von  diesem  einen  Moment  auf  den  anderen.  Nicht  aber  jene  Frauen,  die  in 
Theresienstadt  eine  Sammlung  von  Kochrezepten  erstellten.  Das  Aufschreiben  von 
Rezepten,  frei  aus  dem  Gedächtnis,  war  eine  andere  Art  sich  gegen  das  herrschende 
Regime  und  gegen  die  gegebenen  Konditionen  zu  wehren,  es  war  sozusagen  eine 
spirituelle  Revolte.  Sie  erzählten  nicht  nur  Geschichten  aus  der  Vergangenheit, 
sondern  dachten  an  die  Zeiten,  wo  sie  in  ihrer  Küche  Töpfe  und  Pfannen  um  sich 
geschart  hatten  und  Gerichte  für  die  Familie,  speziell  für  die  Kinder  zubereiteten. 
Dieses  Durchspielen  unrealistischer  Tatsachen  muss  für  die  Frauen  recht 
schmerzhaft  gewesen  sein.  Sich  die  Rezepte  in  Erinnerung  zu  rufen,  war  ein  Akt  von 
großer  Disziplin,  was  kaum  dazu  beitrug,  den  sich  steigernden  Hunger  zu 
unterdrücken.  So  entstand  ein  „Kochbuch“,  das  nicht  für  seine  kulinarischen 
Spezialitäten  berühmt  wurde,  sondern  einen  Einblick  über  die  außergewöhnliche 
Kapazität  auf  eine  Lebensstrategie  gibt. 

Fünfundzwanzig  Jahre  dauerte  die  Reise  eines  kleinen  Päckchens,  das  in 
Theresienstadt  aufgegeben  wurde  und  in  Manhatten's  East  Side  landete.  Mina 
Pächter  hatte  es  für  Ihre  Tochter,  Anna,  bestimmt.  Das  kleine  Paket  enthielt  ein  Foto 
von  Mina  mit  ihrem  Enkelsohn  Peter,  das  noch  aus  Friedenszeiten  stammte  und  ein 
fragiles,  von  Hand  gebundenes  Kochbuch,  deren  recht  zerknitterte  Seiten  die 
verschiedensten  Rezepte  enthielten.  Insgesamt  wurden  80  Kochrezepte  aufgeführt. 
Einige  waren  Spezialitäten  aus  Zentraleuropa.  Es  enthielt  u.  A.  die  Rezepte  von 
„Billige  Echte  Jüdische  Bobe“,  oder  „Gefüllte  Eier“  von  Mina  Stern,  oder  „Badener 
Karamel  Bonbons“ 

Wenige  Tage  vor  ihrem  Tod  in  Theresienstadt,  gab  Mina  Pächter  das  Paket  an 
Arthur  Buxbaum,  einem  Freund,  der  es  an  ihre  Tochter,  die  damals  in  Israel  lebte, 
weiterbefördern  sollte.  Das  Paket  irrte  25  Jahre  um  die  Welt,  bis  es  seinen 
Adressaten  erreichte.  Buxbaum  konnte  zunächst  den  Wunsch  der  Verstorbenen  nicht 
erfüllen  und  behielt  das  Päckchen.  Als  ein  Freund  1960  nach  Israel  reiste,  und  er  ihm 
den  dicken  Umschlag  mitgeben  wollte,  erfuhr  dieser,  dass  Minas  Tochter  nach 
Amerika  gezogen  war.  Niemand  wusste  genau,  wo  das  Manuskript  in  der 
Zwischenzeit  abgeblieben  war.  Eine  Dekade  später  tauchte  es  in  Amerika  auf  und 
erreichte  Anny  Stern,  die  ziemlich  erschrocken  war,  25  Jahre  nach  dem  Tod  ihrer 
Mutter  noch  Post  von  Ihr  zu  bekommen. 

Bianca  Steiner,  die  heute  in  New  York  lebt.  Ist  eine  Verwandte  der  Malerin  Tanya 
Kohn.  Sie  hat  ebenfalls  einige  Zeit  In  Theresienstadt  verbrachte.  Bianca  Steiner 
übersetzte  später  das  in  Theresienstadt  auf  Deutsch  und  Tschechisch  geschriebene 
„Kochbuch“  ins  Englische.  Sie  schrieb,  um  Theresienstadt  zu  überleben  musste  man 
schon  seine  ganze  Phantasie  aufwenden.  Und  die  Frauen  stellten  Gerichte  aus  dem 
Gedächtnis  her,  manche  Hausfrauen  wurden  böse,  wenn  das  Rezept  falsch 
angegeben  wurde.  Es  gab  auch  Diskussionen,  ob  ein  Gericht  mit  diesen  oder  jenen 
Zutaten  angereichert  wurde.  Bianca  Steiner  nannte  die  imaginären  Gerichte 
„Coocking  with  the  Mouth“.  Natürlich  war  Papier  eine  Rarität  im  Lager.  Da  Not 
bekanntlich  erfinderisch  macht,  ist  ein  Teil  der  Rezepte  auf  der  Rückseite  von 
Propaganda-Blättern  geschrieben  worden,  auf  dem  auf  der  Vorderseite  stand: 


3 


„Haltet  das  Reich  gegen  Tod  und  Vernichtung“  oder  „ In  Treue  zum  Führer“.  Sogar 
ein  Hitlerbild  wurde  rundherum  mit  Rezepten  beschrieben.  Es  entstanden  vier 
Kochbücher  dieser  Art.  Es  gab  Rezepte  für  Vorspeisen,  Nachtisch,  Marmeladen, 
Pudding,  Fisch,  Fleisch  und  Gemüse  und  spezielle  jüdische  Gerichte.  Es  fehlte 
weder  der  Karlsbader  Goulasch  mit  saurer  Sahne  und  Sauerkraut  noch  die 
karamellisierte  Torten,  Kartoffeln  aus  Serbien  und  Matze  Brei  mit  Pflaumen.  In  einem 
kleineren  Kochbuch  waren  Sachertorte  und  Londoner  Schnitten  aufgeführt.  Später 
kreierten  sie  ein  Gericht,  das  Kriegsmehlspeise  genannt  wurde,  oder  Kriegsdessert 
und  dann  gab  es  einen  Kuchen  namens  „Lass  der  Phantasie  freien  Lauf. 

Mina  Pächter,  die  das  Kochbuch,  ein  Produkt  aus  Theresienstadt,  schrieb,  konnte 
sich  selbst  nicht  vor  Unterernährung  und  Proteinmangel  schützen.  Am  Tag  von  Vom 
Kippur  1944  starb  Mina  im  Ghetto-Lazarett. 

Sie  wurde  am  16.  Juli  1872  in  Hluboka  (Frauenberg),  im  Süden  Böhmens,  geboren 
und  war  die  sechste  und  jüngste  Tochter  von  Heinrich  Stein.  Da  Frauen  damals  nicht 
an  der  Universität  zugelassen  waren,  hatte  sie  trotzdem  die  Möglichkeit  an  einem 
Prager  Lehrerseminar  Kunst  und  Literatur  zu  studieren.  Um  1900  heiratete  sie  Adolf 
Pächter.  Adolf  war  Witwer,  hatte  sechs  Kinder  und  war  27  Jahre  älter  als  seine  Frau. 
1904  bekamen  sie  einen  Sohn  namens  Hanoch  - Heinz,  drei  Jahre  später  kam 
Tochter  Anna  Wilma  zur  Welt.  Mit  den  Kindern  aus  Adolfs  ersten  beiden  Ehen, 
manche  waren  erwachsen,  andere  noch  jung,  bildeten  sie  eine  große  Familie  und 
Mina  wurde  die  Mutter  aller.  Im  Jahre  1915  bekam  Adolf  eine  Lungenentzündung 
und  starb.  Er  hinterließ  seinen  Kindern  eine  Fabrik  und  ausgedehnte  Landgüter  und 
erwartete,  dass  sie  sich  um  Mina  kümmerten,  sie  taten  es  nicht.  Niemand  der  Kinder 
war  in  der  Lage  die  Fabrik  weiter  zu  führen  und  so  kam  sie  in  fremde  Hände.  Mina 
konnte  ihren  Lebensunterhalt  trotzdem  selbst  bestreiten.  Ihre  Tochter  Anny  heiratete 
1930  den  Rechtsanwalt  Georg  Stern  und  Mina  konnte  bei  ihnen  leben.  Besondere 
Freude  machte  ihr  der  Enkelsohn,  Peter,  der  sich  später  in  „David“  umbenannte.  Im 
März  1939  floh  Georg  Stein  nach  Palästina  und  Anny  versuchte  über  jüdische 
Organisationen  mit  ihrem  Sohn  eine  Ausreisegenehmigung  zu  erhalten  und  ihrem 
Mann  zu  folgen.  Ende  1939  gelingt  es  den  Beiden  durch  großes  Glück  nach 
Palästina  zu  emigrieren.  Nur  Mina  blieb  zurück  und  kam  nach  Theresienstadt  ins 
Ghetto,  wo  sie  starb. 

Ein  so  direktes  Zeugnis,  wie  das  Kochbuch  aus  Theresienstadt,  von  Zeitzeugen  aus 
dem  Lager  geschrieben,  hatte  ich  noch  nie  zuvor  in  den  Händen  gehalten.  Man  kann 
sich  heute  gar  nicht  vorstellen,  wie  schmerzlich  es  für  die  Frauen  und  Mütter 
gewesen  sein  muss,  die  eigenen  Kinder,  Verwandten  und  Freunde  in  Theresienstadt 
-und  natürlich  auch  in  anderen  Lagern-  sterben  zu  sehen.  Und  wie  furchtbar  muss  es 
gewesen  sein  mit  hungrigem  Magen  und  ohne  Hoffnung  auf  baldige  Änderung 
dieses  Kochbuch  zu  schreiben... 

Tanya  hatte  mir  diese  Rarität  von  „Kochbuch“  anvertraut  und  ich  durfte  mir  eine 
Kopie  erstellen,  denn  viele  Exemplare  gibt  es  nicht  davon. 


Eine  Strophe  aus  Mina  Pächters  Gedichtsammlung,  die  sie  in  Theresienstadt 
schrieb: 


4 


„Bei  der  Türe  liegt  ein  Schwesternpaar 

Harmonisch  wie  selten  es  war 

Sie  kochen  zusammen  oft  nur  platonisch 

Zusammen  geschmolzen  die  Vorräte  sind 

Jede  hat  da  Mann  und  Kind 

Doch  erfinderisch  sind  beide  in  diesem  Fach 

Immer  haben  sie  etwas  Neues  erdacht 

Oft  schon  hab  ich  davon  versucht 

Und  nur  das  geringe  Quantum  verflucht“. 


5 


Billige  Hagebutt  Busserln 

4-5  Eiweiss  Schnee  gtbe  dazu  20  D Zucker  und  15  D Haselnüsse 
dies  schlage  im  Wassei  bad  bis  es  dick  und  warm  ist;  gebe  dazu  4-5 
Löffel  Hagebutt  Marrm  lade  und  3^  Löffel  Stärke  od.  Kartoffelmehl . 
Mache  mit  dem  kl.Löfj  zl  auf  Oblaten  Pusserln  und  backe  es  in  lauer 
Röhre. 


Cheap  Rose  Hip  Kisses 

[To]  4 5 [egg  whit6s  itiffly  be3C6n  co]  snow,  sdei  20  deesgrsms 
sugar  and  15  decagrams  hazelnuts.  Beat  in  waterbach  until  thick 
and  warm.  Add  4-5  s 30ons  rose  hip  jam  and  3^  spoons  com' 
starch  or  potato  starch.  With  the  small  spoon  make  kisses  on 
oblaten  [small  rounds  of  edible  wafer]  paper  and  bake  in  a low 
oven. 


aectpei' 


21 


Schüssel  Pastete 

Mache  einen  Blätterteig  den  man  3 — 4 Mal  geblättert  hat,  gebe  ein 
ausgewalktes  Stück  von  dem  Teig  in  die  Form  wo  Du  es  auf  den  Tisch 
gibst,  backe  dies  halb  in  heisser  Röhre.  Jetzt  mache  einen  grossen 
Papierbausch  auf  die  Pastete  mache  rings  herum  aus  dem  Teig  einen 
Rand  und  einen  Teigdeckel  lege  auf  den  mit  Fett  bestrichenen  Papier^ 
bausch  bestreiche  den  mit  Ei  und  backe  es  in  heisser  Röhre. 
Unterdessen  mache  Dir  die  Pastetenfülle  vorbereitet  und  ;[u'ar] 
entweder  junges  Gemüse  od.  Hirn  mit  Ei  od.  Schwämme  mit  Ei  oder 
eine  richtige  Farce  gebratenes  Kalbfleisch  und  Hühnerfleisch,  wird 
fein  gehackt,  l Kalbshim  gebraten,  15  Dkg  Zunge,  od.  Selchfkisch, 
3 Sardellen,  3 geweichten  Semeln,  3 ganze  Eier,  Schwämme,  HoA- 
nenkämmchen  ein  dicker  Bechamell,  Zitronensaft,  ‘/i  Glass  Weiss- 
wein, Pastetengewürz;  schmecke  es  ab  und  gebe  es  in  die  Farm.  Den 
Deckl  hebe  vorsichtig  ab,  gebe  den  Papierbausch  weg  und  gebe  diese 
farce  so  heiss  als  möglich  in  die  Form.  Gebe  den  Kuppelartig  gewölbten 
Deckel  darauf  und  bestreue  es  mit  Parmesan  und  gebe  es  so  heiss  als 
möglich  zu  Tisch. 


Wasserbett  Teig 

^/i  kg  Mehl,  1 2 dkg  Butti  r,  5 dkg  Hefe.  Alts  dem  Germ  macht  man 
ein  Dampfl.  Die  Butter  reibt  man  mit  Reibeisen,  Rum,  Zitronen- 
schale, Salz  und  aus  all  c em  macht  man  einen  festen  Teig  ohne  jede 
Flüssigkeit  recht  fest.  Dei . Teig  in  einer  Serviette  gewickelt,  die  Enden 
zusammen  binden.  Gib  i s in  einen  Weidling  bisschen  kaltes  Wasser 
auf  eine  Stunde  gelegt.  Man  kann  alles  damit  machen. 

Waterbed  Dough 

'Ä  kilogram  flour,  12  de  lagrams  butter,  5 decagrams  yeast.  Make 
a sponge  from  yeast.  TT  e butter  is  grated  on  a grater.  [Add]  rum, 
lemon  rind,  salt.  Out  o all  one  makes  a stiff  dough  without  any 
liquid.  Roll  the  dough  iato  a napkin.  Tie  the  ends  together.  Lay 
it  [the  dough]  in  a Weidling  [a  large  bowl]  [with]  a [ittle  cold 
water  for  1 hour.  One  can  do  everything  with  it  [the  dough]. 


Kapuziner  Nockerl  (Suppe) 

3 Eiweisß  Schnee,  I Dotter,  Salz,  Pfeffer,  Semmelbrösel  in  lockeren 
Teig  machen.  Kleine  Nockerln  in  Fett  heiß  backen  in  Rindsuppe 
servieren. 


Kapuziner  Dumplings  (for  Soup) 

Snow  from  3 [stiffly  beaten]  egg  whites,  1 egg  yolk,  salt,  pepper 
and  breadcrumbs  to  make  a loose  dough.  [Form]  small  dump- 
lings. Fry  them  in  hot  fat.  Serv'e  in  beef  soup  [a  broth]. 


nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnniiiiniiiinnnnnnnnn 


m mtmury  i t\ucnen 


LO 


Zweischken  Strudel 

Mache  eine  Strudelteig  mi:  1 Ei  etwas  Fett  und  Mehl  und  lasse  ihn 
unter  einem  erwärmten  To  of  rasten.  Jetzt  weiche  3 Semmeln  in  Milch 
bis  selbe  ganz  aufgeweicht  :ind,  gebe  sie  in  eine  Schüssel.  Gebe  dazu 
1 5 Deca  Butter,  30  Deca  1 '.ucker,  einen  Löffel  Zimt,  Zitronenschale , 
4 Dotter,  1 5 Deca  gerieber  Haselnüsse  & von  den  4 Eiweiss  Schnee , 
mische  diese  Masse  gut  zu:  ammen.  Ziehe  jetzt  den  Strudelteig  etwas 
stärker  aus  ab  den  gewöhi  .liehen,  streiche  die  Masse  auf  den  selben 
& bestreue  es  mit  Zwetschl  en  die  auf  Nudeln  zerschnitten  und  ungef. 
auf  dieses  Quantum  l'/z  k;.,  rolle  den  Strudel  zusammen  backe  ihn 
in  heisser  Röhre  muss  hock  & schön  werden. 


Plum  Strudel 

Make  a strudel  dough  w ch  1 egg,  some  fat  and  flour,  and  let  it 
rest  under  a heated  pot.  ^ow  soak  3 rolls  in  milk  until  they  are 
very  soft.  Put  them  in  a h )vvl.  Add  15  decagrams  butter,  30  deca- 
grams sugar,  1 spoon  cinnamon,  lemon  rind,  4 egg  yolks,  15  deca- 
grams ground  hazelnuts,  < nd  from  the  4 [stiffly  beaten]  egg  whites 
.snow.  Mi.x  this  mass  [batter]  together  well.  Now  stretch  the 
dough  a little  thicker  tf  an  usual.  Spread  on  it  the  [nut]  mass 
[mi.xture]  and  sprinkle  t with  prune  plums  cut  into  noodles 
[noodle  shape].  For  this  quantity,  about  VA  kilograms  plums 
[prune].  Roll  strudel  and  bake  in  a hot  oven;  should  be  high 
beautiful. 


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necipes 


zy 


Pomerische  Gansbrust 

Von  einer  schweren  Gans,  nehme  den  Beilik.  Schneide  von  beiden 
Seiten  das  Fleisch,  reibe  es  mit  zertriebenem  Knoblauch,  etwas  Salz, 
V:  halber  Würfel  Zucker  zerreiben,  bisschen  Ingwer,  gut  einklopfen 
mit  der  bbssen  Hand  und  lasse  es  stehen.  Jetzt  nehme  die  schöne 
Ganshaut,  lege  das  Beilik  fleisch  hinein  und  nähe  die  Ganshaut  rings 
herum  fest  ein  gebe  sie  in  einen  glossierten  irdenen  Topf  und  bestreue 
es  mit  bbchen  Salz,  Potasche  & Salpeter;  beschwere  es  mit  einem  Teller 
& Gewicht  und  lasse  es  in  der  Beize  4 Wochen  liegen  & wende  es 
täglich.  Gebe  es  auf  2 Tage  in  den  Selchofen  dem  Selcher.  Man  kann 
es  auch  zum  Selcher  in  die  Beize  geben  und  lasse  es  schön  braun 
selchen. 

Breast  of  Goose,  Pommern  Style 

From  a heavy  goose,  take  [remove]  the  beilik  [breast].  Cut  the 
meat  from  both  sides,  rub  it  with  mashed  garlic,  some  salt,  Vz 
half  sugar  cube,  a little  ginger.  Pound  it  [the  mi.xture]  in  well 
with  [your]  bare  hand  and  let  it  stand.  Now  take  the  nice  skin, 
place  the  [seasoned]  beilik  on  the  skin  and  tightly  sew  the  goose 
skin  around.  Put  it  into  a glazed  earthenware  pot,  sprinkle  it  with 
a little  salt,  potassium  and  saltpeter.  Cover  the  breast  with  a plate 
•St  weights  and  let  it  lay  in  the  brine  for  4 weeks,  turning  it  daily. 
Give  it  to  the  selcher  [pork  butcher/sausage  maker]  for  2 days 
[to  put  in]  the  smoker.  One  can  also  bring  the  goose  breast  to 
the  pork  meat  butcher  and  let  him  cure  and  smoke  it  until  it  is 
nicely  brown. 


34  In  Memory’s  Kitchen 


[Recipe  for  use  of  Agar] 

Agar  zu  Gelee  in  allem  zu  Jerwenden.  Agar  wird  über  Nacht  in 
Zuckerwasser  weichen  gelosten,  nächsten  Tag  weich  gekocht  bis  es 
weich  gekocht  ist.  Zu  Torten  Kleingebäck  u.  zu  Fisch  zu  verwenden. 
Apfelmehlspeise  [n]  werden  < 'orher  mit  Zucker  bestreut  u.  mit  Agar 
begossen. 

Agar  for  jelly  to  be  used  f )r  [coating]  everything.  Agar  is  left 
overnight  in  sugar  water  to  often.  Next  day  it  is  soft  cooked  until 
it  is  soft  cooked.  To  be  use  d for  cakes,  small  pastries,  and  fish. 
Apple  desserts  [cakes]  are  jprinkled  with  sugar  before  pouring 
on  [dissolved  and  cooked]  agar. 


i 

1 


Recipes 


35 


Heu  und  Stroh 

Mache  einen  Nudelteig  aus  Vz  Kg.  Mehl,  2 Eier,  2-3  Esslöffel 
Weisswein,  2-3  Löffel  dicken  sauren  Schmetten.  Walze  die  Nudeln 
mittelstark  aus.  Schneide  kurze  Nudeln,  backe  selbe  in  heissem  Fett 
aus.  Nehme  sie  heraus  gebe  sie  in  eine  Aufktufschüssel  bestreu  sie 
mit  Zucker,  Zimt  u.  viel  Rosinen.  Jetzt  mach  eine  feine  Vanille  Creme 
gebe  dazu  etwas  rohen  Schmetten,  giesse  dies  über  die  gebackenen 
Nudeln  gebe  es  in  eine  heisse  Röhre  und  überbacke  es  und  gebe  es  in 
der  Form  zu  Tisch. 


Hay  and  Straw 

Make  a noodle  dough  from  Vi  kilogram  flour,  2 eggs,  2-3  table- 
spoons white  wine,  2-3  tablespoons  thick  sour  cream.  Roll  out 
the  dough  medium  thick.  Cut  short  noodles  and  fry  them  in  hot 
fat.  Remove  them  and  put  them  into  a souffle  dish.  Sprinkle 
them  with  sugar,  cinnamon  and  many  raisins.  Now  make  a deli- 
cate vanilla  cream,  add  a little  raw  [uncooked]  cream  and  pour 
over  fried  noodles.  Put  the  dish  into  a hot  oven  and  bake  it  a 
little.  Bring  to  table  in  dish. 

■ I MX » Bi  ■ ■ 


1 


V. 


26  In  Memory’s  Kitchen 

Kletzen  Bread  [Fruit  Bread] 

Take  14  kilogram  dried  pear ; and  boil  them  a little  in  strong  sugar 
water  [syrup].  Remove  co  e and  cut  pears  like  noodles  [into 
strips).  Also  boil  14  kilogram  prunes;  not  too  soft.  Pit  them  and 
cut  them.  Strain  the  water  [syrup]  and  reserve.  Now  take  14 
kilogram  [dried]  figs,  ^4  kilogram  pitted  block  dates  [probably 
dates  packed  together  tighi  ly],  14  kilogram  raisins,  candied  cit- 
ron, orange  and  lemon  peel  and  all  kinds  of  sugar  [candied]  fruits 
in  various  colors.  Add  1 h rge  spoon  cinnamon,  some  ground 
cloves,  allspice,  ginger,  14  k logram  coarse  sugar,  14  kilogram  hot 
honey,  14  kilogram  fat,  either  Sana  [margarine]  or  butter,  what- 
ever is  preferred,  1 glass  rum,  14  kilogram  almonds,  14  kilogram 
nuts.  Let  it  stand  overnight.  Now  make  a simple  yeast  dough. 
For  this  amount  of  fruit  n ixture,  use  about  80  decagrams  to 
1 kilogram  flour.  Let  the  dough  rise.  Instead  of  milk,  the  reserved 
black  fruit  juice  [syrup]  can  I e used.  Work  the  fruit  dough  [author 
probably  meant  fruit  “mi>  ture”]  by  small  spoonfuls  into  the 
dough.  Put  it  [the  dough],  sf  aped  like  a Wecken  [long  loaf],  onto 
a greased  baking  sheet.  Let  it  rise  for  3 hours  &.  bake  it  slowly. 
Let  it  cool  on  the  baking  sheet  for  2 days.  It  breaks  easily.  One 
can  brush  it  on  top  with  but  er  and  egg  and  stud  it  with  blanched 
whole  almonds.  On  the  th  rd  or  fourth  day,  slice  it  and  put  it 
into  a tin  box.  Out  of  it  one  can  apportion  small  Wecken  [loaves] 
for  one  person. 


Recipes 


27 


Baierisch  Brod 

4 ganze  Eier  werden  mit  der  Schneerute  mit  35  D Zucker,  Zitronen' 
saft  & Schale,  alles  schwarze  Gewürz,  Zimt,  Nelken,  Neugewürz, 
tüchtig  geschlagen  14  Stunde  lang  dann  kommt  dazu  2 Tafel  Choko' 
lade  [sic]  grob  gehackt,  20  Deca  grob  geschnittene  Mandelnod.  Nüsse, 
& 20  Deca  Zitronad  [sic]  & zuletzt  40  Deca  Mehl.  Aufs  Blech 
werden  Oblatten  belegt  & diese  Masse  auf  gegossen,  gebacken  & noch 
warm  in  längliche  Stücke  2 cm  breit  & 6 cm  lang  geschnitten. 

Bavarian  Bread 

4 whole  eggs  with  35  decagrams  sugar,  lemon  juice  &.  rind,  all 
black  spices — cinnamon,  cloves,  allspice — are  beaten  thor- 
oughly with  a whisk  for  14  hour.  Then  2 tablets  chocolate, 
coarsely  chopped,  20  decagrams  coarsely  cut  almonds  or  nuts, 
20  decagrams  candied  lemon  peel  and  40  decagrams  flour  are 
added.  The  oblaten  [white  edible  wafer  papers]  are  put  onto  a 
baking  sheet  &.  this  thick  mass  is  poured  on,  baked  (St  while  still 
warm,  cut  into  oblong  pieces  2 centimeters  wide  (St  6 centime- 
ters long. 


’ KOSICi 

;^iOTlaNv-8«flTisLayfi  M3ßC}iJ6 


» 


End  of  Ingrid  Decker  Collection.